Freitag, 2. September 2005

Merkel in Magdeburg - Pseudo-Live-Blogging

Live-Blogging auf Papier. Mein Notizbuch und ich befinden sich auf dem Magdeburger Domplatz, wo in wenigen Minuten Frau Dr. Angela Merkel ihren Wahlkampfauftritt zelebrieren wird. Ihr Tourbus steht nicht hinter der Bühne, sondern neben ihr, seitlich von ihr, so daß mit blauen ["Wechsel wählen"] oder orangefarbenen ["Angie"] Schildern bewaffnete CDU-Groupies ihr Geleit von der Ruhe- zur Redeposition geben können.

Die ersten beiden Redner ergreifen das Wort. Der erste, ein mir Unbekannter, schreit in das Mikrophon, glaubt vielleicht, dadurch besser anzukommen. Sein Schnauzbart wirkt nicht minder unattraktiv als sein ständiges "Meine Damen und Herren", bis zu zwei Mal pro Satz. Ich kann es nicht mehr hören. Gleich raste ich aus...

Der zweite Redner benutzt Fußballsprache. Von Trainerwechsel ist die Rede. Die Metaphern gehen in ihrer Penetranz ineinander über und sollen wohl nur eines verdeutlichen: Bernd Heynemann, Magdeburgs CDU-Spitzenkandidat und bereits im Bundestag tätig, war einst Schiedsrichter. Und genauso wird er auch vorgestellt, nicht als Amtsperson, sondern als "unser Schiedsrichter". Nun ja.

Was will eigentlich Christoph Bergner, Hallenser CDU-Kandidat, hier? Er wird doch sowieso nicht reden [dürfen]. Mein Hallenser Freund M würde mir an dieser Stelle mal wieder mitteilen, daß sein Vater einst mit Christoph Bergner zusammen im Trabi fuhr.

Bevor es hier losgeht, ein kleiner Rückblick:
Auf dem Weg zum Domplatz wurde ich von einem Polizisten angehalten, der meinen Rucksack auf gefährliche Waffen oder ähnliches durchsuchen wollte. Vielleicht war ich ihm in meiner schwarzen Kleidung mit der Bombenlegerfrisur besonders verdächtig vorgekommen. Vielleicht sah er mir aber auch an, daß ich aus der Stadt stammte, in der Helmut Kohl einst mit Eiern beworfen worden war.
Er erledigte seine Arbeit gründlich, supergründlich, gründlicher als ich es jemals - selbst bei Flughafenkontrollen - erlebte. Und schnell wurde er in dem Krimskrams der vielen einzelnen Taschen fündig: eine Batterie, ein hochgefährliches Wurfobjekt.
"Können Sie haben.", meinte ich freimütig. Schließlich war die Batterie leer. Doch er stopfte sie nach eingehender Betrachtung wieder in den Rucksack.
In der Vordertasche fand er ein anderes potentielles Mordwerkzeug: ein Felgenband.
Für alle, die nicht wissen, was das ist: Ein Felgenband legt man auf die Innenseite einer Fahrradfelge, damit der Schlauch nicht auf dem blanken Metall aufliegt und sich dort aufreibt. Es hat demnach den Durchmesser eines Fahrradreifens, eine Breite von vielleicht anderthalb Zentimetern und besteht aus Gummi. Die ultimative Mord- und Anschlagswaffe also.
"Was ist das?", fragte der grüne Mann, und ich erklärte es ihm.
"Brauchen Sie das noch?", fragte er.
"Ja, auf jeden Fall.", meinte ich, um mein schönes Felgenband besorgt.
Er fragte bei seinem Kollegen um Rat. Der zuckte mit den Schultern und ließ mich und mein gefährliches Band gewähren.
Mein gewissenhafter Untersucher gab nach, ließ uns weiterziehen, eilte dann aber hinterher, begleitete mich. Scheinbar wollte er mich zu seinen Kollegen bringen, die am Domplatz Stellung bezogen hatten.
Dort angekommen wechselte er einige Wort mit ihnen. Sie interessierten sich allerdings weder für ihn noch für uns.
"Dürfen wir jetzt gehen?", fragte ich.
"Jaja.", meinte er mürrisch.

Eine Frage stelle ich mir in Anbetracht der mir unbekannten Politiker:
Wo ist eigentlich Ministerpräsident Böhmer?

Die Schilder "Wechsel Wählen" und "Angie" nerven. Die Trillerpfeifen sind ebenso allgegenwärtig wie die schrecklich sektenhaften CDU-Jünger.

Als "Frau Dr. Angela Merkel", wie sie mehrmals angekündigt wird, aus ihrem Tourbus kommt, vernehme ich erstaunlich wenig Applaus. Warum auch? Sie wird zwar als zukünftige Bundeskanzlerin vorgestellt und von den Sekten-Wahnies frenetisch begrüßt, doch hat sie noch nichts wirklich Erwähnenswertes geleistet, das die Massen zum Toben bringen könnte.

Nach den beiden, bereits erwähnten, Vorrednern ist sie endlich an der Reihe. Sie stottert, verspricht sich, datiert die Wahl auf den 17. September, meint aber "in 17 Tagen", erntet Hohn und Spott.
Ihre Rede beginnt erstaunlich langweilig, was mir Gelegenheit gibt, die Vorband der Wahlkampfveranstaltung zu erwähnen.

Die Partymusikkopiermusikgruppe "Undercover" hatte vergebens versucht, mittels üblicher Partysongs die Stimmung hochzupuschen. Doch Wolfgang Petry und die [alte] Neue Deutsche Welle waren genauso wenig dafür geeignet wie die unschöne Choreographie der Coverband.
Ich glaube, selbst Roland Kaiser von der SPD war besser als diese Hampelmannformation.

Den Wunsch, hier politische Erkenntnisse zu erhalten, muß ich wohl begraben. Denn an dieser Stelle ist Politik Party und Polemik. Nicht gerade das Wahre, das ich ersuchte.

Frau Merkel stottert viel zu viel. Bei fünf Versprechern habe ich aufgehört zu zählen. Es ist erschreckend, was für eine schlechte Rednerin sie ist - nicht zuletzt im Vergleich mit Herrn Fischer und Herrn Schröder.
Ich kann nicht umhin, die bisher vermittelten Inhalte als "Stammtischrede" zu klassifizieren.

Warum redet eigentlich "unser" Bernd Heynemann nicht?

Frau Merkel meint, Eichel muß weg und argumentiert konzeptlos à la "Nieder mit dem König. Es lebe der König." Hauptsache, er ist erstmal weg.

Im Publikum befinden sich, ebenso wie bei Herrn Schröder die omnipräsenten Hartz-IV-"Montags"-Demonstranten. Zum Glück behindern ihre untransparenten Transparente mir diesmal nicht die Sicht. Dafür sorgen allerdings die bereits erwähnten "Angie"-/"Wechsel wählen"-Schilder. Immerhin können auch dynamische CDU-Jünger nicht stundenlang beide Arme heben.

Wow. Ich überlege gerade, ob ich nicht besser SPD statt der Grünen wählen sollte - und das während Frau Merkels Wahlkampfrede. Das spricht nicht unbedingt für sie.

Frau Merkel: "Wir haben in Deutschland keine Bodenschätze. Der Schatz unseres Landes sind die Menschen."
Andere Länder haben wohl demnach keine Menschen? Oder sind das dann alles Untermenschen?

Die Rede fällt in die Kategorie "Stupidity Hoch Zehn": Dort, wo die CDU ein Bundesland regiert, verbessern sich sofort die PISA-Ergebnisse.

"Angie" wird zunehmend sicherer. Sie scherzt und zieht Publikumssympathien auf ihre Seite. Vielleicht hat sie allmählich ihren Redefluß gefunden.

Ihre Rhetorik ist dennoch mies. Schlechter Satzbau, noch schlechtere Wörter. Wer benutzt schon mehrmals "die allermeisten"?

Ihr Appell für die Gentechnologie in Deutschland erntet Applaus. Ich schüttle angewidert mit dem Kopf. Sie redet von "weißer Gentechnik", als gäbe es eine simple Einteilung in "gute" und "böse" Gentechnik, in weiße Magie, die Heilzwecken dient, und schwarze Magie, die Dämonenbeschwörungen vorbehalten ist.
[Außerdem erwähnt sie Sachsen-Anhalt als [ehemaligen] Chemiestandort und meint, daß dadurch die Grundlagen für die Genforschung geschaffen seien. Ist Gentechnik nicht eher Biologie als Chemie?]

Während der Rede ertappe ich mich, wie ich in alten Notizbucheinträgen schmökere. Disziplin!

Die geplante Erhöhung des Steuerfreibetrages [auf 8000 Euro für Erwachsene und Kinder] bedeutet für eine vierköpfige Familie, daß sie, wenn sie weniger als 32000 jährlich verdient, keine Steuern zu zahlen braucht, behauptet Frau Dr. Merkel.
Keine Steuern? Das ist ja wohl ein Witz. Sofort fällt mir nicht nur die Tabaksteuer und dergleichen, sondern auch die geplante Mehrwertsteuererhöhung ein.

Angela Merkel lächelt und wirkt zum ersten Mal sympathisch. Ich bin beeindruckt.

Die vielen Kosten, die vom Bruttolohn abgehen, sollen mittels der Erhöhung der Mehrwertsteuer gesenkt werden. Das erntet Pfiffe und Buhrufe aus dem Publikum, die Frau Merkel spöttisch abtut.
Ab Januar 2001 soll das, im Falle eines Wahlsieges, verwirklicht werden. Vermutlich ist eine Mehrwertsteuererhöhung in den nächsten Jahren sowieso nicht aufzuhalten. Bin gespannt, was nach einem CDU-Wahlsieg tatsächlich geschehen wird.

Schon wieder derselbe Spruch über Kanzler Schröder und die SPD: "Versprochen - gebrochen". Langsam nervt's.

Von der Bühne schwappt so etwas wie Aufbruchsstimmung, der Wechselgedanke, herüber. Respekt an Frau Merkel.

Vor mir, innerhalb des riesigen abgezäunten Areals tigert eine Fotografin umher und ordnet fingierte Fotos von jugendlichen Schildhochhaltern an.

Langsam wird es zu dunkel zum Schreiben. Auch der Stift hat allmählich keine Lust mehr und wird - um mal in der vorhin erwähnten Fußballsprache zu bleiben - ausgewechselt.

Thema Sicherheit: Frau Merkel fordert Videoüberwachung an öffentlichen Plätzen. Protestrufe belächelt sie: "Jaja, ich weiß, wer da jetzt protestiert."
Als wären alle Videoüberwachungsgegner potentielle Missetäter, die nur durch die Überwachung von ihren Untaten abgehalten werden würden.
Auch erwähnt sie den Erfolg der Terroristenfahndungen von London als Pro-Argument, vernachlässigt aber, daß sämtliche Kameras für Terrorprävention ungeeignet gewesen waren.

Dann erzählt sie die wahrlich schlechte Geschichte von Herrn Ströbele von den Grünen, dessen Fahrrad vor dem Reichstag gestohlen worden war und der sich in seinem Wunsch, den Dieb zu finden, an die Reichstagsvorplatzkameraüberwacher wandte. Erfolglos übrigens. Der Geschichte fehlte jeder Witz, jede Pointe.
Und ich frage mich, ob fortan jeder alberne Fahrraddieb Berechtigung geben soll, die Winkel unserer Städte und Dörfer genauestens zu überwachen.

Dann lamentiert Frau Merkel über diejenigen, die "in ihren Moscheen oder sonstwo Haßpredigen gegen den deutschen Staat" von sich geben. Ihr Tonfall in Kombination mit dem Gesagten wirkt äußerst aggressiv. Von christlicher Nächstenliebe ist kaum etwas zu spüren. Eher von kaschiertem Fremdenhaß. Eine unvorsichtige Wanderung nahe des Abgrunds.
[Ist Brandenburg, Frau Merkels Heimatland, nicht eine Hochburg der Rechten?]

Anschließend redet Frau Merkel über "die anderen", verfällt erneut einem bissigen und fast schon bösartigen Tonfall, arbeitet mit schamlosen Unterstellungen und albernen Behauptungen wie der, daß Politiker gefälligst nicht zu lachen haben - erst recht nicht auf derart überdimensional großen Plakaten wie die von den Linken.

Merkel redet weiter. 'Oh mein Gott.', denke ich mir, ' Soviel Stumpfsinn habe ich schon nicht mehr gehört.'

"Neuwahlen gibt's, weil keiner auf Schröder hört."
Was für eine alberne Vereinfachung.

Ich stelle nebenbei fest, daß der Magdeburger Dom auch in Dunkelheit wunderschön aussieht.

Schon wieder spielt Frau Merkel auf die CDU als Partei der Einheit an. Es nervt.

"Oppositionsarbeit" - was für ein Wort.

"Ich gebe keine Versprechen, die ich nicht halten kann."
Nun ja, wahrhaft viele Inhalte hat sie meiner Erinnerung nach auch nicht rübergebracht.

Von irgendwo klatschen Menschen immer wieder. Doch die Leute um mich herum halten still, bewegen sich nicht. Vielleicht stammt das Klatschgeräusch ja von Band.

"Deswegen bitte ich Sie, Ihre Stimme der Christlich Demokratischen Union zu geben"
"Niemals!", schreit eine einzelne Stimme aus dem Hintergrund.

Frau Merkel spricht davon, daß es Zeit wird, daß die einzelnen Bundesländer "die rote Laterne abgeben" und führt Sachsen-Anhalt als Erfolgsbeispiel an. Allerdings: Irgendein Bundesland muß die rote Laterne doch haben. Das geht gar nicht anders.

Neben mir steht ein alter Mann mit weißem Haar, hat die ganze Zeit über den Kopf gesenkt, klatscht nicht. Er spricht mich an:
"Sie hätten wohl ne Stirnlampe haben müssen."
Als ein Platz im Licht frei wird, weist er ihn mir zu. Ich bedanke mich lächelnd.

Frau Dr. Angela Merkel beendet ihre Rede ohne großen Höhepunkt, ohne Feierlichkeit. Die Menschen wenden sich ab und gehen. Doch Bernd Heynemann spricht noch ein paar Worte. Das hätte ich nicht mehr erwartet.

Leider erzählt er nur Müll. Er berichtet davon, daß die Prinzen zu Schröders Wahlkampfveranstaltung in Dresden ihren Top-Titel "Chronisch Pleite" nicht singen durften.
Top-Titel? Ich kenne ihn nicht.

Mit Musiktiteln geht es weiter und mündet in den Gedanken, daß die Scorpions aus Hannover einst einen Song schrieben, der auch für den 18. September herhalten könnte: "Winds Of Change", das Wendelied mit dem Pfeif-Intro.
Albern hoch Zehn.

Oh mein Gott. Das Lied der Deutschen.
Und nochmal: Oh mein Gott. Während wir fliehen, spielt Undercover noch einen Klassiker: "Angie" von den Rolling Stones.
Das hätte nun wirklich nicht sein müssen.

Natürlich muß ich mich mit der Frage auseinandersetzen, ob Schröder und Fischer, bloß weil sie wesentlich bessere, überzeugendere Redner sind, auch bessere Politik machen. Auch sollte ich mich fragen, inwieweit die von Frau Dr. Angela Merkel angesprochenen Reformen das Land vorantreiben können und ob Rot und Grün zu ähnlichem imstande sein werden.

Doch bedeutsamer für mich ist es festzustellen, daß es genug CDU-Inhalte gibt, mit denen ich mich nicht identifizieren kann, so daß meine bereits getroffene Wahlentscheidung durch diesen Auftritt eher bestärkt als erschüttert wurde.

Selbst der Ohrwurm "Angie", der mich noch Stunden später belästigte, vermochte das nicht zu ändern.

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