Morast : Rubrik:Morning Pages
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2010-02-01T12:14:11Z
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2000-01-01T00:00:00Z
Morast
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Rupert
http://morast.twoday.net/stories/5236233/
Rupert lehnte sich zurück und schaltete das Radio an. Denn genau das war es, was er jetzt brauchte: Eine Tasse heißen Pfefferminztee und ein wenig entpannende Musik aus dem Äther. <br />
<br />
Doch anstelle angenehmer Klänge vernahm Rupert nur die monotone Stimme des Nachrichtensprechers: "... dass Manfred S. imstande sei, allein mittels seines Zeigefingers UKW-Radioprogramme zu empfangen..."<br />
<br />
"So ein Unsinn!", empörte sich Rupert und schaltete seinen Daumen aus.
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2008-10-05T22:23:00Z
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Die Welt war blau und lachte
http://morast.twoday.net/stories/5233850/
<i>Der folgende Text passt stilistisch in die Rubrik "Morning Pages", formal allerdings nicht. Trotzdem.</i><br />
<br />
Die Welt war blau und lachte.<br />
<br />
Natürlich war die Welt nicht wirklich blau, doch ein kurzer Besuch in einem der unzähligen Souvenirläden hatte die Welt verändert. Felix grinste. Die Welt verändert. Wie das klang. Dabei hatte er sich nur eine Sonnenbrille besorgt. Eine billige Sonnenbrille mit blauen Gläsern. Weder sonderlich hübsch noch sonderlich nutzvoll. Und doch...<br />
<br />
Felix lachte. Wenn Felix lachte, hatte es für ihn stets den Anschein, als hielte die Welt kurz inne. Als lachte sie mit ihm.<br />
Die Welt war blau und lachte.<br />
<br />
Felix stieg auf sein rostiges Damenrad und fuhr die Strandpromenade entlang. Es war Zeit gewesen, dachte er, während er durch blaue Gläser auf das blaue Meer blickte, den klaren, blauen Himmel betrachtete, während er sich zwischen den herumschlendernden Menschen hindurchschlängelte, als hätte er sein Lebtag dafür geübt. Hin und wieder schenkte man ihm einen verwunderten Blick, doch hier in der Touristenhochburg war man Absonderlichkeiten gewöhnt. Auch blaue Sonnenbrillen.<br />
<br />
Felix fuhr weiter. Sein Fahrrad quietschte, doch er verschwendete keinen Gedanken an eine Reparatur. Er hatte ihn sich verdient, seinen Urlaub. Wen kümmerte da ein klappriges Fahrrad? Und überhaupt: Monochromatisch betrachtet waren die zahlreichen Rostflecken an Rahmen und Kette, an Lenker und Zahnrädern nur sonderbare Blüten blauer Merkwürdigkeit. Felix lachte erneut. Durch die Brille betrachtet wirkte die Welt in ihren Blauschattierungen noch fremder, noch neuer, noch vielseitiger als ohnehin schon. Wie angenehm es sein würde, in den nächsten Tagen, Wochen, durch die Straßen zu streifen und jedes noch so blaue Detail zu betrachten, neu zu entdecken. Blaue Menschen, blaue Häuser, blauer Sand. <br />
<br />
Irgendwo erklangen Rufe. "Da ist er ja!" Stimmen näherten sich. "Da, auf dem Damenrad!"<br />
Felix sah sich um. Der Direktor!<br />
<br />
Felix trat in die Pedale. Schneller, schneller! Sein klapperndes, quietschendes Rad raste durch die verschreckt beiseite springenden Menschengruppen. "Platz da!" wollte er rufen, doch seinem Mund entsprangen nur unverständliche Laute. Die Sonnenbrille glitt von seinem unörmigen Schädel und zerbrach auf dem Asphalt. Felix schenkte ihr keine Beachtung. Die Welt war bunt, und Felix strampelte, als ginge es um sein Leben, trat in die Pedalen, brachte Meter für Meter zwischen sich und seine Verfolger.<br />
<br />
Für einen Zirkusaffen war er ziemlich schnell.<br />
<br />
--<br />
[Text als <a href="http://www.bast-arts.de/kram/dieweltwarblauundlachte.mp3">mp3</a> [2,8 mb]]
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2008-10-03T21:54:00Z
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Perfekt
http://morast.twoday.net/stories/4880703/
<i>Auch wenn es nicht Morgen ist und ich diesen Text nicht in das entsprechende Buch schrieb, wurde er doch in die Rubrik "Morning Pages" eingeordnet. Schließlich entstand er spontan in einer Ruhepause, wurde während des Schreibens ersonnen.<br />
Und so.</i><br />
<br />
"Diese verdammten Schuhe!", fluchte ich.<br />
"Waaas?", rief Anne aus dem Badezimmer, wobei einzig meiner Fantasie zu verdanken war, dass ich überhaupt erahnen konnte, was sie rief. <br />
<br />
"Nichts.", antwortete ich, war ich doch keineswegs versessen darauf, ein Gespräch anzuzetteln, das lautstark durch die gesamte Wohnung gebrüllt wurde. Doch Anne stand bereits im Zimmer und schenkte mir einen fragenden Blick. Offensichtlich hatte sie eingesehen, dass die Zahnbürste in ihrem Mund der oralen Kommunikation abträglich war, und zog es vor, sich auf Mimik und Gestikzzu beschränken.<br />
<br />
"Ach, nichts.", wiederholte ich. "Es sind nur diese verdammten Schuhe." Ein weiterer fragendender Blick.<br />
"Sie passen nicht.", erklärte ich seufzend. Anne deutete auf den blauen Karton, der hinter der Zimmertür herumlag. "Aber die hast du doch vorgestern erst gekauft.", sollte diese Geste heißen, und für einen Moment war ich stolz darauf, sie gut genug zu kennen, dass sich jedes gesprochene Wort erübrigte.<br />
<br />
"Ja, ich weiß. Doch ich komm' einfach nicht rein." Zur Bekräftigung stieß ich mehrmals meinen rechten Fuß in das schwarze Leder. Der Schuh jedoch weigerte sich, fast so, als wäre er über Nacht geschrumpft.<br />
Aus dem Augenwinkel nahm ich eine Bewegung wahr. Schaute auf. Noch immer putzte sich Anne die Zähne, doch dabei drehte und schüttelte sie immer wieder ihre freie Hand. Ich verstand schnell und lächelte. Vielleicht war ich tatsächlich perfekt für sie, dachte ich. Vielleicht war ich tatsächlich derjenige, der ihr jedes Wort von den Augen abzulesen vermochte. <br />
<br />
Liebevoll schaute ich zu Anne, dann drehte ich meinen Schuh um und schüttelte ihn. Ich zweifelte zwar daran, doch möglichweise hatte irgendein WG-"Nikolaus" die Frechheit besessen, Dinge in meinem Schuh zu verstecken. Doch abgesehen von ein paar schwarzen Stoffkrumen brachte das Schütteln nichts zum Vorschein. <br />
Prüfend ließ ich meine Finger in das Schuhinnere gleiten. Kein Widerstand.<br />
Neugierig schaute ich auf die Schuhgröße. 43, wie gehabt. <br />
<br />
Ich sah erneut zu Anne, die mittlerweile ihre kreisenden Putzbewegungen unterbrochen hatte. Schaum bedeckte ihre Lippen, und anscheinend wusste auch sie nicht mehr weiter. Ich probierte es erneut, presste mit aller Kraft meinen Fuß in den Schuh. "Das ... muss ... doch ... passen!", keuchte ich. Doch es passte nicht. Der Schuh war einfach zu klein. Oder mein Fuß zu groß.<br />
<br />
"Ich versteh das nicht.", sagte ich zu Anne, doch Anne befand sich gar nicht mehr im Zimmer. Mund ausspülen, dachte ich, und betrachtete den widerspenstigen Schuh. Er war noch neu, ich hatte ihn außerhalb der Wohnung noch nicht getragen. Vielleicht sollte ich ihn einfach wieder zurückbringen, überlegte ich, umtauschen oder so. Und vielleicht könnten wir dann noch kurz beim Café Venezia vorbeischauen, dort, wo wir uns vor vier Monaten kennengelernt hatten, und einen riesigen Eisbecher auf unser Wohl bestellen...<br />
<br />
Plötzlich stand Anne neben mir, in der Hand ein riesiges Messer haltend, die Zahnbürste noch immer im Mund. "Ruckedigu, ruckedigu!", nuschelte sie und weißer Schaum floß ihr das Kinn hinab. Ein Schrei: "Blut ist im Schuh!", und sie schlug zu.
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2008-04-22T16:50:00Z
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Sonderbar
http://morast.twoday.net/stories/3911459/
"Komm rein! Es gibt bald Mittag!", rief Svens Mutter durch das geöffnete Küchenfenster hinaus in den Garten, doch Sven hörte sie nicht. Nur Minka, Svens kohlrabenschwarze Katze, ließ sich mit einer winzigen Drehung ihrer Ohren anmerken, dass ihr trotz vor Wonne geschlossener Augen nichts entging.<br />
Sven hockte im Gras und kraulte Minka den Bauch. Minka mochte es, am Bauch gekrault zu werden, und hatte sich bereitwillig auf den Rücken gelegt, sämtliche Tatzen weit von sich gestreckt und die Krallen eingefahren. Sven kraulte und streichelte voller Hingabe, und die Katze schnurrte vor Vergnügen.<br />
"Mittag!", rief Svens Mutter lautstark durch das Fenster, und diesmal vernahm Sven ihren Ruf. "Mittag.", wiederholte er, streichelte Minka noch kurz über das Fell, sprang auf und rannte ins Haus.<br />
"Mama?", fragte Sven Minuten später, während er an einer Kartoffel kaute, "Stimmt es, dass Herr Leonard geisteskrank ist?"<br />
"Schschscht!", antwortete Svens Mutter und schielte durch das Küchenfenster in den Garten, ob Herr Leonard diese Worte nicht zufällig vernommen hatte. "So etwas sagt man nicht.", meinte sie schließlich in gedämpfter Lautstärke. "Herr Leonard ist unser Nachbar und ein freundlicher Mensch." Sie zögerte. "Nur manchmal ist er etwas sonderbar."<br />
"Sonderbar.", wiederholte Sven und prüfte den Klang des ungewohnten Wortes. "Was heißt sonderbar?"<br />
Svens Mutter seufzte. "Sonderbar heißt: merkwürdig, nicht normal, ungewöhnlich. Herr Leonard ist eben bisschen anders als wir."<br />
"Weil er mit Vögeln redet?", fragte Sven neugierig, doch Svens Mutter antwortete nicht. <br />
"Iß auf, bevor es kalt wird.", sagte sie und ging zum Kühlschrank, um den Nachtisch zu holen.<br />
Nach dem Essen durfte Sven wieder im Garten spielen. Minka erwartete ihn schon, doch Sven hatte anderes vor: Er schlich sich zum Zaun und spähte hinüber in Herrn Leonards Garten. Herr Leonard entdeckte ihn sofort.<br />
"Hallo Sven!", rief er freundlich und winkte.<br />
"Können Sie wirklich mit Vögeln reden?", fragte Sven ohne zu zögern.<br />
"Natürlich kann ich das!", antwortete Herr Leonard schmunzelnd und rief "Wilma! Brigitte! Ottokar! Kommt doch mal her!"<br />
Im nahestehenden Kirschbaum raschelte es kurz, und schon kamen zwei Sperlinge und eine Amsel aus dem Geäst geflattert und setzten sichvertrauensvoll auf Herrn Leornards ausgebreitete Arme.<br />
"Sagt dem kleinen Sven 'Guten Tag.'", forderte Herr Leonard die Vögel auf, und wie eine wirbelnde Wolke stießen sie sich von ihm ab und kamen zu Sven gefolgen, dem vor Staunen der Mund offenstand. Die drei Vögel umflatterten kurz Svens Gesicht - er konnte ihre Flügelschläge deutlich spüren - und kehrten anschließend in den Kirschbaum zurück.<br />
"Danke.", rief Herr Leonard den Vögeln zu und wandte sich an Sven. "Und? Hat es dir gefallen?"<br />
Doch Sven stand nicht länger am Zaun. Er war weggerannt, hinter das Haus, und zitterte am ganzen Leib.<br />
"Herr Leonard ist wirklich sonderbar.", keuchte er.<br />
"Er ist geisteskrank.", maunzte Minka und rieb ihren Kopf an Svens Bein.
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2007-06-19T14:05:00Z
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Heimweg
http://morast.twoday.net/stories/3827608/
Winfried Kahl ging nach Hause. Sein Gang entsprach eher einem leichten Torkeln, so, als müßte Winfried beständig gegen einen Wind ankämpfen, der überhaupt nicht vorhanden war.<br />
<br />
Dennoch war Winfried klaren Verstandes. Er lächelte sogar ein wenig, was in Anbetracht dessen, dass er völlig allein auf der laternenbeleuchteten Straße umherwanderte und somit niemand dieses Lächeln sehen konnte, möglicherweise unnütz war. Aber der Abend hatte Winfried gefallen, und das Lächeln wollte nicht aus seinem Gesicht weichen.<br />
<br />
Winfried liebte es, in der Nacht durch die Stadt zu wandern. Wie ausgestorben lagen Fußwege und Straßen da, überall parkten leblose Blechkosten, und wenn er einem anderen begegnete, der wie er durch die Nacht wandelte, vielleicht ebenso von einer Party heimkehrend, dann nickte er ihm zu, als würde man sich kennen, als gehöre man zu den leetzten Überlebenden irgendeiner Katastrophe.<br />
<br />
Doch die Stadt war nicht tot. Winfried spürte ihren Puls, ruhig und gleichmäßig, hin und wieder im Schlafe stöhnend, wie von unruhigen Träumen geplagt.<br />
Ein Taxi rauschte vorbei; Winfried schenkte ihm keine Beachtung. Er hatte die Stadt für sich, lief mal auf der Straße, mal auf dem Fußweg, schlängelte sich zwischen Mülltonne und Autos hindurch - und war glücklich.<br />
<br />
'Es war ein guter Gedanke gewesen auszugehen, wieder einmal unter Menschen zu kommen.', dachte Winfried, während er über einen Kanaldeckel hüpfte.<br />
Die Nachtluft war kühl, doch die Bowle in seinem Inneren wärmte noch nach.<br />
'Wenn man nachts durch die Straßen streift", dachte Winfried, "erscheint vieles so klar und einfach, was vorher verworren und umständlich war.'<br />
Winfried konnte die ersten Vögel hören, die zwitschernd die nächtliche Ruhe um abseits des täglichen Lärms erhört zu werden.<br />
<br />
Er hatte nicht viele Leute auf der Party gekannt, nur zwei oder drei Gesichtern glaubte er vorher schon einmal begegnet zu sein. Doch die Musik hatte gegen die Wände gewummert, und die Münder waren verstopft gewesen mit Nudelsalat und Bowle. Es hatte keine Rolle gespielt, wer was sagte, solange man sich dabei wohlgefühlt hatte. Und das hatte Winfried. Oh ja! Seit Jahren hatte er mal wieder getanzt, behäbig zwar, doch vom Rhythmus geleitet, mit geschlossenen Augen, als könnte er so den Moment in sich bewahren.<br />
<br />
Winfried hatte nicht viel geredet - er redete nie sehr viel -, doch zugehört, fleißig genickt und hin und wieder sich und anderen Bowle nachgeschenkt. Es hatte gut getan, mal wieder unter Menschen zu kommen.<br />
<br />
Winfrieds Schritte wurden langsamer. In der Ferne glaubte er eine Silhouette zu erkennen, die rasch größer wurde. Winfrieds biologisches Wissen, war nicht sonderlich geschult, doch erkannte er einen Gorilla, wenn er ihm begegnete. <br />
<br />
Der Gorilla machte drei, vier Sätze und richtete sich vor Winfried auf. Sein Fell war verfilzt, doch seine Gestalt war imposant und vor Muskeln strotzend.<br />
Der Gorilla starrte Winfried an.<br />
"Zieh das Kostüm aus!", brüllte er plötzlich. Winfried wich zurück und riß sich das Kostüm vom Leib.<br />
"Ich will nach Hause.", sagte er, und gemeinsam rannten die beiden Gorillas durch die Nacht.
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2007-06-12T08:15:00Z
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Nathan im Regen
http://morast.twoday.net/stories/3818310/
<i>Die heutige Geschichte ist sehr abstrus. Aber ich mag sie.</i><br />
<br />
Der Regen war angesagt worden, doch hatte Nathan vergessen, sich zu rasieren. Nun stand er an einer Kreuzung, wartete auf das grüne Leuchten der Fußgängerampel und ärgerte sich. Er haßte das Gefühl plätschernder Tropfen auf unrasierter Haut.<br />
<br />
Nathan starrte in den Himmel. 'Wieviele Tropfen fallen wohl pro Sekunde von oben herab?', fragte er sich, während Nässe in sein Gesicht klatschte. 'Vierundreißigtausend.', antwortete eine Stimme. "Würde ich schätzen."<br />
<br />
Nathan haßte den Gedankenleser. Seit ein paar Wochen begegnete er ihm immer wieder - und jedesmal mischte der Kerl sich in seine Gedanken ein.<br />
"Du hast kein gutes Bild von mir.", meinte der Gedankenleser traurig. Er trug einen alten Hut, in dessen Krempe sich Regenwasser sammelte. Als er den Kopf schüttelte, spritze es nach allen Seiten. Außer auf Nathan. Aus irgendeinem Grund blieb Nathan unberührt vom Spritzwerk des Gedankenlesers. <br />
'Zufall.', dachte Nathan und nahm sich zugleich vor, nicht mehr zu denken. Er wollte keine Konversation initiieren. Nicht hier. Und nicht mit dem Gedankenleser. <br />
<br />
Die Ampel war noch immer rot. Verfluchtes Ding.<br />
Der Gedankenleser lächelte unter seinem alten Hut. Jedenfalls, soweit man das unter dem Schaum in seinem Gesicht erkennen konnte. In seiner Hand blitzte Metall.<br />
"Ich rasiere mich immer bei Regen.", erklärte der Gedankenleser, obgleich Nathan sich diesmal bemüht hatte, nicht nachzudenken. "Ich liebe es, wenn Regen auf frisch rasierte Haut trifft."<br />
<br />
Nathan schaute abschätzend. Wollte der Gedankenleser ihn veralbern? Hatte er in seinem Kopf gewühlt und den Haß gefunden, den Nathan Regentropfen entgegenbrachte, welche es wagten, auf sein unrasiertes Gesicht zu fallen? Wollte der Gedankenleser sich mit ihm gutstellen? Vielleicht, um ein Geheimnis zu erfahren? Vielleicht, um seinen nutzlosen Haß zu tilgen? Vielleicht...?<br />
<br />
Doch als Nathan sah, mit welcher Inbrunst sich der Gedankenleser die Haare aus dem Gesicht schabte, wie er jeden einzelnen Tropfen genoß, der auf seine leicht gerötete, glatte Haut fiel, wie er im Regen stand und vor Glück und Wonne strahlte ... da begriff Nathan, daß der Gedankenleser unmöglich ein schlechter Mensch sein konnte.<br />
<br />
Die Ampel schaltete auf Grün, doch Nathan bewegte sich nicht. <br />
"Ich ... ich ... ich liebe dich.", stammelte er. "Seitdem ich dich zum ersten Mal sah."<br />
Der Gedankenleser lächelte und reichte ihm den Rasierer. "Ich weiß."
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2007-06-09T09:53:00Z
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Karfunkel
http://morast.twoday.net/stories/3789749/
Herrn Schreibtisch konnte man zurecht als sonderbaren Menschen bezeichnen.<br />
Sicherlich, es ist bekannt, dass jeder Mensch irgendwelchen Sonderlichkeiten frönt, dass es also so etwas wie einen normalen Menschen gar nicht geben kann, doch Herr Schreibtisch war besonders sonderbar.<br />
<br />
Man sah ihm das nicht an; nach außen hin wirkte er unscheinbar und unauffällig; nicht selten übersah man ihn aufgrund seiner wenig bemerkenswerten Erscheinung, Herr Schreibtisch hatte es nie geschafft, zu außergewöhnlicher Größe heranzuwachsen; nein, er war durchschnittlich groß, vielleicht ein wenig zu klein, von durchschnittlicher Figur, vielleicht ein wenig zu rund, und das Haar ging ihm langsam aus wie bei vielen Männern seines Alters.<br />
Niemand wußte genau, wie alt Herr Schreibtisch eigentlich war, doch wenn er seufzte, beispielsweise, wenn wieder einmal ein alberne Bemerkung über seinen Nachnamen erfolgte, wirkte er noch älter.<br />
<br />
Herr Schreibtisch lebte seine Sonderbarkeit im Geheimen. 'Es hat niemanden zu interessieren, dass ich Karfunkel Obstsalat mit Vornamen heiße.', dachte er manchmal. 'Und es hat niemanden zu interessieren, womit ich mich in meiner Freizeit beschäftige.'<br />
<br />
Karfunkel Obstsalat Schreibtisch war kein mürrischer Mann. Eigentlich war ihm das meiste, was um ihn herum geschah, ziemlich egal. Nur, was mit ihm selbst geschah, war wichtig. Und das hatte einer Ordnung zu folgen.<br />
Beispielsweise schaute Herr Schreibtisch gern Monsterfilme - aber nur montags. Oder er betrachtete die Fotografien seiner Urlaube in Montenegro und Montreal, beobachtete das bleiche Gelb des Mondes am Nachthimmel, telefonierte mit Monika, seiner freundlichen Nachbarin, oder saß vor dem Monitor und schrieb monotone Monologe von Mönchen in Montevideo nieder. Aber nur montags.<br />
<br />
An Dienstagen liebte er es, sich als Diener oder Dieb zu verkleiden oder Dieselöl zu kaufen. Dienstags bewunderte er die Disteln in seinem Vorgarten, sortierte seine DIN-A4-Blätter oder dinierte bei gedimmtem Licht im "Diamant", dem teuersten Restaurant der Stadt, wo Kellner Dietmar ihm Pizza Diavolo und Diätcola servierte.<br />
<br />
Mittwochs gab es viel zu tun: Das Mittagessen war der Höhepunkt des Tages und mußte genauestens vorbereitet werden. Nicht selten begann Herr Schreibtisch bereits um Mitternacht mit der Zubereitung. Oft gab es mittelalterliche Speisen, nicht selten Köstlichkeiten aus dem Mittelmeerraum. Herr Schreibtisch war Mitglied in einem Verein für Hobbyköche, die sich untereinander mittels Briefen neueste Rezepte zusandten. Hin und wieder enthielten die Briefe Mitteilungen über gemeinsame Treffen, doch Herr Schreibtisch war kein Freund des Miteinanders und weigerte sich zumeist, dort mitzumachen. Das erntete oft Bedauern und Mitleid.<br />
<br />
Donnerstags spazierte Herr Schreibtisch gerne zur Donau. Dort kaufte er sich oft einen Donut und versuchte, mit dessen Süße sein Gemüt zu besänftigen. Denn nicht selten kam es an Donnerstagen vor, daß Herr Schreibtisch schlechte Laune hatte und mit donnernder Stimme heden vertrieb, der sich ihm näherte.<br />
<br />
Herr Karfunkel Obstsalat Schreibtisch hatte sich diese Beschäftigungen nicht ausgesucht. Sie waren ihm vielmehr zugefallen. <br />
Eines Sonntags hatte er beschlossen, nach draußen zu gehen, um die letzten Sonnenstrahlen des Tages zu genießen. Natürlich hatte er sich zuvor mit Sonnencreme eingeschmiert und seinen gepunkteten Sonnenschirm nicht vergessen, weil er weder SOnnenbrand noch Sonnenstich bekommen wllte. Er lief an der Sonderschule vorbei, summte einen Song oder eine Sonatine, dachte an Weltraumsonden und die Sonnenbrille, die er vergessen hatte, bis ihm etwas auffiel: 'Sonderbar, wie schön es ist, mich an diesem Sonntag mit Dingen zu beschäftigten, die allesamt mit "Son" beginnen...' Er fühlte sich erleichtert, befreit, als hätte man ihm eine Last abgenommen, derer er sich vorher gar nicht bewußt gewesen war.<br />
<br />
Am nächsten Tag, Montag, hatte er begonnen, auf seine Tätigkeiten zu achten. Er hatte eine Tafe an der Wand montiert, auf der er Dinge niederschrieb, die mit den gleichen Buchstaben begannen wie die einzelnen Wochenentage. In den folgenden Tagen und Wochen stellte er fest, wie sehr es ihm behagte, seine Tätigkeiten den Tagen anzupassen. <br />
So waren die Jahre vergangen. Herr Schreibtisch hatte seinen Gewohnheiten gefrönt, hatte die Tafel hin und wieder um einen Begriff ergänzt und sich nicht daran gestört, als Sonderling betrachtet zu werden. Schließlich brachte ihm dieses Handeln, so merkwürdig es auch sein mochte, Freude.<br />
<br />
Eines Freitags jedoch freute er sich nicht. Er saß in der Kneipe beim Freibad "Zur Freiheit" und hatte beim ersten Freistoß des Freiburger Fußballvereins das Freibier geleert, das der Wirt ihm als freitäglichen Stammgast spendiert hatte. Seine Gedanken waren aber nicht beim Spiel. Er dachte an Freibeuter und Freimaurer, an Freiherren und Freiheitskämpfer. Er seufzte leise, wie er es heute breits zehn oder zwanzig Mal getan hatte, und starrte traurig in seine leere Flasche. <br />
Herr Schreibtisch dachte an seine Freizeit und wie er sie zu befüllen pflegte. Ein weiterer Seufzer glitt über seine Lippen.<br />
<br />
Das Fußballspiel war längst beendet, als Herr Schreibtisch träge von seinem Stuhl auftand und die Kneipe verließ. <br />
"Bis nächsten Freitag.", verabschiedete ihn der Wirt freundlich. <br />
"Freilich.", antwortete Herr Schreibtisch so wie immer. Doch zum ersten Mal fühlte er sich nicht wohl dabei.<br />
<br />
Auf dem Heimweg versuchte Herr Schreibtisch, sich aufzuheitern. Normalerweise brauchte er sich dabei nur auszumalen, was er denn am nächsten Tag tun würde, aber heute wollte sich keine Vorfreude einstellen.<br />
"Morgen ist Samstag.", murmelte Herr Schreibtisch vor sich hin. "Ich werde mein Samtjacket aus der Reinigung holen und meine Sammlung samoischer Samen sortieren. Ich werde vielleicht in einem Sammelband lesen oder mir einen Sampler mit Sambamusik anhören. Oder ich koche einen Tee mit meinem Samowar, während ich einen Samuraifilm schaue..."<br />
Doch sämtliche Möglichkeiten vermochten nicht, Herrn Schreibtisch zu gefallen. 'Der immergleiche Trott.', dachte er und seufzte. <br />
<br />
Müde lief er die letzten paar Meter, schloß die Haustür auf und schleppt sich die vierundreißig Stufen hinauf zu seiner Wohnung. Er kramte das Schlüsselbund aus seiner Tasche, und während er sich bemühte, im matten Licht der Treppenhausbeleuchtung den Wohnungsschlüssel ausfindig zu machen, öffnete sich hinter ihm die Tür. Überrascht drehte sich Herr Schreibtisch um.<br />
"Monika!", stieß er aus. Und tatsächlich: Dort stand Monika, die freundliche Nachbarin, und hielt eine riesige Sonnenblume in der Hand.<br />
"Die habe ich aus meinem Garten.", erklärte sie und lächelte so warm, daß Herrn Schreibtisch das Herz aufging.<br />
"Sie ist für dich, Karfunkel."<br />
Karfunkel Obstsalat Schreibtisch wußte nicht, wie ihm geschah. Mit Monika durfte er dich nur montags telefoniert, Sonnenblumen nur sonntags bestaunt werden! Alles geriet durcheinander!<br />
<br />
"Danke.", lächelte Herr Schreibtsich und gab Monika einen Kuß.
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2007-06-01T08:35:00Z
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Gunter und Gerald
http://morast.twoday.net/stories/3736092/
Man hätte Gunter und Gerald für eineiige Zwillinge halten können. Doch das waren sie nicht. Schließlich gab es - zumindest heute - mindestens einen entscheidenden Unterschied: Gerald hatte Geburtstag, Gunter schnupfen.<br />
<br />
Wenn Gunter nieste, verschluckte er stets das "Ha" vor dem "Tschi". "Tschi!" platzte es dann aus ihm heraus, und sein rechtes Bein stampfte gleichzeitig auf den Boden. Gerald hatte bisweilen geargwöhnt, daß Gunters Stampfen dazu diente, das fehlende "Ha" zu kompensieren, doch sicher war er sich nicht.<br />
<br />
Die beiden standen in Geralds Zimmer herum, und Gerald war gerade dabei, Gunters Geschenk [Es war mit Sicherheit wieder ein abenteuerlich aussehender Stein, den Gerald seiner Sammlung abenteuerlich aussehender Steine hinzufügen konnte.] auszupacken, als Gunter nieste. "Tschi!" explodierte es aus seinem Mund und Gunters rechter Fuß stampfte ein Loch in den Boden.<br />
<br />
Tatsächlich: Da war plötzlich eine Delle im Teppich wo gerade noch eine ebene Fläche gewesen war. Gunter zog den Teppich beiseite. Unter diesem befand sich ein Loch, das ungefähr die Ausmaße von Gunters rechtem Fuß hatte. Nacheinander lugten Gunter und Gerald hindurch, doch erkannten nicht viel. Etwa ein Meter tiefer konnten sie aber eine Art Plattform erahnen.<br />
<br />
Die beiden zögerten nicht lange und entfernten rasch weitere Teile des Bodens, vergrößerten innerhalb weniger Sekunden derart, daß ein schlanker Körper bequem hindurchpaßte.<br />
"Ich gehe zuerst.", meinte Gunter und Gerald nickte. Gunter ging immer zuerst.<br />
<br />
Auf die Plattform zu gelangen, war nicht schwierig. Schlüpfte man durch das Loch, brauchte man nur noch loszulassen und landete mit einem unangenehm lauten "Wumms!" auf der nächsten Ebene.<br />
"Metall", murmelte Gerald, "Die Plattform besteht aus Metall."<br />
Zudem war sie auch nicht sehr groß, maß vielleicht ein mal ein Meter und war umkränzt von einem stählernen Geländer. Nur eine Seite war offen. Dort ragte ein Brett über den Rand hinaus ins Leere.<br />
<br />
"Eine Leiter!", rief Gunter und war schon die ersten Sprossen hinabgestiegen.<br />
"Wir sind auf einem Sprungturm.", stellte Gerald fest, sobald auch er die Leiter betreten hatte.<br />
"Wir sind in einer Schwimmhalle!", rief Gunter von unten, denn er hatte die Leiter bereits hinter sich gelassen und erkundete die Umgebung.<br />
"Tschi!", nieste er und stampfte auf. Das Echo schallte von den Wänden wider.<br />
'Der Raum muß riesig sein!', dachte Gerald, doch konnte sich nicht erinnern, bisher über einem Schwimmbad gewohnt zu haben.<br />
"Die Becken sind leer!", rief Gunter, der von seiner Erkundungstour zurückgekehrt war. "Alle Becken sind leer." Er nieste erneut. Und stampfte.<br />
<br />
Geralds Augen hatten sich mittlerweile an das dämmrige Dunkel gewöhnt, und er konnte seine Umgebung allmählich erkennen. Sie waren vom höchsten Sprungturm herabgestiegen; daneben standen noch zwei weitere. 'Zehn Meter, fünf Meter, drei Meter.', schätzte Gerald und starrte in das leere Becken vor seinen Füßen. Es war nicht groß, aber sehr tief.<br />
"Dahinten sind noch drei weitere.", erklärte Gunter atemlos. "Eines für Kinder, ein großes zum Schwimmen und ein klitzekleines."<br />
"Ein Whirlpool.", vermutete Gerald. Gunter nickte und nieste.<br />
<br />
"Was war das?", fragte Gerald plötzlich.<br />
"Ich habe geniest.", meinte Gunter.<br />
"Psst.", flüsterte Gerald und versuchte, in der Stille des Schwimmbads etwas zu hören, das nicht hierhergehörte. Schritte.<br />
"Dort drüben.", Gunter flüsterte nun auch und zeigte nach links. <br />
Gerald nickte.<br />
<br />
Gunter ging voran, langsam diesmal, schleichend. Gerald lief hinterher, versuchte, im Dämmerlicht etwas erkennen zu können. <br />
"Es sind zwei.", flüsterte Gunter plötzlich und deutete auf eine vertrocknete Palme. "Sie verstecken sich dahinter."<br />
Gerald nickte erneut. In seiner Tasche spürte er das beruhigende Gewicht des mit Geschenkpapier umwickelten Steins. <br />
<br />
Die zwei Silhouetten lösten sich von ihrem Versteck, kamen zu ihnen. <br />
"Wer seid ihr?", rief Gunter und Gerald hörte das leichte Zittern in seiner Stimme. <br />
'Er hat Angst.', dachte Gerald, 'Dabei hat Gunter niemals Angst!'<br />
<br />
Eine der beiden Fremden schrie plötzlich "Ha!" und stampfte auf den Boden. Gerald konnte die beiden nun gut erkennen. Sie sahen aus wie Gunter. Beziehungsweise er selbst. Alle beide. <br />
Was war hier los?<br />
<br />
"Ich heiße Gunter."sagte der Fremde, der nicht geschrien hatte. "Und das ist Gerald." Er zeigte auf seine Begleitung und ergänzte:<br />
"Ich habe Geburtstag. Und Gerald Schnupfen."
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2007-05-16T14:14:00Z
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Zwanzig Meter
http://morast.twoday.net/stories/3701705/
"Spiel mit mir!" Ich war gerade in Begriff gewesen, nach Hause zu laufen, als mich der Riese ansprach. Auch wenn einem Riesen derartiges kaum zuzutrauen ist, behaupte ich, daß er sich angeschlichen hatte. Ja, vermutlich hatte er mich vorher sogar beobachtet und zum neuen Spielgefährten auserkoren.<br />
<br />
Plötzlich jedenfalls hatte er vor mir in die Höhe geragt, mit nackten Füßen groß wie Autos. "Nein!", hatte ich nach oben gerufen, obgleich ich mir denken konnte, was geschah, wenn man einem Riesen die Erfüllung seines Wunsches verweigerte: Bestenfalls steckte man Sekunden später kopfüber in einem Sandkasten und mußte sich beeilen, seine Meinung zu ändern, bevor die Atemluft knapp wurde.<br />
<br />
"Spiel mit mir!", hatte ich den Riesen erneut donnern gehört, während ich versucht hatte, alle Öffnungen meines Körpers zu schließen und vor eindringendem Sand zu schützen. Ich hatte keine Wahl gehabt, als "Mmpff." zu brummen, was sowohl "Okay!" als auch "Nein!" hätte heißen können. <br />
Doch der Riese war - wenn man von seiner Neigung, andere kopfüber in Sandkästen zu stopfen absah - gutmütiger Natur und hatte meine sandverklebten Töne wohlwohllend interpretiert.<br />
<br />
Und nun stand ich hier, an einen Kastanienbaum, gelehnt, hatte die AUgen halb geschlossen und zählte bis fünfzig, während der Boden hinter mir vibrierend bewies, daß der Riese nach einem Versteck suchte. Warum er ausgerechnet "Verstecken" spielen wollte, war mir ein Rätsel. Zwanzig Meter hohe Wesen sind selbst in baumreichen Parks leicht zu entdecken.<br />
<br />
"48 ... 49 ... 50! Ich komme!" Ich drehte mich um. Vom Riesen keine Spur "Umso besser.", dachte ich und beschloß wegzurennen, bevor ich ein zweites Mal Sand atmen mußte.<br />
<br />
Ich lief los. Meine Turnschuhe trugen mich butterweich über den Kieselpfad, und bereits nach wenigen Schritten verspürte ich so etwas wie Freiheit. Ich lächelte, bog um eine Kurve - und stand vor dem Riesen. Er hatte sich hinter einer Laterne versteckt, wartete zusammengekauert darauf, daß ich ihn fand oder aufgab. Seine Augen waren geschlossen, als glaubte er, daß er unsichtbar sei, sobald er selbst nichts mehr sehen könne. Die Laterne reichte ihm bis zum Knie und sein Versuch, sich dahinter zu verstecken, wirkte niedlich - falls man so etwas über einen 20-Meter-Kerl sagen darf. Ich schmunzelte.<br />
<br />
Doch noch immer hatter ich Sand in den ohren von der praktischen Umsetzung seiner Überredungskunst. Mein Schädel schmnerzte, und ich wollte eigentlich nur nach Hause. Ich mochte Versteckspielen nicht, und noch weniger mochte ich es, dazu gezwungen zu werden. Ich beschloß, mich am Riesen vorbeizuschleichen.<br />
<br />
Jeden unnützen Laut vermeidend, auf Äste und lose Steinchen achtgebend, bewegte ich mich vorwärts. ich konnte meinen Atem hören. Er war viel zu laut. <br />
Unter meinen Turnschuhsohlen knirschte leise der Knies. 'Das kann er nicht hören.', beruhigte ich mich. 'Seine Ohren sind über zwanzig Meter von mir entfernt.'<br />
<br />
Doch der Riese riß die Augen auf und rief fröhlich: "Du hast mich gefunden!" Ich seufzte. "Jetzt bist du dran!", donnerte es von oben auf mich herab, und ich wollte schon widersprechen, als ich mich meines letzten Widerspruchs entsann und seufzend zustimmte.<br />
<br />
Der Riese lehnte sich an eine alte Eiche und schloß die Augen. "Eins. Zwei. Drei ...", zählte er so laut, daß es kilometerweit zu hören sein mußte. <br />
<br />
Ich rannte los. Dies war meine letzte Chance zu entkommen! Ich spurtete über die Wiese. Das Gras dämpfte meine Schritte. Ich holte das Letzte aus mir heraus, steigerte Meter für Meter meine Geschwindigkeit. Nie zuvor in meinem Leben war ich so schnell gelaufen. "Dreiundvierzig. Vierundvierzig.", dröhnte es hinter mir, und ich rannte weiter, sprang über Steine, wich spielenden Kindern aus, rannte, als hinge mein Leben davon ab. Und vielleicht tat es das.<br />
<br />
"Fünfzig.", höre ich den Riesen in der Ferne brüllen - zumindest kam es mir so vor, als brüllte er. 'Nicht weit genug!', dachte ich, doch hielt inne. Der Riese hatte gute Ohren. Jeder weitere Schritt konnte mich verraten. <br />
<br />
Ich brauchte ein Versteck. Zwischen zwei schlanken Bäumen entdeckte ich einen Wacholderbusch, dicht und üppig mit Blättern bestückt. Ich zwängte mich hinein. 'Perfekt!', dachte ich und spürte die Vibrationen der Schritte des Riesens. Die Suche hatte begonnen.<br />
<br />
Zunächst lief er in die falsche Richtung. Absichtlich, vermutete ich. Er wollte es sich nicht zu leicht machen. Nach einer Weile kam er näher. Der Boden bebte unter mir. Die Sache fing an, mir Spaß zu machen. Ich war unauffindbar und gluckste vor Vergnügen.<br />
<br />
Der Riese blieb stehen. Ich sah ihn nicht, doch der Boden hatte aufgehört zu beben. "Wo bist du?", donnerte es durch den Park. Ich schwieg. 'Mucksmäuschenstill.', dachte ich und lächelte. Zwei Schritte des Riesens in meine Richtung. Er war noch immer mindestens dreißig Meter von mir entfernt. Doch er kam näher. Jeder Riesenschritt verkürzte die Distanz rapide.<br />
<br />
"Wo bist du?", tönte es erneut. Ich hielt mir die Ohren zu. Noch ein Schritt. Und zwei weitere. Gleich würde er mich finden - oder an mir vorbeilaufen. Ich hielt den Atem an. Kein Laut war zu hören. Stille.<br />
<br />
Als es nicht mehr ging, stieß ich vorsichtig die verbrauchte Luft aus und öffnete blinzelnd meine Augen. Der Riese mußte sich unmittelbar neben meinem Versteck befinden. Ich sah mich um, versuchte, durch das dichte Blätterwerk zu lugen, doch konnte ihn nirgends entdecken.<br />
<br />
'Das kann doch nicht sein!', dachte ich, 'Ein Riese ist doch nicht zu übersehen.' Doch der Riese war verschwunden.<br />
<br />
Mit einem Satz sprang ich aus dem Wacholferbusch heraus, blickte verstört in alle Richtungen - aber fand ihn nicht. Hier gab es keine Verstecke für 20-Meter-Männer. Nur ein paar Büsche und junge Bäume. Wo war er? War das ein Trick?<br />
<br />
"Riese! Wo bist du?", rief ich, doch der Riese antwortete nicht. Es war, als hätte er sich in Luft aufgelöst. <br />
<br />
Ich entdeckte seine Spuren im weichen Gras. Seine monströsen Fußabdrücke hatten sich tief in den weichen Boden gegraben. Ich folgte ihnen, doch die Spur endete abrupt, unmittelbar neben meinem Versteck.<br />
<br />
"Riese! Wo bist du?", rief ich erneut, doch spürte, daß er verschwunden war. <br />
<br />
Ein Mädchen mit Puppenwagen schaue mich verwundert an. "Hast du hier irgendwo einen Riesen gesehen?", fragte ich. Die Verzweiflung in meiner Simme überraschte mich. Das Mädchen schüttelte den Kopf und ging hastig weiter. <br />
<br />
Ich setzte mich ein einen der riesigen Fußabdrücke. Traurig lächelnd fuhr ich mit den Fingern die Kurven seines kleinsten Zehs nach. <br />
"Eigentlich ein netter Kerl, der Riese.", seufzte ich und kratzte mir ein wenig Sand aus den Ohren.
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2007-05-08T07:34:00Z
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Der letzte Mensch auf Erden
http://morast.twoday.net/stories/3688048/
Uwe, der letzte Mensch auf Erden, stand in der Wüste und pupste.<br />
"Ich habe gepupst!", rief er und freute sich.<br />
"Ich habe gepupst, und niemanden kann es stören. Denn ich bin der letzte Mensch auf Erden!"<br />
"Du bist eklig!", meinten die mutierten Ratten und verschlangen auch ihn.
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2007-05-04T08:57:00Z
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Der Mann in Schwarz
http://morast.twoday.net/stories/3662868/
Die Mittagssonne brannte grell und heiß. Schattenlos erstreckte sich das staubige Grau der Straße vor Herrmanns geblendeten Augen. Er schwitzte unter seinem Cowboyhut, doch verzog keine Miene.<br />
Den Hut hatte er in einem Secondhandladen für Karnevalsartikel erstanden. Er war aus Pappe, und irgendjemand hatte einen Sheriffsstern aus Alufolie darauf befestigt. Aus der Ferne betrachtet sah Herrmanns Cowboyhut verdammt echt aus.<br />
Herrmann schwitzte. In Ermangelung büffellederner Cowboystiefel hatte er sich die nächstbesten Stiefel geschnappt, die ihm zur Verfügung standen: Gummistiefel. Moosgrüne. <br />
Herrmann spürte, wie seine Füße in warmen Salzwasserpfützen badeten, doch verzog keine Miene. Er war schließlich ein Mann.<br />
Heute Abend würde er sich vielleicht seiner Kleidung entledigen und ein Schaumbad genießen, doch in diesem Augenblick brauchte er stählerne Nerven. Ein Schweißfaden rann seine Wange hinunter, doch Herrmann beachtete ihn nicht. Seine gesamte Konzentration galt seinem Gegenüber, dem Mann in Schwarz, dessen Silhouette exakt 50 Schritt entfernt in der Hitze flimmerte.<br />
Es hatte keine zwei Minuten gedauert. Kaum war Herrmann aus dem Zug gestiegen, hatte einen ersten Blick auf das Städtchen geworfen, hatte ihm der Mann in Schwarz auf die Schulter getippt. Sein Gesicht war vom Wetter gegerbt, jede einzelne Falte berichtete von Abenteuer und Gefahr. Mit seinem Drei-Tage-Bart hätte man Eisen feilen können. Aus seinen stahlblauen Augen funkelte der Tod. Der Mann in Schwarz hatte ihn angesehen, einen kurzen Blick auf den Sheriffsstern an Herrmanns Karnevalshut geworfen, ausgespuckt und mit rauher Stimme jene zwei Sätze gesagt, die Herrmanns Leben verändern würden:<br />
"Es kann hier nur einen geben. Um Zwölf vor dem Saloon."<br />
Dann hatte er einen seiner beiden Revolver abgeschnallt und Herrmann vor die Gummistiefel geworfen. Herrmann trug keine Waffen. Seit dem Unfall mit dem Eichhörnchenbaby weigerte er sich sogar, schärfere Küchenmesser zu berühren.<br />
Der Fremde in Schwarz hatte verächtlich auf die Straße gespuckt und war gegangen. Seine Sporen hatten leise bei jedem Schritt geklirrt.<br />
Und nun stand er hier. Herrmann Piesecke, Blumenhändler aus Niedergrubenbach an der Mulze, mit einem Papphut auf dem Kopf, unter dem der Schweiß in Strömen floß, und einem Leben, das in wenigen Augenblicken durch eine Kugel beendet werden würde.<br />
"Es kann hier nur einen geben.", hatte der Fremde gesagt und somit Herrmanns Schicksal besiegelt. Der Fremde kannte keinen Frieden, nur den Tod, den ehrenhaften Tod. Herrmann hielt nicht viel von Ehre, doch war sie das Letzte, was ihm geblieben war. Das Vorletzte, um genau zu sein, denn an seiner rechten Hüfte hing schwer und eisern der Revolver des Mannes in Schwarz.<br />
Ein frischer Lufthauch kühlte Herrmanns Gesicht. Plötzlich war der Mann in Schwarz deutlich zu erkennen. Herrmann sah, wie der Mann in Schwarz die Hand zum Revolver führte, und reagierte instinktiv. Ohne darüber nachzudenken, daß seine fünf Probeschüsse vor wenigen Minuten das Ziel allesamt meterweit verfehlt hatten, ohne darüber nachzudenken, daß diese Bewegung die letzte sein würde, die er in seinem Leben tat, zog er - und schoß. Ohne zu zielen. <br />
Herrmann konnte noch nicht einmal sagen, ob der Lauf des Revolvers in die korrekte Richtung gezeigt hatte. Doch er hatte geschossen. An Herrmanns Ohr pfeifte es kurz und laut, dann war es still. Der Mann in Schwarz sackte zusammen, hielt sich die linke Brust.<br />
Fünfzig Schritte durch den Wüstenstaub. Der Mann in Schwarz lag auf dem Boden. Im blechernen Stern an seiner Brust klaffte ein Loch, aus dem es rot pulsierte. Der Mann in Schwarz schwieg - und starb.<br />
"Es kann hier nur einen geben.", sagte Herrmann, und seine Stimme klang hart und männlich. Vom Anblick des Blutes war ihm schlecht geworden, doch er verzog keine Miene.<br />
Er betrat den Saloon, bestellte lautstark beim Wirt ein Frischgezapftes. Doch es gab keinen Wirt. Es gab überhaupt niemanden. Der Saloon war leer. Verwirrt rannte Herrmann auf die Straße, zum Nachbarhaus, riß die Tür auf. <br />
"Hallo? Ist hier jemand?" Keine Antwort. Auch nicht im nächsten und übernächsten Haus. Die gesamte Stadt war menschenleer!<br />
"Es kann hier nur einen geben.", hatte der Mann in Schwarz gesagt.<br />
<br />
<small>[Im Hintergrund: <b>Dark Tranquillity - "Fiction"</b>]</small>
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2007-04-27T08:15:00Z
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Peter und die Unke
http://morast.twoday.net/stories/3655305/
Als Peter das Badezimmer betrat, hüpfte gerade eine blaugrün gestreifte Unke aus der Klopapierrolle.<br />
"Was machst du denn da?", fragte Peter verdutzt, obwohl ihm sicherlich bessere Fragen eingefallen wären, hätte er nicht so dringend auf Toilette gemußt.<br />
"Ich wohne hier.", antwortete die Unke und lief dabei ein wenig orange an. Peter zog seine Schlafanzughose runter, setzte sich auf die Klobrille und überlegte:<br />
"Du wohnst in der Klopapierrolle?"<br />
"Nein, natürlich nicht! Ich wohne im Klo!"<br />
"Aber ist das nicht ziemlich widerlich?", fragte Peter und verrichtete sein morgendliches Geschäft. Die Unke sah interessiert zu. Wenn man es genau nahm, glotzte sie eigentlich nur. Ob sie interessiert war, konnte Peter nur schwer einschätzen. Wenn man es noch genauer nahm, glotzte die Unke eigentlich immer. Das lag an ihren Glubschaugen, die so wirkten, als hätte sie irgendwer einfach auf den Körper aufgeklebt. Außerdem ging von ihnen ein grüngoldener Schmmer aus, der nichts und alles zugleich zu bedecken schien. Peter wußte nie, wohin die Unke gerade starrte.<br />
"Natürlich wohne ich nicht in der Toilette. Das wäre widerlich!", meinte die Unke nach einer Weile, und Peter hatte das Gefühl, das sie sich damit selbst widersprach. Doch er zuckte mit den Schultern. Was wußte er schon von der unter Amphibien üblichen Gesprächsführung?<br />
"Die Toilette ist nur ein Tor.", erklärte die Unke. "Und ich bin nur der Hüter."<br />
"Der Hüter?"<br />
"Ja, das sieht man an meinem unsichtbaren Hüter-Hut.", sagte die Unke und patschte sich demonstrierend auf ihren feuchten Kopf. Sie hatte Recht: Der Hut war wirklich unsichtbar.<br />
Peter stand auf, zog die Hose hoch und betätigte die Spülung. Erschrocken hüpfte die Unke beiseite.<br />
"Die Toilette ist also ein Tor...", murmelte Peter, während der dem wirbelnden Wasser hinterherblickte.<br />
"Zu einer anderen Welt.", nickte die Unke - oder versuchte es zumindest. Es sah nicht aus wie ein echtes Nicken aus, doch Peter konnte erkennen, was gemeint war.<br />
"Was für eine Welt?", fragte Peter neugierig.<br />
"DAS ... darf ich nicht sagen. Ich bin nur der Hüter. Das sieht man an meinem Hut."<br />
Peter nickte.<br />
"Und wie gelangt man dorthin?"<br />
"Du mußt nur eine einzige Rätselfrage richtig beantworten, die der verantwortliche Torhüter dir stellt."<br />
"Mehr nicht?"<br />
"Mehr nicht."<br />
"Also los.", meinte Peter, den die Kröte allmählich nervte.<br />
"Unke.", verbesserte die Unke.<br />
"Dann eben Unke.", murmelte Peter, den die Unke allmählich nervte.<br />
"Die Frage lautet ... an dieser Stelle mußt du dir einen Trommelwirbel vorstellen ... : Wieviel ist zwei plus drei?"<br />
Peter hatte es satt. Diese glubschäugige Unke veralberte ihn doch! Trotzig antwortete er "Achtundzwanzig." und hoffte, fortan in Ruhe gelassen zu werden. Er stürmte in Richtung Badezimmertür.<br />
"Achtundzwanzig ist richtig!", jubelte die Unke und das Wasser in der Toilette brandete auf. Es toste und tobte und formte sich zu einer riesigen Welle, zu einer feuchten Hand, die tropfend nach ihm griff und ihn in die Toilette zerrte.<br />
"Neeeein...!", schrie Peter, doch schon war er in der Toilette verschwunden. Die Unke gluckste vergnügt: "Ich bin der Hüter."<br />
Als Peter zu sich kam, befand er sich in einem langen, schlecht beleuchteten Korridor. Sein Schlafanzug war trocken, als wäre er nie durch das Klo gezogen worden, und nirgends sah er eine Unke herumhüpfen. <br />
Er ging ein paar Meter. Seine Schritte hallten auf dem langen Gang wieder. Er fühlte sich unwohl.<br />
"Ich will nach Hause!", rief er, doch nur das Echo des Korridors antwortete. Er begann zu rennen. Türen um Türen flogen links und rechts an ihm vorbei, aber der Gang nahm kein Ende.<br />
Erschöpft hielt er nach ein paar Minuten inne.<br />
"Ich will nach Hause.", flüsterte er. Vorsichtig öffnete er die Tür links von ihm und lugte hinein. "Ein Badezimmer.", wunderte er sich.<br />
Als Peter das Badezimmer betrat, hüpfte gerade eine blaugrün gestreifte Unke aus der Klopapierrolle.<br />
"Was machst du denn da?", fragte Peter verdutzt.
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2007-04-25T11:04:00Z
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James Dean
http://morast.twoday.net/stories/3613536/
Ich konnte mich nicht daran erinnern, das James-Dean-Poster jemals an der Wand meines Zimmers aufgehängt zu haben, doch jetzt blinzelte es mir verschwörerisch zu. Nicht "es", "er"! Ich hatte noch nie Interesse für James Dean aufbringen können, auch klebte ich mir längst keine Poster mehr über die Tapete. Aber James Dean hing dort oben, bestückt mit dem typischen Cowboyhut und lässiger Miene, und zwinkerte mir zu. <br />
<br />
Er wirkte lebendig, plastisch und realistisch, und fast schien es mir, als bedürfe es nur eines Schrittes in das Poster hinein, und ich stünde neben James Dean, in dessen Hand eine filterlose Zigarette vor sich hinglimmte. Die Zigarette war echt, ich roch es, doch ihr Qualm klebte starr auf der Fotografie.<br />
<br />
Ich lächelte unsicher. Vielleicht war ich verrückt. Erst gestern hatte ich entdeckt, daß mein blauer Kugelschreiber leuchtete, wenn ich ihn berührte. Bei allen anderen blieb er langweilig blau, doch sobald ich meine Finger um ihn schloß, strahlte er ein fast überirdisches Leuchten ab. "Entweder", hatte ich gesagt,"bin ich göttlich oder der Kugelschreiber oder wir beide."<br />
Die anderen hatten gelacht, mir den Kugelschreiber entrissen und waren weggelaufen.<br />
<br />
Und nun zwinkerte James Dean mir zu. Von einem Poster.<br />
'Warum', überlegte ich, 'nennt man Schauspieler eigentlich stets bei ihrem vollen Künstlernamen?' Es kam mir falsch vor, James Dean als "Mr Dean" zu bezeichnen [selbst wenn man die Namensähnlichkeit zu Mr Bean ignorierte]. Und ein schlichtes "James" war ohnehin respektlos. Der Mann war schließlich tot.<br />
<br />
Ich hatte noch nie einen einzigen Film gesehen, in dem Mr Dean, James, mitgespielt hatte. Natürlich hatte ich von "Denn sie wissen nicht, was sie tun" und "Giganten" gehört und auch davon, daß der arme Herr Dean bereits in jungen Jahren verstorben war. Aber mich hatte das nie interessiert. <br />
Und nun starrte ich auf ein Poster an meiner Wand, das mir zuzwinkerte.<br />
<br />
"Komm mit!", schien Herr Dean überlegen zu lächeln, während die Zigarette in seiner Hand nutzlos glimmte. <br />
'Komm mit!', fauchte ich angewidert in Gedanken. Das war doch eine Zeile aus dem schrecklichen Lied "Abenteuerland" von Pur, in dem es hieß, daß der Eintritt den Verstand koste, Sollte ich wirklich in das Poster steigen und dabei den Verstand verlieren, dann würde ich lieber darauf verzichten.<br />
<br />
Der Kugelschreiber, der gestern so wunderschön, ja himmlisch, geleuchtet hatte, fehlte mir. Es war nicht nur mein Lieblingskugelschreiber gewesen, jener, mit dem ich all meine Texte und Gedichte zu schreiben pflegte [In dieser Hinsicht ähnelte ich tatsächlich Herrn Dean: Wir hatten beide noch nie einen Computer benutzt.], sondern sein magisches Leuchten hatte mir Kraft gespendet, Entschlußkraft, Selbstvertrauen ...<br />
<br />
James Dean hing immer noch an meiner Wand und zwinkerte verlockend. Es war leicht: Ich brauchte nur die Hand auszustrecken und in seine Welt zu greifen. Wenn meine Finger gegen Beton stießen, wäre ich nur einem weiteren Irrsinn aufgesessen und hätte mir wohl auch meine Kugelschreibergöttlichkeit eingebildet. Wenn ich aber hindurchdrang, plötzlich in der anderen Welt war - dann war alles möglich. Vielleicht war ich tatsächlich auserwählt, vielleicht wartete eine Mission auf mich, vielleicht ...<br />
<br />
Vielleicht sollte ich James Dean wirklich besuchen. Immerhin, allzu unsympathisch sah er nicht aus. Und in den Dreißigern war es vielleicht auch ganz nett. Oder in den Vierzigern. Oder wann immer dieses Foto geschossen worden war.<br />
<br />
Warum war James Dean eigentlich bunt? Gab es überhaupt Farbfotos von James Dean? Hatte es damals, in den 30ern, 40ern, 50ern - oder wann auch immer Herr Dean zu Ruhm gelangt war - schon Farbfotografie gegeben? <br />
Wahrscheinlich spielte es keine Rolle. Einem Schwarz-Weiß-Foto hatte ich niemals vertraut.<br />
<br />
James, ich duzte ihn jetzt, blinzelte erneut. Erstaunlich, wie geduldig er mir zublinzelte, während ich untätig nach einer Entscheidung suchte. Ich wandte mich ihm zu. 'Na gut', dachte ich, 'was habe ich schon zu verlieren?'<br />
<br />
James schien zu lächeln. Er sah wirklich sehr sympathisch aus mit seinem Cowboyhut, seinen Cowboystiefeln und seinem Cowboyhemd, in dessen Tasche ein Kugelschreiber steckte ...<br />
<br />
Moment, das war doch MEIN Kugelschreiber! Wie konnte ...? Dieser verdammte ...! <br />
<br />
Kurzentschlossen griff ich in das Poster, zerrte den Kugelschreiber aus James Brusttasche und gab dem Mistkerl noch eine schallende Ohrfeige, bevor ich das alberne Poster von der Wand riß, zerknüllte und in den Mülleimer warf. <br />
Der Kugelschreiber in meiner Hand leuchtete zufrieden.
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2007-04-18T12:16:00Z
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Theodor
http://morast.twoday.net/stories/3561349/
Theodor, der einäugige Kaiserpinguin, stopfte zitternd seine Pfeife. <br />
"Ich bin alt.", erklärte er Johann, dem fröhlichen Fineliner, der mal wieder zu Besuch war. Johann kam alle zwei, drei Jahre vorbei und brachte jedesmal ein wenig neuen Pfeifentabak mit. In der Antarktis war so etwas nur schwer zu bekommen.<br />
"Ich bin alt.", erklärte Theodor, so wie er es schon Tausende Male zuvor während des Pfeifenstopfens erklärt hatte. Ältere Pinguine neigen dazu, sich unwissentlich zu wiederholen.<br />
"Ich bin alt.", meinte Theodor, doch seine schwarzen Knopfaugen funkelten vor Vergnügen. Von wegen "unwissentlich". Theodor liebte es, sich absichtlich zu wiederholen und damit sein - selbst für einäugige Kaiserpinguine - beeindruckendes Alter zu betonen. Theodor hatte seinen dreiundneunzigsten Geburtstag hinter sich und frierte häufiger als früher. Ansonsten ging es ihm aber gut. Wenn man von dieser einen Sache absah...<br />
"Wenn man alt wird,", erklärte Theodor, der einäugige Kaiserpinguin seinem Freund Johann, der diese Rede schon hundertfach angehört hatte, "friert man häufiger. Deswegen die Pfeife." Er wedelte mit der Pfeife, und Johann zündete sie an. Ein Ritual. <br />
"Doch ansonsten geht es mir gut.", führte Theodor weiter aus. Johann nickte verständnisvoll, wie es von ihm erwartet wurde. Er hatte es noch nie gewagt, Theodor bei seinen immergleichen Monologen zu unterbrechen und lächelte sogar insgeheim, wenn er wieder einmal das verräterisch Funkeln in des Pinguins Knopfaugen entdeckte, das bezeugte, daß der alte Theodor doch nicht so senil war, wie er gerne vorgab.<br />
Theodor zog an der Pfeife und blies zwei Kringel in die klirrend kalte Antarktisluft. Verzückt sahen beide zu, wie sie sich langsam auflösten und verblaßten.<br />
"Mir geht es gut.", meinte Theodor nach einer Weile. "Wenn da nicht diese eine Sache wäre..."<br />
Johann horchte auf. 'Nanu!', dachte er sich, 'Das sind ha völlig neue Worte aus Theodors Schnabel!'<br />
Theodor seufzte und schüttelte träge mit dem Kopf.<br />
"Äh...", wagte Johann, der fröhliche Fineliner, zu fragen, während seine Kappe nervös klackte. "Was für eine Sache denn?"<br />
Nun war es geschehen! Das immergleiche Ritual war unterbrochen! Eigentlich hätte Theodor von früher erzählen müssen, von seiner Kindheit, von den ersten Menschen, denen er begegnet war und die Pfeife entwendet hatte, während sie sich im ewigen Eis verirrten. Doch Theodor hatte anderes im Sinn. Heute war ein besonderer Tag!<br />
"Heute ist ein besonderer Tag.", meinte der einäugige Pinguin. "Der Osterhase war da."<br />
"Aber... aber...", stammelte Johann, "Er kommt doch jedes Jahr. Eingehüllt in unzählige Fuchspelze und trotzdem zitternd versteckt er die bunten Ostereier hastig in Löchern und Spalten, bevor er eilig wieder von dannen hoppelt..."<br />
"Der Osterhase war da.", wiederholte sich Theodor, doch das verräterische Funkeln in seinen schwarzen Knopfaugen blieb aus. "Der Osterhase war da, aber wir können die versteckten Ostereier nicht finden." Theodor schüttelte traurig sein Kaiserpinguinhaupt. <br />
'Heute sieht er zum ersten Mal wirklich alt aus.', dachte Johann bekümmert.<br />
Plötzlich kam eines der plüschigen Pinguinkinder hastig angetapst. Sven oder Rod oder Piet hieß es und rief schon von weitem: "Großvater! Großvater! Wir haben ein Ei gefunden!"<br />
Erleichtert atmete Großvater Theodor, der einäugige Pinguin, auf. Doch Johann, dessen Blick viel schärfer war, erkannte, daß trotz des gefundenen Ostereis sich weitere Probleme ankündigten.<br />
"Großvater! Großvater! Wir haben ..."<br />
"Ich weiß.", unterbrach Theodor das nervige Gepiepse seines Enkelkindes. Er duldete es nicht, wenn man seinen Hang zu Wiederholungen nachahmte. Sven oder Rod oder Piet verstummte.<br />
"Nun zeig schon her.", brummte Theodor, der einäugige Kaiserpinguin, versöhnlich und schmauchte noch einen Rauchkringel in die Antaktisluft. Sven oder Rod oder Piet war mittlerweile bei ihm angekommen und holte nun hervor, was er sorgsam unter dem flauschigen rechten Flügel transportiert hatte.<br />
'Ohne Zweifel. Dies ist ein Osterei.', dachte Johann, der fröhliche Fineliner.<br />
"Ohne Zweifel. Dies ist ein Osterei.", sagte er.<br />
"Aber...", stotterte Theodor, der seinem einen Auge nicht trauen mochte. "Das Ei ist ja weiß!"<br />
Sven oder Rod oder Piet nickte bekümmert.<br />
"Dieser verdammte Osterhase!", empörte sich Theodor. Hektisch wirbelte er mit der Pfeife umher, so daß glühender Tabak herausstob und sich zischend in den Schnee grub. "Ich bin dreiundneunzig Jahre alt, und immer waren die Ostereier bunt!"<br />
"Vielleicht hat er vergessen, sie zu bemalen.", schlug Johann, der fröhliche Fineliner vorsichtig vor.<br />
"Dieser verdammte Osterhase!", schimpfte Theodor noch einmal. "Wir werden Wochen brauchen, um alle Ostereier zu finden!"<br />
"Weiße Eier sollte man nicht in weißem Schnee verstecken.", piepste Sven oder Rod oder Piet und sagte damit den schlauesten Satz seines Lebens.
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2007-04-12T09:01:00Z
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Olaf, der schwarze Kugelschreiber
http://morast.twoday.net/stories/3549138/
Eines Tages erwachte Olaf und sagte mit düsterer Mine [Er war schließlich ein schwarzer Kugelschreiber.]:<br />
"Ich habe keine Lust mehr auf das Hier und Jetzt! Den ganzen Tag hänge ich unnütz in der Tasche herum, warte darauf, irgendwann herausgeholt und aufgedreht zu werden, ein paar unleserliche Zeichen auf Zettelchen und Zettel zu notieren und dann wieder zu verschwinden. So kann das nicht weitergehen! Ich wandere aus!"<br />
So konnte das nicht weitergehen, sagte sich Olaf und beschloß auszuwandern.<br />
<br />
"Wohin?", fragte die Schildkröte Uru, als er vorsichtig aus der am Garderobenhaken hängenden Jacke hüpfte und genau in Urus Abendbrotresten landete.<br />
'Immerhin eine weiche Landung!', dachte Olaf, doch antwortete: "Irgendwohin. Das Schicksal zeigt den Weg." Diesen Satz hatte er sich lange vorher überlegt. Er klang gut, fand Olaf. Am liebsten würde er ihn einfach niederschreiben, aber...<br />
"Ich begleite dich.", meinte Uru, "Zumindest ein bißchen." <br />
Der Kugelschreiber hüpfte glücklich auf und ab, war er doch so auf den ersten Metern seines Wagnisses nicht allein.<br />
'So bin ich auf den ersten Metern meines Wagnisses wenigstens nicht allein.', dachte er, und gemeinsam gingen und hüpften sie los.<br />
<br />
Zuerst hüpfte Olaf wie wild voran, übersprang dank guter Kugelschreiberfeder sogar größte Kiesel, doch mußte bald einsehen, daß Kugelschreiber nicht für dauerhafte Fortbewegung geschaffen waren. Ihm ging die Puste aus. Außerdem bewegte sich Uru nur schwerfällig über den Boden, krabbelte langsam hinter ihm her, als hätte sie alle Zeit der Welt.<br />
"Schnell, schnell!", rief Olaf, sprang zwei-, dreimal nach oben, war bereits erneut außer Atem und keuchte: "Wir ... haben doch ... nicht alle ... Zeit der Welt!"<br />
"O doch.", brummte Uru freundlich und krabbelte in gleichem Tempo weiter. "Das Auswandern braucht keine Eile, nur ein Ziel."<br />
Aber Olaf hörte sie nicht; schon war er wieder vorausgehüpft, weiter und weiter dem Unbekannten entgegen.<br />
<br />
Nach einer kurzen Weile jedoch wurden seine Sprünge immer kleiner und kleiner, und er beschloß, eine Pause einzulegen. An einem hölzernen Pfahl wuchs ein Grasbüschel, das verlockend weich wirkte. Er setzte sich und wartete auf Uru, die aussah, als könne sie in ihrer Langsamkeit noch tagelang weiterwandern.<br />
"Du siehst aus, als könntest du noch tagelang weiterwandern.", rief Olaf, als Uru sich näherte. "Ich jedoch brauche schon jetzt eine Pause."<br />
"Innehalten ist weise.", brummte Uru und knabberte verzückt an dem weichen Gras, auf dem Olaf hockte.<br />
"Mmmhh... Mwo mwillst du eigentlich hin?", fragte sie, einen Grashalm zerkauend. "Welches Ziel strebst du an?"<br />
"Ich ... äh ... weiß es nicht...", stotterte Olaf und wunderte sich. Darüber hatte er noch gar nicht nachgedacht. "Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht.", sagte er und versuchte nun verzweifelt, ein Ziel zu ersinnen.<br />
"Ohne Ziel ist eine Reise nur eine Flucht. Mit Ziel jedoch der Anbeginn von Neuem.", erklärte Uru und wandte sich einem Löwenzahnblatt zu, das sich ihr in grüner Köstlichkeit entgegenreckte.<br />
"Ich ... äh ... ich ..", antwortete Olaf unsicher.<br />
"Schau:", meinte Uru und hob den Kopf. "Über uns befindet sich ein Wegweiser. Welcher Weg gefällt dir am besten?"<br />
Olaf sah auf und erkannte, daß am oberen Ende des Holzpfahls, an den er sich lehnte, mehrere Tafeln angebracht worden waren. Er hüpfte ein paar Schritte zurück, um sie besser erkennen zu können: Es waren Pfeile, die in verschiedene Richtungen zeigte - und zu jedem Pfeil gehörten seltsame Zeichen.<br />
"Das ist ... Schrift!", wußte Olaf und versuchte zu entziffern, was auf den Tafeln geschrieben stand.<br />
"Und?", fragte Uru, die sich behäbigen Leibes zu ihm gesellt hatte. "Wohin willst du?"<br />
"Ich weiß es nicht.", stammelte Olaf. Seine Stimme war kaum lauter als ein Mäusepieps.<br />
Doch Uru hatte gute Ohren. "Du weißt es nicht?", wunderte sie sich.<br />
"Ich ... Ich kann nicht lesen.", gab der Kugelschreiber Olaf kleinlaut zu und wäre am liebsten vor Scham im Boden versunken. Doch der Boden war fest und steinern, und Uru antwortete mitfühlend: Du bist ein Kugelschreiber und kannst nicht lesen? Du Ärmster! Und kannst du denn schreiben?"<br />
Olaf schüttelte traurig mit dem Kopf. Eine schwarze Träne kullerte aus seinen Augen.<br />
"Uiuiui.", murmelte Uru, "Ein Kugelschreiber, der nicht weiß, was er schreibt..."<br />
<br />
Olaf wäre am liebsten weggelaufen. Schon wieder. Diesmal aber ohne die Schildkörte Uru. Allein. Irgendwohin. Egal, was die Pfeile dort oben am Ende des Pfahls bedeuteten. <br />
Doch er war noch immer ein wenig außer Puste und würde nicht weit kommen, ohne alsbald eine weitere Pause einlegen zu müssen. Außerdem war Uru die einzige Freundin, die er hatte...<br />
"Lauf nicht weg, Olaf.", unterbrach Uru seine Gedanken, als hätte sie erahnt, was in Olafs Kopf geschah. "Überall gibt es Schilder und Tafeln. Und jedesmal wirst du dich neu entscheiden müssen, wohin du gehst. Wäre es da nicht besser zu wissen. was auf den Schildern geschrieben steht?"<br />
Olaf nickte. Nur ein bißchen, denn er wollte nicht, daß sich eine weitere Träne aus seinen Augen löste.<br />
"Ich bringe dir Lesen und Schreiben bei.", sagte Uru mit einem Lächeln in der Stimme. "Es ist nicht einfach und wir ein paar Tage dauern. Doch du bist ein gescheites kerlchen und kannst das schaffen."<br />
Olaf blickte überrascht auf. Hatte er sich verhört?<br />
"Nein, hast du nicht.", sagte Uru, die tatsächlich Gedanken lesen konnte.<br />
<br />
Und so geschah, was sonst nur in Märchen geschieht: Olaf lernte lesen und schreiben und begriff hnun, was sein Besitzer in - mittlerweile lesbaren - Zeichen auf Zettelchen und Zettel notierte.<br />
"Er ist ein Poet.", staunte Olaf und erzählte der Schildkröte abends von den Gedichten und Geschichten, die er geschrieben und gelesen hatte. Und manchmal, wenn er einen besonders weisen Gedanken in sich spürte, lenkte er die Hand des Poeten in die richtigen Bahnen: <br />
<i>Das Ziel jeder Reise sei Wissen.</i>
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2007-04-10T20:06:00Z
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