Straight Edge und ich
Heute las ich zum
ersten Mal von
Straight Edge, einer seit den 80ern existierenden Bewegung, deren Hauptmerkmale auf dem Verzicht auf Alkohol, Zigaretten, Drogen und Promiskuität liegen. Vertreter dieses Lebensstils erweitern die Vorgaben zuweilen, leben vegetarisch oder vegan, verzichten auf Kaffee und Sex vor der Ehe. Und wäre Straight Edge nicht streng mit Hardcore Punk verflochten, mit einer musikalischen Richutng, die mir nur wenig zusagt, hätte ich mich dariun wiedererkannt. Ich hätte mich ohne Zögern als Straight Edger bezeichnen können - selbst wenn der von Spiegel Online beschriebene Hang zu großer Tattoo-Anzahl bei mir eher gering ausgeprägt ist.
Straight Edge bedeutet hautpsächlich Abstinenz, ein großes Nein Dingen gegenüber, die allgemein als spaßbringend angesehen werden - jedoch nicht der Verzicht Vergnügen selber.
Ich las, daß Straight Edger sich zuweilen für elitär halten oder von anderen argwöhnisch für ihre Lebenseinstellung beäugt werden, und wunderte mich.
Ich bin kein Straight Edger - wie auch, wenn ich zusätzlich zu den Straight-Edge-Neins noch das Nein zur Hardcore-Punk-Musik ergänze, wie auch, wenn ich doch erst heute von der Existenz dieser Bewegung erfuhr. Dennoch verzichte ich.
Ich trinke keinen Alkohol.
Seit mehr als zwei jahren habe ich keinen Tropfen Alkohol mehr getrunken. Doch dieser Schritt war ein winziger, da schon vorher mein Konsum alkoholischer Getränke auf ein Minimum beschränkt gewesen war - geschmacksbedingt. Im August 2004 setzte ich eine Zäsur, die keine echte war, und beschloß, was einzuhalten mir äußerst leicht fällt.
Doch im Gegensatz zu Aussagen von Texten, die ich heute las, im Gegensatz zu einem Artikel, den ich unlängst beim Blutspenden in irgendeiner Femininjugendzeitschrift überflog, werde ich deswegen nicht ungläubig beglotzt oder zu überzeugen versucht. Nein, Freunde und Bekannte, Nichtfreunde und Unbekannte akzeptieren meine Einstellung meistens sofort. Hin und wieder vernehme ich die interessierte Frage nach dem Warum, die ich beantworte, jedoch im Tonfall der Nebensächlichkeit, der darauf verweisen soll, daß es für mich nichts Bedeutsames ist, auf Alkohol zu verzichten - und daß es für andere ebensowenig bedeutsam sein sollte.
Ich will nicht missionieren. Wenn andere Vorwürfe in meinem Blick zu lesen glauben, dann ist es vielleicht ihr eigenes schlechtes Gewissen, das sich meldet. Ich entreiße niemandem die Bierflasche oder zähle die Folgen übermäßigen Alkoholkonsums auf, um Jünger für meine Antibewegung zu finden. Es fällt mir leicht, nicht mitzutrinken, und auch wenn ich bedaure, niemals Geschmack an Wein oder Bier gefunden und somit die Gemütlichkeit eines Gläschen Rotweins in geselliger Runde oder eines Feierabendbiers nie kennengelernt zu haben, so will ich doch anderen diese Gemütlichkeit nicht ausreden oder auf mich verweisen als extravagantes Vorbild.
Ich empfinde es als normal, was sich mache und freue mich, daß es die meisten, die ich kenne, ähnlich sehen.
Vielleicht werde ich sterben, ohne jemlas betrunken gewesen zu sein - doch es ist mir egal.
Ich rauche nicht.
Noch nie zog ich an einer Zigarette, und ich glaube, dem Alter, in dem man in Versuchung gerät anzufangen, entwachsen zu sein. Tatsächlich wurde ich niemals in Versuchung geführt; mein Interesse am Rauchen war stets minimal und äußerte sich allenfalls in dessen technischen oder biologischen Aspekten.
Auch hier verzichte ich auf Missionierung. Nicht zu rauchen, ist meine Entscheidung; jedem anderen sei eine eigene vorbehalten. Nicht selten vernehme ich von Rauchern, daß es die richtige Entscheidung gewesen war und wünsche mir für einen moment, ich hätte die richtigen Worte und Gesten parat, um sie auf der Stelle von ihrer Sucht zu befreien. Doch das habe ich nicht, und selbst wenn ich Zigarettenausdünstungen nur mit Mißfallen betrachten kann, werde ich doch nicht mein Nichtrauchen als einzig wahren Weg verkünden und jeden Rauchenden verteufeln.
Ich konsumiere keine Drogen.
Erstaunlicherweise war hier die Versuchung stets größer als beim Rauchen. Dennoch fiel es mir nicht schwer, standhaft zu bleiben, allein schon, weil ich selten in Situationen kam, in denen ich dankend ablehnen mußte. Ich selbst suchte nicht danach, wenngleich sich in meinem Schädel die Vorstellung eingebrannt hat, dadurch eine bedeutsame Erfahrung zu verpassen.
Vielleicht ist es der Gedanke, die Kontrolle über mich selbst zu verlieren, der mich zurückschrecken läßt.
Ich verzichte auf Kaffee.
Natürlich kann ich Kaffee trinken, ohne daß mich Übelkeit überkommt. Als Zivildienstleistender wurde ich fast täglich mit Kaffee zugeschüttet, einfach weil die Schwestern nichts anderes zubereiteten. Ich tötete den Kaffee solange mit übergroßen Mengen an Milch und Zucker, bis ich feststellte, daß eine Ärztin stets Tee trank - und ich somit keine Ausnahme mehr sein würde, wenn ich mich ihr anschloß.
Wird mir bei einem fremdfamiliären Kaffeekränzchen Kaffee angeboten, halte ich mich mit meinem Nein meistens zurück, will ich doch keine zusätzlichen Umstände bereiten. Glücklicherweise weiß meine Begleitung oft genug um meine Vorlieben und vermag ein kaffeevermeidendes Wort für mich einzulegen.
Zuweilen, also vielleicht zwei Mal jährlich, genehmige ich mir einen Milchkaffee, allerdings auch nur, weil dieser in einer Riesentasse serviert zu werden pflegt, und nicht, weil ich mal wieder aus meiner Kaffeeabstinenz auszubrechen wünsche.
Kaffee schmeckt mir nicht. Ich liebe seinen Geruch, sowohl in Pulver- oder Bohnenform als auch in gekochter; doch sein Geschmack vermag nicht, meine Sinne zu erfreuen. Ich lobe den Kakao, den ich ohne zu zögern an die Spitze der Liste meiner favorisierten Getränke setzen würde, gäbe es eine solche.
Ich verzichte auf Promiskuität, auf häufig wechselnde Geschlechtspartner. Unlängst bemerkte jemand, ich sei nicht der Mensch für einen One-Night-Stand. Vermutlich bin ich es tatsächlich nicht. Keineswegs neige ich dazu, Sex abzulehnen, mich dagegen zu verwehren, doch liegt mir wenig daran, ständig neue Frauen kennenzulernen, einzig und allein, um mit ihnen koital zu verkehren.
Vielleicht hat in meinem Denken der Mensch, also der denkende, real existierende, agierende Mensch, bestehend aus Geist
und Körper vorrangige Bedeutung und nicht nur dessen physischer Teil. Vielleicht bin ich auch zu sehr mit dem Glauben an Liebe, an deren Innigkeit und Tiefe verwachsen, um den Wunsch abstreifen zu können, Sex und Liebe miteinander kombinieren zu wollen, harmonieren zu lassen, so daß das eine das andere ergänzen möge.
All diese Verzichtserklärungen wirken in ihrer Gesamtheit möglicherweise erschütternd auf Fremde, fast so, als hätte ich mir selbst verboten, mich Genüssen hinzugeben, Freude zu empfinden, mich zu amüsieren, als wäre ich ein öder Langweiler, der auf Feierlichkeiten unbeachtet in einer Ecke darauf wartet, angesprochen zu werden.
Doch die Entscheidungen, auf dies oder jenes zu verzichten, wuchsen in mir, durchliefen einen Reifeprozeß, der möglicherweise noch nicht einmal abgeschlossen ist. Sie kamen nicht gleichzeitig in mir auf, sondern entstanden, allmählich, formten mich und das, was ich heute bin.
Sicherlich wünsche ich mir zuweilen, mit Alkohol meine Sprachlosigkeit unter Fremden zu reduzieren, unter Unbekannten nach Feuer zu fragen, um einen Kommunikationsaufhänger zu finden, Dinge zu erleben, die nur durch Bewußtseinserweiterung erfahrbar werden können, die vielen schönen Frauen nicht nur mit den Augen zu genießen oder es mir mit einer heißen Tasse Kaffee oder einem Schluck guten Rotweins gemütlich zu machen - und dennoch verzichte ich.
Doch im Gegensatz zu dem, was bei Straight Edge mitklingt, bin ich nicht stolz auf meine Lebenseinstellung, preise ich sie nicht an als Entrückung vom konsumgesteuerten Jetztsein, als selbstsuchende Andersartigkeit. Nein, ich bin, wie ich bin. Es bedurfte keiner krassen Entscheidungen, keiner Schwüre, um mich agieren zu lassen, wie ich agiere.
Denn für mich bedeutet das Verzichten keinen Verzicht. Ich enthalte mich keiner Dinge, die ich nicht entbehren kann, ich verzichte auf nichts, das in meiner Welt einen hohen Stellenwert einnimmt.
Ich verzichte auf nichts, das ich für wirklich bedeutsam erachte.