Das Brillengeheimnis
Musikfestivals bringen es für gewöhnlich mit sich, daß nicht nur die hygienischen Grundbedürfnisse leiden müssen, sondern auch die eigene, äußere Ästhetik. In einer Gruppe hunderter, tausender Leute, die allesamt mit mehrtägiger Duschwasserknappheit und Spiegelabwesenheit bepflastert sind, bildet man jedoch derart keine Ausnahme, darf sich also ungepflegt, unrasiert, ungeschminkt, ungekämmt und mit verdreckten Klamotten noch immer wohl und als Teil der Gesellschaft fühlen.
Sicherlich gibt es jene, die sich bemühen, die wenigen zur Verfügung stehenden Dusch- und Waschmöglichkeiten nach bester Verfügbarkeit zu prüfen und dementsprechend zu nutzen; sicherlich gibt es auch - insbesondere auf gothisch angehauchten Veranstaltungen - zahlreiche Spiegelmitnehmer, Frisurherrichter und Schminkköfferchen-Nutzer, doch gehöre ich nicht wirklich zu ihnen, versuche, bei Festivals aufwandsminimal gut auszusehen. Das fällt nicht weiter schwer, sorgt doch schon ein täglicher Wäschewechsel in Kombination mit einem nicht vernachlässigbaren Waschbeckenminimalkontakt für annehmbares Eigen- und Fremdwohlbefinden.
Was jedoch in Abwesenheit von fließendem, Hände reinigendem Wasser und selbstbildreflektierenden Oberflächen zur Schwierigkeit ausartet, ist der Versuch, normalerweise durch Gläser beseitigte Blindheit mittels Kontaktlinsen auszugleichen, also die Brille durch unsichtbare Plastikscheibchen zu ersetzen. Tatsächlich bin ich mir, Handspiegelmitnahme und eigentlich unnötige, da nur äußerlich bemerkbare Mühen vermeidend, dazu übergegangen, auf Festivals meine durchaus liebgewonnene Brille auf meiner Nase belassen zu wollen und die Existenz von Kontaktlinsen weitestgehend zu ignorieren.
Das ist insofern von Vorteil, als daß ich dadurch mich mehr wie ich selbst fühle und auch keine Rücksicht auf verstrichene Stundenfristen, nach denen die Augeneinsätze zu entfernen sind, oder auf deren möglichen Verlust durch müdigkeitsbedingtes Augenreiben nehmen muß. Mit der Brille auf der Nase besuche ich also Konzert für Konzert, lausche beglückt, begeistert oder desinteressiert den von der Bühne erschallenden Klängen und freue mich über die gute Sicht, die mir mein Sehfehlerkompensator [den ich niemals als "Nasenfahrrad" bezeichnen würde] ermöglicht.
Und dann vernehme ich Gitarren, laut und heftig, zu heftigstem Haareschütteln, zu zwanglosem Ausrasten verleitend. My Dying Bride befüllen die Bühne und werten das Wave-Gotik-Treffen für mich merklich auf. Die Gitarre ruckt und zuckt und mit ihr, im Takt, mein Fuß, mein Leib, mein Haupt.
Doch wohin, frage ich mich nicht zum ersten Mal, mit der Brille, wohin mit dem albernem, lästigen Drahtgestell? Meine Taschen sind zu klein, zu eng, als daß ich nicht befürchten müßte, die in ihnen verwahrte Brille bei der nächsten Bewegung deformierenden Drücken auszusetzen und so nachhaltige, plastische Schäden zu erwirken.
Aber der Schädel will geschüttelt werden, weigert sich, zu derart mitreißenden Klängen starr in der Luft zu verharren. Schon beginnt ein neuer Song, ein Wahnsinnstück vom aktuellen Album, das ich längst zu meiner derzeitigen Lieblingskomposition dieser Band deklariert hatte. 'So soll es sein', rüttle ich mich auf, reiße mir die Brille aus dem Gesicht, falte deren Bügel zusammen, halte sie fest, doch nicht zu sehr, in meiner Hand, schützend vor Äußerem, das zum Sehen Notwendige stetig befühlend, mit Eigenschweiß verschmutzend, doch nahe wissend, unversehrt.
'Ja!', kreischen meine Gedanken freudig erregt, kennen den Text, legen ihn mir auf die Lippen, während sich mein Kopf schon eingeschwungen hat zum fordernden Takt der metallischen Klänge. Meine Haare schweben an mir vorbei, rechts, links, rechts, links, die Musik dröhnt in meinen Ohren, und euphorisch widme ich mich meinen Bewegungen, lege alle Wucht, alle Kraft hinein, die ich zu geben bereit bin, lasse mich fallen, lasse mich los, vergesse alles, die Menschen um mich herum, die Enge inmitten der Masse, die Unfähigkeit, ohne Brille die Bühne zu erkennen, treibe zuckend hinfort, löse mich auf in der hämmernden Gitarrenwucht.
Das Lied klingt aus, und ich sehe auf, platziere die Brille wieder in meinem Gesicht, um erkennen zu können, was vorn geschieht, dort, wo meine Helden des Augenblicks ihre Instrumente [und auch die Stimme des Sängers zähle ich als ein solches] zu Besserem, lautrerem, Schönerem, Bewegenderem treiben. Der Sänger umkrallt das Mikrophon, flüstert einige Zeilen in die gespannte Stille des Publikums, schließt die Augen, läßt sich gehen. Und dann setzen die Gitarren wieder ein, der Baß gesellt sich dazu, vom Schlagzeug nach vorn gejagt. Die Stimme wird zum Gekreisch, preßt sich wütend, schmerzvoll durch den Äther findet mich, der längst schon wieder die Brille abnahm und sich den Takten hingibt.
Neben mir bewegt sich ein Mädel, schüttelt ebenso wie ich ihr Haupthaar, läßt sich gefallen, was auch mir gefällt. Ich kann sie kaum erkennen, meine eigene Blindheit versperrt mir die Sicht, lähmt meine Augen, doch schürt die Neugier, läßt mich aufrichten, hinüberblicken, die Brille auf die Nase kleben, wie ein Ertrinkender, den es nach festen Formen, klaren Konturen, dürstet. Ich sehe sie an und lächle, denn mir gefällt, was ich sehe, wie sich ihr langes Haar im Takt verliert, wie geschmeidig sich ihr Leib im Einklang mit den dröhnenden Klängen bewegt.
Als auch sie sich aufrichtet, lächle ich weiter, denn plötzlich zaubert sie eine Brille hervor, setzt sie vorsichtig in ihr Antlitz, lächelt mir zurück, als hätten wir uns gefunden unter all jenen, die diese kleine Sorge nicht teilen, als wüßten nur wir, was es bedeutet, zwischen Stillstand und Blindheit entscheiden zu müssen, als formte das gemeinsame Geheimnis ein glitzerndes Band, das zaghaft in den schwermütigen Klängen zu wehen beginnt.
Das Lächeln nicht loslassend raube ich mir die Sicht, senke meinen Kopf erneut, um My Dying Bride mit wehendem Haar zu begegnen, um mich darin zu verlieben, wie das eigene Haar wirre, taktgeformte Zeichen in die klangschwere Luft malt.
Und wieder und wieder halte ich inne, um verstohlen zu ihr hinüberzusehen, um mich des Bandes zu vergewissern, das zwischen uns bebte, um sie die Brille ab- und aufsetzen zu sehen, sie in ihrer Hingabe zu beobachten, ihr zuzulächeln, als bedürfe es keiner Worte. Sie lächelt zurück, sobald sie mich sieht, steigert den musikalischen Genuß mit der ungesagten Verlockung greifbaren Möglichkeiten.
Al die letzten Takte verstummen, die Musiker nach wiederholten Zugaben die Bühne verlassen, als die wuchtgeschwängerte Publikumseuphorie sich in ein blindes Wuseln verwandelt, jeder einen Weg, einen Freund, ein Gesicht oder nur einen Platz zum Sitzen sucht, schenke ich mir das Sehen zurück, bleibe stehen, als könnte ich die Zeit anhalten, und blicke zu ihr.
'Was nun?', frage ich, doch zwei Mädel entreißen mir eine Antwort, finden ihre Freundin, die bis eben anmutig ihre Haare wirbeln ließ, reißen sie mit sich in die Menge. Die Brille wieder im Gesicht wissend dreht sie sich noch einmal um, sieht zurück, schenkt mir einen letzten Blick, bevor sie von den schwarzgewandeten Massen verschluckt wird.
Ich bleibe zurück, lausche dem Nachhall des Erlebten in meinen Ohren, finde das Lächeln auf meinem Gesicht und vermag nicht zwischen Wonne und Bedauern zu entscheiden.
Sicherlich gibt es jene, die sich bemühen, die wenigen zur Verfügung stehenden Dusch- und Waschmöglichkeiten nach bester Verfügbarkeit zu prüfen und dementsprechend zu nutzen; sicherlich gibt es auch - insbesondere auf gothisch angehauchten Veranstaltungen - zahlreiche Spiegelmitnehmer, Frisurherrichter und Schminkköfferchen-Nutzer, doch gehöre ich nicht wirklich zu ihnen, versuche, bei Festivals aufwandsminimal gut auszusehen. Das fällt nicht weiter schwer, sorgt doch schon ein täglicher Wäschewechsel in Kombination mit einem nicht vernachlässigbaren Waschbeckenminimalkontakt für annehmbares Eigen- und Fremdwohlbefinden.
Was jedoch in Abwesenheit von fließendem, Hände reinigendem Wasser und selbstbildreflektierenden Oberflächen zur Schwierigkeit ausartet, ist der Versuch, normalerweise durch Gläser beseitigte Blindheit mittels Kontaktlinsen auszugleichen, also die Brille durch unsichtbare Plastikscheibchen zu ersetzen. Tatsächlich bin ich mir, Handspiegelmitnahme und eigentlich unnötige, da nur äußerlich bemerkbare Mühen vermeidend, dazu übergegangen, auf Festivals meine durchaus liebgewonnene Brille auf meiner Nase belassen zu wollen und die Existenz von Kontaktlinsen weitestgehend zu ignorieren.
Das ist insofern von Vorteil, als daß ich dadurch mich mehr wie ich selbst fühle und auch keine Rücksicht auf verstrichene Stundenfristen, nach denen die Augeneinsätze zu entfernen sind, oder auf deren möglichen Verlust durch müdigkeitsbedingtes Augenreiben nehmen muß. Mit der Brille auf der Nase besuche ich also Konzert für Konzert, lausche beglückt, begeistert oder desinteressiert den von der Bühne erschallenden Klängen und freue mich über die gute Sicht, die mir mein Sehfehlerkompensator [den ich niemals als "Nasenfahrrad" bezeichnen würde] ermöglicht.
Und dann vernehme ich Gitarren, laut und heftig, zu heftigstem Haareschütteln, zu zwanglosem Ausrasten verleitend. My Dying Bride befüllen die Bühne und werten das Wave-Gotik-Treffen für mich merklich auf. Die Gitarre ruckt und zuckt und mit ihr, im Takt, mein Fuß, mein Leib, mein Haupt.
Doch wohin, frage ich mich nicht zum ersten Mal, mit der Brille, wohin mit dem albernem, lästigen Drahtgestell? Meine Taschen sind zu klein, zu eng, als daß ich nicht befürchten müßte, die in ihnen verwahrte Brille bei der nächsten Bewegung deformierenden Drücken auszusetzen und so nachhaltige, plastische Schäden zu erwirken.
Aber der Schädel will geschüttelt werden, weigert sich, zu derart mitreißenden Klängen starr in der Luft zu verharren. Schon beginnt ein neuer Song, ein Wahnsinnstück vom aktuellen Album, das ich längst zu meiner derzeitigen Lieblingskomposition dieser Band deklariert hatte. 'So soll es sein', rüttle ich mich auf, reiße mir die Brille aus dem Gesicht, falte deren Bügel zusammen, halte sie fest, doch nicht zu sehr, in meiner Hand, schützend vor Äußerem, das zum Sehen Notwendige stetig befühlend, mit Eigenschweiß verschmutzend, doch nahe wissend, unversehrt.
'Ja!', kreischen meine Gedanken freudig erregt, kennen den Text, legen ihn mir auf die Lippen, während sich mein Kopf schon eingeschwungen hat zum fordernden Takt der metallischen Klänge. Meine Haare schweben an mir vorbei, rechts, links, rechts, links, die Musik dröhnt in meinen Ohren, und euphorisch widme ich mich meinen Bewegungen, lege alle Wucht, alle Kraft hinein, die ich zu geben bereit bin, lasse mich fallen, lasse mich los, vergesse alles, die Menschen um mich herum, die Enge inmitten der Masse, die Unfähigkeit, ohne Brille die Bühne zu erkennen, treibe zuckend hinfort, löse mich auf in der hämmernden Gitarrenwucht.
Das Lied klingt aus, und ich sehe auf, platziere die Brille wieder in meinem Gesicht, um erkennen zu können, was vorn geschieht, dort, wo meine Helden des Augenblicks ihre Instrumente [und auch die Stimme des Sängers zähle ich als ein solches] zu Besserem, lautrerem, Schönerem, Bewegenderem treiben. Der Sänger umkrallt das Mikrophon, flüstert einige Zeilen in die gespannte Stille des Publikums, schließt die Augen, läßt sich gehen. Und dann setzen die Gitarren wieder ein, der Baß gesellt sich dazu, vom Schlagzeug nach vorn gejagt. Die Stimme wird zum Gekreisch, preßt sich wütend, schmerzvoll durch den Äther findet mich, der längst schon wieder die Brille abnahm und sich den Takten hingibt.
Neben mir bewegt sich ein Mädel, schüttelt ebenso wie ich ihr Haupthaar, läßt sich gefallen, was auch mir gefällt. Ich kann sie kaum erkennen, meine eigene Blindheit versperrt mir die Sicht, lähmt meine Augen, doch schürt die Neugier, läßt mich aufrichten, hinüberblicken, die Brille auf die Nase kleben, wie ein Ertrinkender, den es nach festen Formen, klaren Konturen, dürstet. Ich sehe sie an und lächle, denn mir gefällt, was ich sehe, wie sich ihr langes Haar im Takt verliert, wie geschmeidig sich ihr Leib im Einklang mit den dröhnenden Klängen bewegt.
Als auch sie sich aufrichtet, lächle ich weiter, denn plötzlich zaubert sie eine Brille hervor, setzt sie vorsichtig in ihr Antlitz, lächelt mir zurück, als hätten wir uns gefunden unter all jenen, die diese kleine Sorge nicht teilen, als wüßten nur wir, was es bedeutet, zwischen Stillstand und Blindheit entscheiden zu müssen, als formte das gemeinsame Geheimnis ein glitzerndes Band, das zaghaft in den schwermütigen Klängen zu wehen beginnt.
Das Lächeln nicht loslassend raube ich mir die Sicht, senke meinen Kopf erneut, um My Dying Bride mit wehendem Haar zu begegnen, um mich darin zu verlieben, wie das eigene Haar wirre, taktgeformte Zeichen in die klangschwere Luft malt.
Und wieder und wieder halte ich inne, um verstohlen zu ihr hinüberzusehen, um mich des Bandes zu vergewissern, das zwischen uns bebte, um sie die Brille ab- und aufsetzen zu sehen, sie in ihrer Hingabe zu beobachten, ihr zuzulächeln, als bedürfe es keiner Worte. Sie lächelt zurück, sobald sie mich sieht, steigert den musikalischen Genuß mit der ungesagten Verlockung greifbaren Möglichkeiten.
Al die letzten Takte verstummen, die Musiker nach wiederholten Zugaben die Bühne verlassen, als die wuchtgeschwängerte Publikumseuphorie sich in ein blindes Wuseln verwandelt, jeder einen Weg, einen Freund, ein Gesicht oder nur einen Platz zum Sitzen sucht, schenke ich mir das Sehen zurück, bleibe stehen, als könnte ich die Zeit anhalten, und blicke zu ihr.
'Was nun?', frage ich, doch zwei Mädel entreißen mir eine Antwort, finden ihre Freundin, die bis eben anmutig ihre Haare wirbeln ließ, reißen sie mit sich in die Menge. Die Brille wieder im Gesicht wissend dreht sie sich noch einmal um, sieht zurück, schenkt mir einen letzten Blick, bevor sie von den schwarzgewandeten Massen verschluckt wird.
Ich bleibe zurück, lausche dem Nachhall des Erlebten in meinen Ohren, finde das Lächeln auf meinem Gesicht und vermag nicht zwischen Wonne und Bedauern zu entscheiden.
[Im Hintergrund: My Dying Bride - "Like Gods of the Sun"]
morast - 5. Okt, 19:09 - Rubrik: Wortwelten
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