Mittwoch, 5. Juli 2006

Aktionismus

Die bedrückende Überlegung, zu einem Klischee mutiert zu sein, Zusehen-und-Meckern anstelle notwendigen Aktionismus', läßt in mir die Frage reifen, ob es notwendig ist, Dingen, die mir miß- oder auffallen, in Richtung Besserung nachzuhelfen, wenn sich trotz mehrmaliger Versuche anderer keine solche einstellt, und ob ich mich bei Nichttat hinter einer regionalen Zuständigkeitsmauer ["Darum brauch ich mich nicht kümmern. Gehört ja nicht mir. Irgendwer wird schon zuständig sein."] verstecke, um aus meinem Schlupfwinkel heraus zusätzliche Beobachtungen durchzuführen und weiterhin Kritikworte zu formulieren. Die Alternative, ungehemmte Tat allen offensichtlich-fadenscheinigen Widrigkeiten zum Trotz, lockt natürlich nicht; Arbeit steckt in ihr und die Gefahr, beim Einrennen der Zuständigkeitsmauer irgendjemandem Mauersteine vor dessen Revierdenken zu schleudern und entsprechenden Unmut zu erwirken. Und dann die allseits beliebte "Ich kann mich doch nicht um alles kümmern."-Formulierung auf dein eigenen Lippen zu finden und sich zu fragen, ob sie nicht auch auf den Lippen anderer, bisher mit Mißtrauen Betrachteter Klischeeverkörperer liegt. Die Alternative zwischen Tun und Nichtstun liegt eindeutig im Nichtstun, denn die Überlegung, welche Aktivität wohl die geeignete sei, führt zur Inaktivität, hinter der zu verstecken sich lohnt. Vermutlich sollte ich, um künftiger Untätigkeitskritik aus dem Weg zu gehen, meine amüsierten Beobachtungsbeschreibungen einstellen und die Augen verschließen vor dem, was niemand sehen will. Und wieder ein Klischee: Anstatt mehr Energie in Analysen als in Maßnahmen zu stopfen einer gesunden Portion Nichtsehen zu frönen, in trauter Zweisamkeit mit der Zuständigkeitsmauer. Vielleicht jedoch ist es notwendig, eben jene Mauer einzurennen, den ersten Stein und weitere zu werfen, auf daß ansteckender Aktionismus die Welt befülle und statt blinder Ignoranz oder lästerndem Gejammer die Umgebungsungutheiten bereinigt werden mögen. Als gutes Beispiel voranzueilen, um durch sichtbare Tat einem positiven Schneeballeffekt zu frönen und zuschauen zu dürfen, wie die Welle des Gutmenschentum die Vorgärten und Kleinkriegsschauplätze überrollt und eine Art Minimalparadies auf Erden kreiert. Doch gute Vorbilder ziehen selten Nachahmer mit sich. Einzig Bewunderer werden kreiert - und jene, die auch im Gutmensch-Sein Negativkritikpotential finden und sich meckernd hinter ihrer persönlichen Zuständigkeitsmauer verbergen. Aktionismus erwartet Belohnung; allein die Tat ist nicht Ruhm genug. Denn allein die Tat gebärt Fragen nach dem Warum [nicht zuletzt betreffend die Zerstörung der eigenen Zuständigkeitsmauer] und die kommende Verantwortung, die Tat wiederholen zu müssen, die eigenen Schultern mit künftiger Verantwortung beladen zu haben, die einst irgendwem anders gehörte. Mit der Last des Müssens bestückt jedoch fehlt dem Aktionismus jeder Reiz; Normalität, nein: Pflicht, wird, was vorher freiwillige Anteilnahme war, bis die Last zur Totalträgheit mutiert und jede Tat blockiert. Das eigene Gutmenschtum schweigt, weil es nach dem Wandel zur Normalität längst keines mehr ist, und schaut desinteressiert zu, wenn der unfreiwillig auferlegten Pflicht alsbald nur unzureichend nachgegangen wird und letztlich das verkümmert, was eigentlich gerettet werden sollte. Doch an der nächsten Ecke wartet schon der nächste Enthusiast darauf, die eigene Zuständigkeitsmauer einzurennen und das Verkümmernde zu bewahren, Aktionismus zu verbreiten und mit der eigenen Gutmenschaktivität den gängigen Klischees zu entfliehen und allen anderen ein leuchtendes, initiierendes Vorbild zu sein...

[Es lebe die Kryptik.]
[Im Hintergrund: Die Apokalyptischen Reiter]

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NBerlin - 5. Jul, 12:48

Es lebe die Kryptik, habe aktuell ähnliche Gedanken....

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