Freitag, 29. September 2006

Die Blinden und die Sitze sind schuld!

Erfrischende Glattheit reckte sich glänzend meiner Hand entgegen, als ich die Kastanie aufhob. Doch nun sitze ich auf dem Bahnhof, die Herbstfrucht in der Hosentasche verstaut, wartend, während meine Banknachbarin dem alten Gesetz der Nichtraucherei frönt: Raucherqualm sucht sich stets zu belästigende Nichtraucheropfer.

Ich steige in den ankommenden Zug ein und entsinne mich, dass ich einst wusste, welche die Fahrtrichtung die richtige war. Vermutlich sitze ich falschherum, doch die Bedeutung des In-Fahrtrichtung-Sitzens wird ohnehin als zu immens gewertet. Denn sowohl als Nach-Vorne- als auch als Nach-Hinten-Blickender werde ich im Laufe der Fahrt das gleiche, ja: dasselbe, zu Gesicht bekommen. Die dazwischenliegende, minimale Verzögerung ist angesichts endlos langweiliger Außenlandschaften und deren einschläfernder Monotonie unbedeutend.

Noch nie hörte ich von einem, der ein außerzugliches Ereignis aufgrund seiner Sitzposition vor anderen entdeckte und durch einen rasch abgesonderten Warnlaut alle anwesenden Nach-Hinten-Blicker vor deren Tod bewahrte. Allerdings muß ich eingestehen, bisher auch noch nicht allzu vielen Zugunglückserfahrern gelauscht zu haben. Eigentlich keinem. Es besteht also Grund zur Freude, dass niemandem aus meinem Umfeld bisher ein Zugunglück zustieß. Hurra. Ich freue.

Eigentlich freue ich mich, weil freuen ein transitives Verb ist, also stets eines Akkusativobjektes bedarf und keineswegs allein im Raum bzw Satz stehen sollte. Doch ich wollte es der Bibliotheksfahrstuhlstimme nachmachen, welche wieder und wieder die Fahrstuhletagen und dieselben zwei Sätze zu wiederholen hat: "Tür schließt." und "Tür öffnet."

"Tür schließt." ist zwar ein kurzer, aber dennoch unzweifelhaft richtiger Satz, "Tür öffnet." dagegen klingt und ist schlichtweg falsch. Für ein lächerliches "sich" hätte das Tonband sicherlich auch noch Platz gehabt. Ich weiß, dass in modernen Fahrstühlen die Stimmen keineswegs "von Band" kommen, sondern in digitaler Form an die Lautsprecher übergeben werden, doch ist es ohnehin schlimm genug, dass von Studenten genutzte Fahrstühle mit Stimmen bestückt werden müssen, die nicht nur die jeweilige Fahrstuhletage verkünden, sondern auch noch über die Zustand der Fahrstuhltüren informieren. Studenten nämlich freuen sich über ein wenig akustische Hilfeleistung, wenn sie mal wieder ratlos im Aufzug stehen und nicht wissen, auf welcher Etage sich dieser befindet oder ob die Tür sich gerade öffnet oder schließt.

Allerdings wird mir gerade bewusst, dass Studenten nicht nur schlau genug sein könnten, um den leuchtenden Etagentasten die jeweilige Fahrstuhletage entnehmen zu können, ohne dass sie durch eine grammatikalisch inkorrekt sprechende Stimme darauf hingewiesen werden müssen, sondern dass einzelne Exemplare womöglich über eine weitere Eigenschaft verfügen, die jede Stimmmaßnahme – abgesehen von der inkorrekten Grammatik – rechtfertigt: Sie sind blind. Natürlich ist Otto Normalstudent [um mal einen wahrlich unschönen Begriff deutsche Alltagssprache zu missbrauchen] nicht blind, doch es gibt Ausnahmen und wäre äußerst unnett, des Sehens nicht Mächtigen die Informationen über die derzeitige Fahrstuhletage vorzuenthalten. So grausam bin ich nicht, lungere ich doch, was die Stärke bzw Schwäche meiner Augen betrifft, doch selbst in bemitleidenswerter Nähe zur Hund-Stock-Dreipunktarmbinde-Fraktion herum.

Andererseits sind die Blinden, wenn die schreckliche Fahrstuhlstimme nur für sie installiert wurde, eindeutig die Schuldigen, auf die sich mein anklagender Finger richtet, wenn ich mich mal wieder über das fehlende "Tür öffnet."-sich beschweren möchte. Ich werde durch die Stadt laufen, auf jeden einzelnen Blinden mit meinem Zeigefinger deuten [was sicherlich wenig nützt, angesichts ihrer Sehschwäche] und lauthals die von Trübsal und Verzweiflung triefenden Worte proklamieren: "Die Blinden sind schuld! Die Blinden sind schuld!"

Allerdings sollte ich bedenken, dass die Blinden vermutlich mit mir leiden, nicht auf der Straße, den anklagenden Worten lauschend, sondern im Fahrstuhl stehend, das ungute Falschdeutsch vernehmend. Blinde sind schließlich nicht dafür bekannt, sich hundsgemein gegen korrekte Spache verschworen zu haben. Nein, vielmehr werden sie genauso sehr auf das fehlende "sich" erpicht sein wie ich, weil sie zwar nicht mit den Augen, aber doch mit den Händen lesen können und somit vermutlich ein gutes Stück Literatur ebenso zu schätzen wissen wie einen grammatikalisch richtigen Aussagesatz. Vielleicht werden wir uns, sobald die Fahrstuhlstimme wieder ihr unsägliches Deutschimitat von sich gegeben haben wird, an den Händen fassen und gemeinsam weinen. "Blinde können zwar nicht sehen, aber weinen." werden die in der Bibliothek herumstromernden Studierenden staunen und hilfsbereit blütenweiße Taschentücher zücken und uns die salzigen Perlen [<= standardisiertes Tränensynonym] aus dem Antlitz wischen.

Ups, da ist mir doch in den vorangegangenen Satz ein Wort hineingeschlüpft, dessen es im allgemeinen und auch in meinem persönlichen Sprachwortschatz nicht bedarf: "Studierende". Studierende sind Studenten. Bloß weil man der konsequenten Femininisierung aller Worte in Form eines Wortmitten-Is überdrüssig ist und auf "StudentInnen" verzichten möchte, herrscht nicht automatisch Bedarf nach einem geschlechtsneutralen substantivierten Partizip.

"Es gibt aber Studenten, die den ganzen Tag lang in der Gegend rumgammeln und ihr Bafög versaufen, somit also gar nicht studieren! Und es gibt welche, die fleißig jede Vorlesung besuchen und tonnenschwere Bücher wälzen, als studieren. Da muß man doch differenzieren!", mischt sich ein Kritisierender … äh … Kritiker ein. "Letztere Gruppe sind die Studierenden, die eindeutig geringer an Zahl sind als Studenten, weil sich ja jeder ein Student ist, der einen entsprechenden Ausweis besitzt, aber nicht jeder von denen wirklich studiert."

Jaja!, entgegne ich äußerst unwirsch. Aber bloß weil ein Bauarbeiter mal biertrinkend und Bildzeitung betrachtend in der unverputzten Ecke sitzt, muß man doch nicht gleich zwischen Bauarbeitern und Bauarbeitenden unterscheiden. Außerdem ist das etymologisch betrachtet …
"Was?!", unterbricht mich der Kritiker, der Fremdwörter nicht zu mögen scheint. Ich verbessere mich:
Wenn man sich die Sprachgeschichte des Wortes "Student" betrachtet, stellt man schnell fest, dass der Wortstamm im lateinischen "studere" beheimatet ist.
"Stimmt.", meint der Kritiker, der mich diesmal verstanden hat. "Das sagte mein Professor auch immer: 'Student kommt von studieren – sich bemühen.'"

Eben., antworte ich. Das Partizip Perfekt Aktiv, also das deutsche Partizip I, also "sich bemühend", lautet im Lateinischen "studens"; im Genitiv, also im zweiten Fall, im Wes-Fall, "studentis". Dort sieht man ihn schon, den Wortstamm, der für unsere Betrachtung von Bedeutung ist und zu unserem "Student" führen wird. Er steckt im Partizip "sich bemühend". Ein Student ist also ein Sich-Bemühender.
Will man aber aus dem Studenten einen Studierenden formen, so muß man ihn entweder zum Sich-Bemühen animieren oder erneut das Partizip bilden, diesmal jedoch in der deutschen, nicht in der lateinischen Sprache; um genau zu sein: von "studieren", nicht von "studere".

Dennoch ist das Ergebnis dasselbe: Ein "Student" ist ebenso wie ein "Studierender" nichts weiter als ein substantiviertes Partizip, abgeleitet vom lateinischen Wort für "sich bemühen". Wozu muß man also "Student" ersetzen, wenn der Ersatz, "Studierender", nicht nur das Gleiche bedeutet, sondern auch länger und umständlicher ist?

Der Kritiker schweigt. Mein Vortag langweilte ihn wohl. Jaja, diese Kritiker: political correctness duldet zwar Pingelichkeiten, doch keine Berichtigungen. Ich jedoch sage: "Wenn pingelig, dann richtig!" und ergänze: "Wenn Fahrstuhlstimme, dann grammatikalisch korrekt!" Der Schaffner betritt das Abteil und meint: "Wenn Zugfahren, dann ohne Schuhe auf den Sitzen!"

Er hat recht. Beschämt stelle ich meine beschuhten Füße auf den Boden und reiche ihm meine Fahrkarte. Für einen Moment sehne ich mich danach, dass er diese nicht mit einem uninteressanten Datumsstempel, sondern mit einem gestanzten Loch versieht, so wie es einst üblich war. Ein Loch stünde meiner automatenbedruckten Bahnfahrkarte sicherlich prima. Doch er stempelt und verlässt das Abteil, ohne zurückzuschauen und zu bemerken, dass meine Schuhe schon wieder klammheimlich die kostbaren Zweite-Klasse-Sitze in Beschlag nahmen.

Böse Schuhe!, tadle ich matt, doch für heute habe ich schon genug Tadel verteilt. Außerdem sind es nicht meine Schuhe, sondern die ungünstig geformten Sitze, die Schuld daran tragen, dass ich mich genötigt fühle, meinem Leib in eine bequemere Verweil-Position zu suchen – welche die verbotene Schuhablage mit einschließt. Gerne würde ich aufstehen und durch den Zug laufen, meinen anklagenden Zeigefinger auf jeden einzelnen der unförmigen Sitze richtend, und rufen: "Die Sitze sind schuld! Die Sitze sind schuld!"

Doch in Anbetracht eines Zuges voller Sitzmöglichkeiten – selbst die Sitzmöglichkeiten der ersten Klasse erwirken die Schuh-auf-Sitz-Bewegung – und somit anstehender, aufwendiger Dauerbeschuldigung schweige ich lieber, lege mein Notizbuch weg und erfreue mich der beruhigenden, glänzenden Glattheit der vorhin aufgelesenen Kastanie.

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