Freitag, 27. Juli 2007

Taschentücher

Fremden Kindern gegenüber bin ich vorsichtig. Es sind ja nicht meine, und falls sie sich in meiner Gegenwart auch ungut verhalten sollten, werde ich - außer in Extremfällen - nicht derjenige sein, der mit Disziplinarmaßnahmen droht, um sie und ihr Verhalten in die richtigen Bahnen zu lenken.

Als ich unlängst mit der Straßenbahn fuhr, setzte ich mich in die vorletzte Reihe. Mir gegenüber hatten sich zwei Damen platziert, eine etwa Vierzigjährige und eine, die sich am Ende der Zwanziger befand und vermutlich zu den Studierenden zu zählen war. Hinter mir ließen sich zwei Jungen nieder, vielleicht elf, zwölf Jahre alt [Ich war noch nie ein Meister darin, das Alter von Personen zu schätzen.]. Sie blätterten in Zeitschriften, in Autozeitschriften, soweit ich das während eines flüchtig nach hinten schweifenden Blickes erkennen konnte. Ich las in einem angenehm-spannenden Buch, doch gelang es mir nur schwer, mich zu konzentrieren -- die Kinder waren zu laut, und ihre mit "Alter" und "Ey" gespickte Sprache widerten mich an.
Die beiden Jungen versuchten mit jedem Wort, einander zu übertreffen. Fand der eine ein interessantes Zeitschriftenfahrzeug, das er mit begeisterten Attributen bestückte, so entdeckte der andere ein vermeintlich besseres, das dem Kindermund noch extremeres Vokabular zur Umschreibung und Faszinationsbekundung entlockte.

Der beleibtere der beiden hielt sich für besonders krass und zog alle zehn oder zwanzig Sekunden das Innere seines Riechorgans hoch. Das Ergebnis war ein rotziges, unangenehmes Geräusch, das nicht unbedingt dazu beitrug, mich meinem Lesevergnügen frönen zu lassen. Die Jungen diskutieren, protzten - und der Dicke zog immerfort Schleim die Nase hinauf, so intensiv, so begeistert, dass ich glaubte, ihm müsste bald der Schädel platzen vor angesammeltem Nasenunrat. Zumindest jedoch - darauf wartete ich voller Vorekel ["Vorfreude" war es bestimmt nicht ...] - würde er alsbald all das Hochgezogene in seiner Mundhöhle sammeln und es irgendwo spuckenderweise in die Straßenbahn schleudern. Doch er tat nichts dergleichen; er blätterte weiter in seiner Zeitschrift, redete Unsinn und schniefte, als gäbe es nichts Intelligenteres.

Ich senkte meinen Blick und las. Ich versuchte, mich an den Buchstaben, an den Wörtern, festzukrallen, doch es gelang nicht; der Sinn der Zeilen entwich immer wieder; ich konnte mich nicht konzentrieren. Behend griff ich in meine Rucksacktasche, wo ich eine Packung Zellstofftaschentücher vermutete, zog diese heraus und reichte sie - ohne auch nur ein Wort zu sagen - über meine Schulter nach hinten. Der dicke Junge sah mich an, schwieg kurz, dachte offensichtlich nach, wartete vielleicht auf einen Kommentar meinerseits, der jedoch nicht kam, betrachtete die Taschentücher in meiner Hand - und schüttelte dann den kopf. "Nein, danke.", meinte er, "Ich habe selber welche."

Ich sagte ihm nicht, dass ich ihm nicht glaubte, sagte ihm nicht, dass er sie doch benutzen könne, sagte ihm nicht, dass er und sein Getue mich störten, sondern zog meine Hand zurück und verstaute die Taschentuchpackung dort, wo ich sie hergeholt hatte. Die Studentin lächelte mir anerkennend zu, die andere Frau verzog keine Miene. Doch hinter mir kehrte Ruhe ein, keine absolute Ruhe, kein Schweigen, doch ein Gespräch, das sich normalisiert hatte - und frei war von widerlichem Nasenschleim.

Als ich gestern die Straßenbahn nutzte, stiegen plötzlich zwei Mädchen zu. Sie waren ungefähr dreizehn oder vierzehn [Wie erwähnt: Mit Altersschätzungen habe ich es nicht so.], und der blonderen von beiden rannen die Tränen literweise aus den Augen. Jemand hatte sie beleidigt, und ihre Freundin war keine große Hilfe, indem sie ihr riet, diese Beleidigung einfach wegzustecken. Denn offensichtlich war das "Wegstecken" nicht mit Einfachheit lösbar.

Ich las - mal wieder - und gab mir Mühe, den beiden, obgleich sie mir direkt gegenüber saßen und obgleich ich jeder einzelnen Träne hinterherschauen konnte, geringste Aufmerksamkeit zu widmen und sie in diesem intimen Augenblick absolut allein zu lassen [auch wenn sie von unzähligen Mitfahrenden umgeben waren]. Mein Buch fing meine Blicke, doch vor ihrem Gesprochenen schützte es mich nicht.

"Hast du mal n Taschentuch?", fragte die Tränenbedeckte irgendwann, und ihre Freundin gab einen Nein-Laut von sich. Wie von selbst glitt meine Hand in meine Rucksacktasche, und obgleich ich mir keineswegs sicher war, ob sich dort eine Packung befinden würde, fanden meine Finger plastikverpackte Papiertaschentücher, zogen sie heraus und reichten sie herüber. Kurz sah ich von meinem Buch auf und erhaschte das kleine Lächeln, das sich auf ihre Lippen stahl.

"Taschentücher", dachte ich beeindruckt, "sind nützlich."

Trackback URL:
https://morast.twoday.net/stories/4112399/modTrackback

Basti (Gast) - 27. Jul, 22:56

Dr der Mackologie

ohje der bekannte brennpunkt strassenbahn, es wimmelt nicht nur von erkälteten oder verheulten minderjährigen taschentuchbedürftigen,

sondern auch ein sammelort für aufdringliche buchleser die einem unbedingt ihre methanolgetränkte baumvernichter andrehen wollen nur um kommunikativ am umgebungsleben teilhaben zu können!

zum lesen gibt es lesezimmer, zum probleme besabbern gibt es therapeuten und für die hno probleme gibs allgemein ärtze

ich rufe also alle strabafahrenden magdeburger auf sich anzupassen und in zukunft wie auch schon in der vergangenheit mit gedrückter miene (diese zwischen : ich muss mal ganz dringend - mein leben ist scheisse fratze) aus dem fenster der bahn zu schauen und ihre umwelt mit ihrer schlechten laune zu belästigen

gruss basti

Amsel (Gast) - 14. Aug, 21:22

"leichte" verwunderung

mich wundert es wie du (ich sag hier jz einfach mal du) in manchen situationen so ruhig bleiben konntest..
ich zb wäre bei diesen typen schon komplett ausgeflippt und hätte sie angeschrien (zwar auch in "jugendsprache" aba nicht diese "ey alda voll krass man geil" sprache sondern einfach mit meiner sehr direkten umgangssprachlich abgekürtzten art).. oda aba ich wär geflüchtet...

mich wundert aba auch iwie wie du ernsthaft erwarten kannst in ner straßenbahn lesen zu können? weil, mein, wenn du dich bei sowas nicht konzentriern kannst dann kannste des denk ich in ner straßenbahn nicht erwarten lesen zu können.

nunja... aba deine art situationen mit einem einfachen päckchen taschentüchern zu lösen fasziniert mich dann doch etwas wie ich zu geben muss.

lg amsl

Nico (Gast) - 14. Aug, 22:49

übrigends

ist es wesentlich besser ständig den (Rotz) nach oben zu befördern, denn wenn man sich die Nase putzt drückt man nur alles in die Nebenhöhlen. :)

Amsel (Gast) - 15. Aug, 16:09

an nico'sübrigens

wenn man ausschnauft (und somit sich die nase putzt) dann wird da doch nix in die nebenhöhlen gedrückt ??? o.o

oda??

Flatterfred...

Status...

Du bist nicht angemeldet.

Aktuell...

Altslawische fantastische...
Ich möchte dir mein fantasy Welt vorstellen. Vielleicht...
Cerny Vlk - 6. Jan, 21:45
Radtour Salbker See II
Danke für die tollen Tipps, wir waren im August auch...
Physiotherapie Leipzig (Gast) - 21. Nov, 17:06
Higtech
Naja, man glaubt es kaum, aber was der Angler an Energie...
Martin Angel (Gast) - 12. Sep, 11:27
gar nisch süß
dat is gar nisch süß soll isch de ma was rischtisch...
free erdem (Gast) - 6. Jun, 16:40
Hier wird es fortan weitergehen: http://morast .eu Und...
Hier wird es fortan weitergehen: http://morast .eu Und...
morast - 1. Feb, 21:10

Archiv...

Juli 2007
Mo
Di
Mi
Do
Fr
Sa
So
 
 
 
 
 
 
 1 
 2 
 3 
 5 
 6 
 8 
 9 
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
28
29
30
31
 
 
 
 
 
 

Suche...

 

Rückblick...

Online seit 7154 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 15. Jul, 02:03

Und so...


23
Bahnbegegnungen
Begegnungen
Farbenfroh
Fetzen
Frederick
G
Geistgedanken
Krimskrams
Menschen
MiSt
Morgenwurm
Morning Pages
Seelensplitter
Tageswort
Weise Worte
... weitere
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren