Menschen

Montag, 16. Mai 2005

Menschen 11

An einer Straßenecke steht ein Mann, beleibt, die ergrauenden Haare mit Pomade nach hinten gekämmt. Ich halte Abstand, den Kontakt meidend. Er ist keine Gefahr, begreife ich, doch will auch selbst keine darstellen.

Der Mann ruft mich: "Hey!"
Seine Stimme ist kraftlos, nicht fordernd, eher bittend. Ich wende mich ihm zu.
"Do you speak English?", fragt er mich.
"Yes I do." Mittlerweile bin ich bei ihm angelangt.

Er wünscht zu telefonieren, besitzt aber kein Telefon. Ich betrachte ihn, bin bereit, Vertrauen zu schenken, krame nach meinem Handy, entsperre die Tasten, reiche es ihm. Das Handy ist alt und wertlos. Das Guthaben nahezu aufgebraucht. Ich habe keine Angst vor einem Verlust. Keine Angst vor ihm.

Der Mann lächelt nicht, wirkt ratlos. Seine braune Haut wirkt im Dunkel der Nacht noch finsterer. 'Vielleicht ist er Inder.', mutmaße ich.

Mühevoll tippt er die gewünschte Nummer ein, jede einzelne Ziffer in dialektgefärbtem Englisch aufsagend. Als er fertiggetippt hat, zeigt er mir die Telefonnummer, bevor er anruft. Ich winke ab.

Er erreicht niemanden, nur eine Mailbox.
"Wrong Number?", frage ich.
Er schüttelt mit dem Kopf, probiert es nochmal. Diesmal ist die Nummer länger. Doch wieder erfolglos. Er gibt mir das Handy zurück, wirkt noch trauriger als zuvor, fragt mich nach Kleingeld, damit er es zu späterem Zeitpunkt nochmal probieren kann.

Ich habe kein Portemonaie dabei, versuche, dmich zu erklären, doch weiß nicht, wie ich "Portemonaie" übersetzen soll. Ich krame wieder in den Taschen meines Rucksacks, finde ein paar Fünf-Cent-Stücke, zeige sie ihm, bedaure, nicht mehr dabei zu haben.
Er zählt, nimmt das Geld.
"It's enough.", meint er und bedankt sich mehrere Male.

Ich verstaue mein Handy wieder im Rucksack und gehe weiter, in eine andere Richtung als er, drehe mich noch einmal um, sehe ihm hinterher.

Fremd in Deutschland. Allein. Ohne Geld und Telefon. Auf die Großherzigkeit anderer angewiesen. Ich wünschte, ich hätte ihm wirklich helfen können...

Montag, 2. Mai 2005

Menschen 10

Eine Rentnerin auf einem Fahrrad, mit dem üblichen Fahrradkorb hinter sich, die sich eine Steigung hinaufquält und dabei vor Anstrengung das Gesicht verzieht, ihre schiefen Zähne zeigt. Als ich vorbeifahre, wird sie sich ihrer Grimasse bewußt und versteckt ihre entblößten Zähne wieder, normalisiert ihr Gesicht und schaut mich unschuldig an.

Der Fahrradweg ist schmal. Mir kommt eine junge Frau entgegen, auf der falschen Straßenseite fahrend. Das stört mich nicht weiter; ich halte mich so weit wie möglich rechts. Die junge Frau jedoch hat genau denselben Teil des Fahrradweges für sich erachtet. Im letzten Augenblick mache ich einen Schlenker und weiche ihr aus, verwundert darüber, daß sie nicht nur auf der [von ihr aus gesehen] linken Straßenseite fuhr, sondern sich auch noch auf dem Weg [von ihr aus gesehen] links orientierte.
Dann wird mir bewußt, daß das Rechts-Fahr-Gebot nur eine von unzähligen Regeln darstellt, die mir von kleinauf eingetrichtert wurden, daß ich vollgestopft bin mit Vorschriften, die jeder für normal erachtet, deren Beachtung aber nicht immer zwingend notwenig ist.
Heimlich lächle ich über die - vermutlich unbewußte - Anarchistin.

Auf der neugebauten Sternbrücke schlendern zwei Mittvierziger entlang, beide mit Bierbauch und Schnaubart verziert. Einer von ihnen bleibt stehen, mustert die blauen Stahlträger der Brücke argwöhnisch, klopft prüfend darauf und murmelt:
"Was das alles wieder gekostet hat..."

Montag, 11. April 2005

Menschen 9

Aus der Drogerie tritt ein Mann, achtet nicht auf den Weg, nicht auf die Umgebung. Seine ganze Konzentration gilt dem Päckchen, das er in der Hand trägt, das er nun sorgsam öffnet: Entwickelte Fotos. Vorsichtig holt er die Bilder aus ihrer Verpackung, betrachtet sie, nimmt sich Zeit für jedes einzelne, beschaut die Motive, beschaut scheinbar jedes Detail. Dann fängt er an zu schmunzeln, zu grinsen. Zu lachen.
Ich gehe vorbei, er sieht auf und lacht mir ins Gesicht, ausgelassen, fröhlich.
Ich lache auch, innerlich, wünsche mir einen Photoapparat, um diesen Augenblick festzuhalten und immer wieder neu in stilles Gelächter ausbrechen zu können.

Abgehetzt und grimmig betrete ich die Apotheke. Es ist kurz vor acht am Samstag Abend, kurz vor Ladenschluß. Bevor ich den Atem für Worte finde, lächelt mich die Apothekerin freundlich an:
"Wollen Sie ein Glas Wasser?"
Ich schaue erstaunt, vergesse meinen Unmut, schüttle zögernd mit dem Kopf:
"Bin ... nur ... recht schnell ... gefahren ... Danke ...", keuche ich.
"Sie hätten sich doch Zeit lassen können. Wir haben doch noch zehn Minuten auf."
Ihr Lächeln steckt an.
"Ich wußte ja nicht ... wollte noch ... brauchte noch was Eßbares ... für morgen."
Sie läßt nicht locker.
"Ich kann Ihnen ein paar Bonbons anbieten."
Dankend lehne ich ab, grinse von einem Ohr zu anderen.
'Warum', frage ich mich, als ich die Apotheke wieder verlasse, 'sind Menschen viel freundlicher, wenn ich schlechte Laune habe...?'
-----

Freitag, 8. April 2005

Menschen 8

Es regnet. Vor dem Magdeburger Allee-Center entdecke ich ein blindes Mädchen. Sie trägt einen Blindenstock in der Hand, benutzt ihn aber nicht, erhält Führung von einem anderen Mädchen, einer Freundin vielleicht. Die beiden meiden die automatische Drehtür, betreten das Einkaufscenter durch den "normalen" Seiteneingang.
Im Inneren sehe ich eine Rollstuhlfahrerin. Sie steht vor der Drehtür und rührt sich nicht. Bevor ich einen Gedanken fassen kann, begibt sich das führende Mädchen zusammen mit ihrer blinden Begleiterin zu der Frau im Rollstuhl:
"Brauchen Sie Hilfe mit der Tür?"
"Ach nein, ich komme schon klar.", antwortet sie, dankbar für die Aufmerksamkeit, "Nur meine Kapuze...".
Während die hilfbereite Blindenführerin vorsichtig die Kapuze über den Kopf der Dame stülpt, frage ich mich, ob einer von uns "normalen" Menschen auf den Gedanken gekommen wäre, der Rollstuhlfahrerin Unterstützung anzubieten.
'Die wenigsten.', denke ich und seufze leise.
-----

Ampelmenschen

In Gedanken versunken nähere ich mich der Ampel. Rot. Ich bleibe stehen, grüble. Weitere Wartende gesellen sich zu mir.
Nach einer Weile sehe ich auf. Kein Auto weit und breit. Wie auch? Die Ampel steht inmitten einer Baustelle.
Warum also warte ich? Weil ich unbewußt einem Automatismus frönte? Weil ich gut erzogen bin?
Warum warten die anderen? Weil sie nicht sehen, daß hier keine Autos fahren? Weil sie einer Art Herdentrieb folgen und stehenbleiben, wenn andere auch stehenbleiben? Weil sie als gesetzestreue Deutsche rote Ampeln auch respektieren, wenn sie sinnlos sind?
Ich schüttle die Gedanken ab. Die Ampel leuchtet noch immer in warnendem Rot. Egal. Ich gehe. Die Herdentriebler bleiben stehen.
Als ich die Kreuzung längst hinter mir gelassen habe, drehe ich mich neugierig noch einmal um, sehe, daß sich nun endlich auch die anderen in Bewegung setzen.
Die Ampel leuchtet grün.
-----

Donnerstag, 31. März 2005

Menschen 7

Würde man den bedrohlich wirkenden Mann vor mir seines lächerlichen langhaarimitierenden Kopftuches, seiner auffälligen Armeetarnhosen, seiner unsauberen Springerstiefel und seiner augenverbergenden Sonnenbrille berauben und ihn mit bedeutungslos-normaler Standardkleidung bestücken, bemerkte ich ihn womöglich gar nicht mehr oder sähe in ihm nur ein dürres, kränkliches Wesen, dem weniger Respekt als Mitleid gezollt werden sollte...

Als diente er einzig und allein der Klischeeverifikation nimmt ein Student mit langem Haar und stilgerechter Finsterkleidung inmitten eines Wartezimmers voller unbequemer, aber bunter Holzstühle auf dem einzig schwarzen Platz.
-----

Dienstag, 29. März 2005

Menschen 6

Die Fläche der Fahrstuhlkabine umfaßt etwa 1,5 x 2 Meter. Ich steige ein, grüße höflich das ältere Ehepaar, das sich bereits in der Kabine befindet. Sie beginnt zu reden. Sie flüstert, unendlich leise, die heilige Fahrstuhlstille nicht verletzen wollend. Er brummt zustimmend.
Ich verstehe jedes Wort.
-----

Menschen 5

Alte Menschen, die lauthals und kopfschüttelnd über die angebliche Langsamkeit der Kassiererin schimpfen - und sich kurz zuvor freiwillig in die offensichtlich längste Kassenschlange stellten.

Eine Jugendliche, mit einer olivgrünen Jacke bekleidet, auf der sie in krakligen Filzstiftbuchstaben ihre Englischkenntnisse kundtut:
"Punks not death."
-----

Mittwoch, 23. März 2005

Menschen 4

Ich sitze auf einer Couch inmitten einer Kneipe. Die Stimmung ist gut, die Musik gedämpft. Ich kann meine Nachbarn reden hören. Ein Mädel erzählt von dem Jugendbekleidungsfachgeschäft "Olymp & Hades". Die Thematik allein mag verwerflich sein, doch wesentlich schlimmer ist, daß sie versucht, die Wörter zu anglifizieren. "Ollimp änt Häjds". 'O mein Gott!', denke ich und korrigiere mich: 'O meine Götter!'. Denn die griechischen Götter an den ebenso griechischen Orten hätten sich bei derartiger Verunglimpfung ihrer Wohnstätten bestimmt die Haare gerauft und Zeus angefleht, ein paar gehörige Blitze zu werfen. Vorsichtshalber wechselte ich meinen Sitzplatz.

Gerade versuche ich herauszufinden, wann die nächste Straßenbahn an dieser Haltestelle eintrudeln würde, als zwei Gestalten auf mich zugehen bzw -torkeln. Beide sind in einer Art HipHopStyle gekleidet, der aber ziemlich billig aussieht - in jeglicher Hinsicht. Der erste, mit modischem Schirmstirnband auf Schädel nuschelt eine Frage in meine Richtung. Ich erahne, daß es um die Bitte nach Zigaretten und/oder Alkohol geht. Ich habe nichts, gebe das zu verstehen. Der nächste Versuch der Ausformulierung einer Frage bezieht sich auf die Straßenbahn. "Noch drei oder vier Minuten.", sage ich. Der Freund tritt hinzu, erkundigt sich ebenfalls nach der Straßenbahn, möchte zudem noch die Uhrzeit erfahren. Ich gebe bereitwillig Auskunft und wundere mich, warum seine Lippe so blutig ist. Währenddessen pinkelt HipHopper Nr.1 in einen Hauseingang. Beide stelle angewidert aber belustigt fest, daß Urin stinkt. Nr.1 bückt sich und klaubt einen Zigarettenstummel vom Boden auf. 'Wie dreckig muß es einem gehen, damit man so etwas tut?', frage ich mich. Er reißt den Filter ab und versucht, den kümmerlichen Rest anzuzünden. Die Bahn nähert sich. Das Feuerzeug streikt. Nr.2 hilft aus. Die Feuerzeugflamme versengt mehr Haut als Tabak. Die Bahn beginnt zu bremsen. Noch immer ist der Stummel unangezündet. Noch immer bemühen sich die beiden. Für einen Zug. Für einen lächerlichen Zug an einer alten, weggeworfenen Zigarette. Die Bahn hält. Nr.2 steckt sein Feuerzeug ein, geht zur Tür, findet unterwegs noch einen Zigarettenstummel im Rinnstein, steckt ihn ein. Die beiden setzen sich. Hin- und hergerissen zwischen Abscheu und Mitleid suche auch ich einen Sitzplatz - am anderen Ende der Straßenbahn.
-----

Menschen 3

Ich ging an einer Frau vorbei. Sie klagte seufzend über diverse Krankheiten und Wehwehchen, und ich fragte mich, ob ich auch sämtliche Gespräche mit dieser Thematik füllen werde, wenn ich älter bin. Gerade meinte sie "...da wurde mir ganz schwarz vor Augen...", als ihre Gesprächspartnerin desinteressiert einen von diesen säuberlich frisierten, winzigen Hunden am Halsband packte, hochhob und sich unter den Arm klemmte, als wäre er nichts weiter als ein unebdeutendes Plüschtier, ein modisches Spielzeug mit einer lächerlichen Schleife im Fell. Als ich weiterlief, sah mir der Hund traurig hinterher, fast, als wäre er sich seiner Bedeutungslosigkeit bewußt.

Eine Straßenecke weiter begegnete ich einem weiteren Hund. Ausgelassen wühlte er in einem riesigen Stoffwechselendproduktberg herum und ignorierte sein glatzköpfiges Herrchen, das verärgert nach ihm rief: "Bitch! Bi-itch!!!" Für einen Augenblick war ich verdutzt. Wie konnte man seinen Hund derart titulieren? Doch als ich der wörtlichen Übersetzung des Begriffs gedachte, erschien die Namensgebung plötzlich weniger skurril. Verschmitzt lächelnd ging weiter.
-----

Flatterfred...

Status...

Du bist nicht angemeldet.

Aktuell...

Altslawische fantastische...
Ich möchte dir mein fantasy Welt vorstellen. Vielleicht...
Cerny Vlk - 6. Jan, 21:45
Radtour Salbker See II
Danke für die tollen Tipps, wir waren im August auch...
Physiotherapie Leipzig (Gast) - 21. Nov, 17:06
Higtech
Naja, man glaubt es kaum, aber was der Angler an Energie...
Martin Angel (Gast) - 12. Sep, 11:27
gar nisch süß
dat is gar nisch süß soll isch de ma was rischtisch...
free erdem (Gast) - 6. Jun, 16:40
Hier wird es fortan weitergehen: http://morast .eu Und...
Hier wird es fortan weitergehen: http://morast .eu Und...
morast - 1. Feb, 21:10

Archiv...

Mai 2024
Mo
Di
Mi
Do
Fr
Sa
So
 
 
 1 
 2 
 3 
 4 
 5 
 6 
 7 
 8 
 9 
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
 
 
 
 
 

Suche...

 

Rückblick...

Online seit 6952 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 15. Jul, 02:03

Und so...


23
Bahnbegegnungen
Begegnungen
Farbenfroh
Fetzen
Frederick
G
Geistgedanken
Krimskrams
Menschen
MiSt
Morgenwurm
Morning Pages
Seelensplitter
Tageswort
Weise Worte
... weitere
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren