Wortwelten

Mittwoch, 28. Januar 2009

Nürnberg II

Sich in Stuttgart mit einer U- oder S-Bahn zu verfahren, fällt schwer. In Nürnberg hingegen wird es einem Stadtfremden leicht gemacht, denn die Haltestellenansagen sind wesentlich dezibelärmer als die stetig gleiche Aufforderung, von der Tür zurückzutreten. Ich jedoch war vorbereitet. Nicht nur Googlemaps in Kombination mit der überraschend hilfreichen Seite der Nürnberger Verkehrsbetriebe hatten mir eine Richtung- und Haltestellenahnung verschafft; auch die aushängenden Haltestellenverlaufspläne halfen.

Ein Ticket zu erwerben, war letztlich simpel gewesen, was mich jedoch nicht davon abhielt, zunächst einem Bahnmitarbeiter meine Unfähigkeit zu präsentieren. Er schlurfte desinteressiert zu einem Fahrkartenautomaten, zeigte mir die richtige Taste, und ich bedankte mich artig. Vielleicht auch ein wenig überracht, denn dass Schaltermenschen aufstehen, hatte ich bisher ebenso wenig erlebt wie eine Präsentation von Fahrkartenautomatenkenntnis.

Ich saß also mit gültigem Fahrschein in der U-Bahn und versuchte, die Haltestellenangaben des an der Decke klebenden Plans mit dem unverständlichen Lautsprechergerausche abzugleichen. Als die Bahn in meinen Bahnhof einfuhr, stand ich auf, nicht zu früh, wollte ich doch nicht als Tourist gelten.

Doch dass ich einer war, zeigte sich sofort: Die Tür ging nicht auf. Während in Magdeburg und Halle sämtliche Bahnen einen simplen Knopf besaßen, der zu betätigen war, während der S-Bahn-Tür-Öffnungshebel in Stuttgart nur angetippt werden musst, war es hier nötig, mechanische Arbeit zu verrichtet, Kraft aufzuwenden.

Kaum war ich befreit, ließ ich mich vom Strom zahlloser Schüler zur Bushaltestelle tragen, die es schaffte, mich zu verwirren. Ich wusste, dass ich die 22 nehmen musste, doch nicht, ob ich an der Haltestelle für die richtige Richtung stand. Dass gerade eine 23 einfuhr, die als Fahrtziel eines angab, das sich mit meinem deckte; dass man, wie bei einer Ampel, anscheinend eine Taste drücken konnte, um einen Bus zu rufen; dass die Schülermassen nicht alle in den Bus passten und dass der nächste einfahrende Bus sich "S" nannte, half mir wenig. Ich ließ zwei Busse passieren, setzte mich dann - wie geplant - in eine 22, um eine Strecke zu fahren, die ich leicht zu Fuß hätte zurücklegen können. Aber ich hatte ein Ticket, und dessen 1,90-Euro-Gültigkeit wollte bis zum Letzten ausgenutzt werden.

Auf dem Rückweg blieb mir die Busfahrt erspart; ich wurde gefahren. Zwar finde ich, dass Autos nur Autos sind, doch ein im Innenrückspiegel integriertes Navigationssystem besitzt durchaus das Potenzial, mich zu beeindrucken.

Am Hauptbahnhof angekommen zeigte sich, dass die Zugnutzung auf der Strecke Nürnberg-Magdeburg in unüberschaubar vielen Variationen daherkommt. Bestimmt zehn Minuten verbrachte ich mit dem Vergleich von Fahrtdauern, Fahrtkosten und Umsteigehäufigkeiten und entschied mich schließlich für eine Verbindung, die mich per ICE nach Naumburg, per IC nach Halle und per weiterem IC nach Magdeburg bringen würde und mir vorher genug Zeit ließ, noch einmal kurz in die Innenstadt zu laufen und dort dringenste Bedürfnisse zu befriedigen.

Im Comicladen erwarb ich Band 8 von Herrn haarsträubenden Abenteuern, bevor ich festellen musste, dass Nürnberg zwar eine wunderschöne Altstadt, jedoch nur hässliche Postkarten besitzt. Ich erwarb drei und beschrieb bzw bezeichnete sie in der Gemütlichkeit einer preiswerten Pizzeria.

Es schneeregnete, und auch diese Witterung schien meinem Telefonfotoapparat nicht zu behagen. Ich wäre fähig gewesen, mich in der Innenstadt zu verlaufen, doch entschied mich dagegen. Die Heimfahrt wartete.

Auf dem Bahnsteig angekommen stellte ich fest, dass die Zahl der zu erwartenden Wagons unmöglich stimmen konnte. Die ausharrenden Menschenmassen in Kombination mit der fehlenden Möglichkeit, noch Sitzplätze zu reservieren, ließen Schlimmstes erahnen.

Ich verbrachte die nächsten zweieinhalb Stunden im Schneidersitz lesend auf dem Gang eines vollgestopften ICE-Abteils, eingefercht zwischen Sitzen und Menschen, immer wieder aufstehend, weil irgendwer, sogar ein pflichtbewusster Schaffner, sich unbedingt durch das vielköpfige Gewusel kämpfen wollte. Als ich in Naumburg feststellte, dass mein Anschlusszug genug Verspätung haben würde, um den darauffolgenden Anschluss und somit den Besuch einer Martenstein-Lesung ins Unwahrscheinlichste abdriften zu lassen, entdeckte ich in meinem Gemüt einen Hauch von Unmut. Als ich in dem verzögerten ICE saß und die Befürchtung Gewissheit wurde, fand ich gar eine Zornesfalte auf meiner Stirn.

Später, auf dem Hallenser Bahnhof, stellte ich fest, dass das Bahnhofs-WC nur 50-Cent-Stücke anzunehmen bereit war, nicht wechseln wollte - und dass ich nur einen Euro besaß. Bevor der Grummel mich überwältigen konnte, eilte ich zum nächstgelegenen Bäcker, erwarb einen Kakao und setzte mich auf eine Bank.

Das Heißgetränk wärmte mir die Hände, der Süßgeschmack das Gemüt. Ich schmunzelte ein wenig über den Kaffeebeckerverschluss, der mich an meinen Zivildienst im Krankenhaus erinnerte, schmunelte ein wenig über den Verkäufer ungarischer Einlegwaren, der gewissenhaft wie eh und je seine Ware sortierte und um Bruchteile von Millmetern in Richtung Perfektion verschob. Ich atmete tief, griff mir an die Stirn, stellte mir vor, wie ich die dunkle Wolke dahinter ergriff, wie ich sie in meiner Hand zusammenknüllte.

Auf dem Weg zum Gleis warf ich sie zusammen mit meinem leeren Becher in den Müll.

Montag, 26. Januar 2009

Nürnberg

Es ist immer wieder erstaunlich, mit welch einfachen Mitteln ich dazu bewegt werden kann, Geld auszugeben. Als ich meine Verbindung nach Nürnberg heraussuche, wird mir über ein klitzekleines Ausrufezeichen mitgeteilt, dass der ICE, den ich zu benutzen gedenke, sehr gefragt ist und dass eine Sitzplatzreservierung daher sinnvoll wäre. Als ich dann aber allein einen Doppelsitz einnahm, sich mit fortschreitender Zugfahrt die Reihen um mich herum allmählich lichteten und nur das Erste-Klasse-Abteil mit Zahlreichtum aufwarten konnte, zweifelte ich plötzlich am Wahrheitsgehalt der Mitteilung.

Und auch sonst verlief die Fahrt angenehmer als die nach Stuttgart: Kein Gegenüber reduzierte meine Beinfreiheit, keine Mitfahrer versuchten immer wieder trotz Tunnelhäufung und Empfangsarmut, geschäftliche Telefonate zu führen, keine wachsende Verspätung bedrohte meinen Termin.

Na gut, der ICE hatte letztlich fünf Minuten Verspätung, doch spielte sie keine Rolle. Ebenso unwichtig war, dass ich nicht imstande zu sein schien, an einem der bereitstehenden Automaten U-Bahn-Tickets für den nächsten Morgen zu erwerben. Wichtig hingegen erschien mir, dass es ausgerechnet das Gleis 23 es war, das den Durchgang zum gesuchten Südausgang barg.

Der Weg zum Hotel war kurz, ein kurzes Klingeln öffnete mir die Tür, an der Rezeption lag ein Umschlag mit meinem Namen drauf und meinem Zimmerschlüssel drin. Das Treppenhaus verbarg sich, doch konnte ich den altertümlichen Fahrtuhl in die erste Etage nutzen. Das kleine Zimmer war eben ein Zimmer, und dass WLAN nur über zu bezahlenden Telekom-Hotspot erreichbar war, interessierte mich kaum. Nur eine der beiden Nachttischlampen funktionierte, eigentlich logisch in einem Einzelzimmer, die Badezimmerlüftung rumorte gefühlte dreiundzwanzig Äonen lang, selbst wenn man den Badlichtschalter versehentlich betätigte.

Nürnbergs Innenstadt ist schön und leicht findbar. Außerdem existieren dort zahlreiche altertümliche Bauten, die angenehm anzuschauen sind und mir bewiesen, dass mein Telefon kein Freund von uhrzeitbedingt mangelhaft belichteten Fotografien ist. Zunächst glaubte ich noch, dass Stuttgart Nürnberg zumindest in Hinblick auf die beim Durcheilen entdeckte Anzahl von Läden mit Sexbezug überbieten könnte, doch als ich bei Nummer 5 aufhörte zu zählen, war auch diese Stuttgart-Überlegenheit beseitigt.

Die von Max Goldt erwähnte Allgegenwärtigkeit Hannovers war auch hier anzutreffen: Die Läden der Innenstadt waren die jeder Innenstadt. Doch dann entdeckte ich einen Comicladen. Einen mit drei Etagen!

Natürlich ging ich hinein – und war überwältigt vom Angebot. Sicherlich besitzt mein geliebtes Magdeburg auch einen Comicladen, einen, der kürzlich sein Innenstadtdomizil zugunsten preiswerterer, aber ungünstigerer Lage aufgeben musste. Doch dies war eine andere Welt. Überall, wohin ich blickte, entdeckte ich Comics, die mich begeisterten, die ich am liebsten sofort erworben hätte.

„Kann ich Ihnen helfen? Wir wollen nämlich jetzt schließen.“ Die Standardantwort „Ich schaue mich erstmal um.“ lag auf meiner Zunge, doch erschien mir unangebracht. Spontan fragte ich nach dem ersten Band von Herrn Hases haarsträubenden Abenteuern, den es jedoch nicht gab. Ich griff in einem Anflug erneiter Spontaneität nach Band 10, bezahlte erfreut und ging.

Hunger trieb mich in das sogenannte Literaturhaus, wo ich Penne mit Gorgonzolasauce bestellte, die zwar recht ungorgonzolig und dafür fertigsoßig schmeckte, dafür ruccolaisiert war. Außerdem konnte ich während des Essens Herrn Hases zehntes haarsträubendes Abenteuer studieren.

Als ich bezahlte, fragte die Kellnerin nach meinem Comic, und es entspann sich ein Gespräch über französische Comics, die ich nicht kannte, Comics, die ich zeichnete, und Künstler, die durch ein kunstfremdes, bodenständiges Studium sich selbst im Weg stehen. Um eine Visitenkarte ärmer, doch um ein Lächeln bereichert ging ich zurück ins Hotel und half meiner Mami telefonisch, eine DVD abzuspielen.

Mittwoch, 7. Januar 2009

Die Heiligen Drei Rodelkönige

Temperaturen weit unter Null, ein wenig gefallener Schnee und sonnenreicher, klarer Himmel erweckten in C einen Gedanken: Schlittenfahren. Nach kurzer Rundfrage fanden sich in J und mir zwei begeisterte potentielle Schlittenmitfahrer, und rasch war es entschieden: Der Tag der Heiligen Drei Könige, im heimischen Sachsen-Anhalt mit weiträumiger Arbeitsplatzvermeidung zelebriert, würde uns in den Harz führen, dorthin, wo Recherche nicht nur Schee-, sondern auch Rodelbahnexistenz ermittelt hatte. Ein vorfreudiges Wuhuu! lag auf meinen Lippen, als ich mich am Abend des 5. Januars zu Bett begab.

Gegen 10 Uhr klingelte das Telefon. C und J warteten bereits in Js Gefährt, um die anderthalbstündige Reise gen Westen anzutreten, geleitet von einem modernen Navigationsgerät und den bereitwillig geteilten Erinnerungen eines Js. Minus zehn Grad Celsius zeigte mein nichtexistentes Thermometer, und vorsorglich hatte ich so viele Kleidungsschichten übereinandergezogen, dass meine Winterjacke sich fast weigerte, verschlossen zu werden. Eine Trainingshose diente als Ersatz für sich nicht in meinem Besitz befindliche lange Unterhosen, und obwohl ich üblicherweise auf Kopfbedeckungen verzichtete, weil mein Haarschopf sie bei jeder Kopfbedeckung zu verrücken pflegte, hatte ich nicht nur einen dicken Wollschal und wunderwarme Handschuhe, sondern auch eine Wintermütze im Gepäck. Einzig meine Füße, mit jeweils zwei Socken und stiefeligem Schuhwerk bedeckt, hätten eine zusätzliche Stoffschicht vertragen können.

J und C hatten größere Weitsicht bewiesen und nicht nur mehr Socken, sondern auch noch Thermoskannentee inklusive optionalem Zucker, Becker und Löffel, Noisette-Schokolade und Wechselkleidung im Gepäck.

Die Straßen waren geräumt und somit angenehm befahrbar, und bereits anderthalb Stunden später parkten wir vor der Bad Harzburger Touristeninformation. Bad Harzburg, in Niedersachsen gelegen, war von dem katholischen Feiertag verschont geblieben, was uns zu diesem Zeitpunkt aber egal sein konnte. Im Weg stehende NDR-Mitarbeiter verdrängend befragten wir die freundliche Touristeninformationsmitarbeiterin nach potentiellen Rodelrouten und Schlittenentleihmöglichkeiten und wussten alsbald Bescheid: Unweit vom Parkplatz befand sich der Märchenwald, wo jeder von uns gegen eine Tagesgebühr von 4 Euro und das Hinterlassen von Cs Reisepass einen Schlitten entlieh. Der erste Test ergab Rostspuren auf dem Schnee. Die Schlitten waren wohl weder neu noch gerade gewachst worden. Leider war auch die vom Märchenwald wegführende Schräge nicht steil genug, um bereits erste Abwärtsfahrten genießen zu können, und irgendwelche Idioten hatten die Brücke über die Bundesstraße mit Streugut bestückt, so dass auch dort ein Rodeln verhindert wurde.

Wir kehrten zum Auto zurück, trafen letzte Vorbereitungen, tranken einen Schluck Schwarztee und bemerkten, dass unsere Füße bereits jetzt zur Eisklumpen zu mutieren drohten. Bewegung! Wir brauchten Bewegung!

Durch Schnee und Kälte stapften wir etwa 100 Meter weit zur Gondelstation, wo wir im beheizten Warteraum die fast gehässige, nur zwei Minuten lange Bad-Harzburg-Präsentation und hintergründige Klimperklänge über uns ergehen ließen. 28 Leute sollten in die Gondel passen. Zwar unterschritten wir diese Zahl bei weitem, doch durch Kleidungsüberflüss zu Unformen aufgebläht und mit Schlitten bewehrt, konnten wir uns im Inneren der Gondel keineswegs einer Arm- oder Beinfreiheit erfreuen.

Der erste Gang führte uns und unsere hölzernen Gefährte nach dem Ausstieg direkt zum Aussichtspunkt der Harzburg, wo J uns mit Wissen über das zu Sehende und das Fehlende erfreute. Hier, in knapp 600 Metern Höhe konnte ich sogar endlich ein paar Schneeflächen entjungfern und mit meinen Stiefelstapfen verschönern. Wir liefen weiter, Richtung Molkenhaus, einem Ziel, das etwa 4,5 Kilometer entfernt lag und der Beginn einer drei Kilometer langen Rodelbahn sein sollte.

Erstmals bekamen wir Gelegenheit, uns auf die Schlitten zu setzen und bergab zu rodeln, zwar nur ein paar Meter, doch mit hoher Geschwindigkeit und inklusive Kurve. Wuhuu! C schaffte es sogar, nähere Bekanntschaft mit dem weißen Untergrund zu machen.

Von nun an ging es bergauf. Nicht steil, aber kontinuierlich. Cs Schuhwerk, profilarm und für wintrige Ereignisse nicht unbedingt ideal, veranlasste ihn zu moonwalkigem Vorwärtskommen: Einen Schritt nach vorn gehen, einen halben Schritt zurückgleiten. Während wir um das Tal herumliefen, den Schnee und die wundervollen schneebeladenen Bäume bewunderten, teilten wir nicht nur Js Noisette-Schokolade, sondern auch diverse Erinnerungen an frühere Winterurlaube und Rodelfahrten. Erstaunlich, wie lange es her war, dass ich zuletzt auf einem Schlitten saß.

Uns war warm. Offensichtlich waren die benutzten Kleidungsstücke mindestens ausreichend. Und selbst unsere Füße frierten nicht länger. J und ich zogen sogar die Handschuhe aus, um die überschüssige Wärme abzuleiten.

Hin und wieder begegneten wir Wandernden, doch zumeist waren wir allein, und erst als wir am Molkenhaus ankamen, erhöhte sich die Menschzahl in unserer Nähe enorm. Und nicht nur das: Vor dem Molkenhaus waren auch zahlreiche Schlitten abgestellt, so dass wir uns kurz fragten, warum wir die unseren vom Tal nach oben befördert hatten. Vor dem Molkenhaus befand sich außerdem eine Stempelstation der Harzer Wandernadel und stolz bestempelte ich mein Notizbuch.

Wir entschieden uns nicht nur gegen die Benutzung des Biergartens, sondern auch gegen einen Restaurantbesuch, und bemühten uns darum, die berühmte Rodelbahn ausfindig zu machen. Wir irrten ein wenig durch die Gegend, bis ich mich dazu entschloss, im Restaurant nachzufragen. Zwar konnte ich aufgrund beschlagener Brillengläser und ahnungsloser Kellnerinnen kaum etwas erkennen, doch bekam ich immerhin eine Richtung mitgeteilt, die jedoch von J und C unterdessen bereits ermittelt worden war.

Ein paar Hundert Meter weiter ging von der beschneiten Straße ein schmalerer Fußweg ab, und wir wussten: Nun gilt es! Fröhlich setzten wir uns auf unsere Schlitten, stießen uns kräftig ab - und rodelten nur wenige Zentimeter weit. Das Gefälle war nicht groß und die Strecke nicht glatt genug. Also liefen wir noch ein wenig, die Schlitten hinter uns her ziehend.

Als die Strecke steiler wurde, probierten wir es erneut, diesmal mit Erfolg. Wuhuu!, rief ich, und obwohl die Fahrt alsbald wieder zuende war, weil der Weg immernoch zu flach war, bieben wir guter Dinge: Bald würde die Rodelbahn besser werden. Immerhin konnten wir bereits eines feststellen: Dass jeder Lenkvorgang zugleich ein Abbremsen darstellte, war in Anbetracht einer kurvigen, aber unsteilen Strecke ein wenig ungünstig.

Wir wanderten weiter, und auch wenn das Gefälle nicht ausreichte, um eigenständig fahren zu können, war es doch steil genug, dass sich C und J auf ihre Schlitten setzen und relaitv aufwandsarm von mir gezogen werden konnte. Bald tauschten wir, und J zog. Nur C weigerte sich aufgrund haftungsarmen Schuhwerks.

Dann nahm das Gefälle zu; wir setzten uns auf unsere Holzgestelle und rodelten los. Der Weg war schmal und kurvig, und der Schlitten weigerte sich trotz aller Lenkbemühungen beharrlich, die Ideallinie zu halten und bevorzugte die buschreiche und Geschwindigkeit reduzierende Außen- und Innenbahn. Dennoch wuhuu!te ich begeistert. C überholte J, ich überholte J und wir drei rodelten bergab.

Plötzlich verbreiterte sich der Weg. C zeigte auf ein Schild. "Beginn Rodelbahn" stand dort geschrieben, und wir fragten uns, was das denn gewesen war, wo wir soeben heruntergefahren waren. Die Rodelbahn war breiter und glatter, fuhr sich besser, doch war dennoch nicht frei von Kurven oder entgegenkommenden, bereitwillig beiseite tretenden Fußgängern.

Wuhuu!, rief ich, den Schlitten mit herausgetrecktem linken Bein die stete Linkskurve entlang lenkend, ohne dabei großen Richtungskorrekturerfolg zu haben. Abwärts ging es, und der Fahrtwind umwirbelte meine ständig verrutschende Wintermütze. Wuhuu!

Plötzlich war es vorbei. Ein Schild verkündete das Ende der Rodelbahn, ein anderes die Nähe des Märchenwaldes. Die Bundesstraße und Parkplatz waren nah und wir ein wenig enttäuscht: Niemals waren das drei Kilometer!

Zugleich waren wir begeistert: Rodeln fetzt! Einstimmig beschlossen wir, den Rodelberg wieder hochzuwandern, um erneut hinabzufahren. Der Anstieg jedoch erwies sich schnell als äußerst anstrengend: nicht nur die Steilheit, auch der Schnee behinderten das Vorankommen. C nutzte seinen Schlitten teilweise als Gehhilfe, um nicht zurückzurutschen.

Wir passierten das "Beginn Rodelbahn"-Schild und entschieden uns dafür, obwohl es anstrengend war, weiter nach oben zu wandern. Schließlich hatte uns bereits der Teil vor der echten Rodelbahn sehr zugesagt. Also stapften wir durch den Schnee, die leeren Schlitten hinter uns her ziehend.

Irgendwann meinte C, dass es ihm reiche. J und ich liefen noch bis zur nächsten Kurve, und dann ging es los. Ein paar Fußgängern mussten wir ausweichen, hin und wieder kamen wir den Wegrändern zu nah, doch rasten wir jubelnd den Berg hinab. Als sich der Weg zur echten Rodelbahn aufweitete, gelang es mir sogar, der Kurve zu folgen, nicht im schneereichen Gebüsch zu landen und die Geschwindigkeit beizubehalten. Wuhuu!

Wieder war die Fahrt viel zu schnell zu Ende, doch nun wollten wir nicht noch einmal nach oben kraxeln. Wir beschlossen, zum Auto zurückzukehren und dann nach Torfhaus zu fahren, einem Ort, der ungefähr zehn Minuten weit entfernt lag und neben einer Rodelbahn auch einen Rodellift umfassen sollte.

Angekommen stellten wir zunächst fest, dass wir offensichtlich nicht die einzigen waren, die den Gedanken hatten, diese Rodelbahn zu besuchen. Verglichen mit der Bad Harzburger Rodelstrecke herrschte hier ein heilloses Gedränge. Tatsächlich hatten wir zunächst Schwierigkeiten, überhaupt einen freien Parkplatz zu finden. Der Weg zur Bahn war dementsprechend weit, doch wir zögerten nicht und gelangten alsbald zu einem Aussichtpunkt, der uns klar machte, dass die Rodelbahn noch ein paar Meter weiter zu unserer Rechten lag.

Hier gab es nicht nur allerlei Menschen und Schlitten, sondern auch zahlreiche Nahrungsmittelaufnahmestationen. Bevor uns der Hunger überwältigen konnte, gingen wir zur Rodelbahn. Dabei nahmen wir eine Abkürzung, die einen kleinen Hügel beinhalte, den wir nacheinander hinunterrodelten. Unglücklicherweise folgte kleinen, aber steilen Hügel sogleich eine starke Unebenheit, und C stürzte beim Erleben dieser nicht nur vom Schlitten, sondern verlor auch einen Absatz seines Schuhs. J und ich folgten, aus Cs Unfall lernend, mit angemessener Vorsicht.

Der nächste Hügel war weniger steil und weniger gefährlich, doch auch hier folgten unzählige Unebenheiten. Und natürlich hob es hier auch mich aus dem hölzernen Gefährt. Doch alles war in Ordnung, und die Fahrt konnte weitergehen.

Zwar war die Strecke recht glatt, aber auch vielbefahren, hügelig und flach. Wenn der Schlitten mal alleine fuhr, dann nur langsam und mit Unterbrechungen, in denen man krebsartig versuchte, ein wenig Schwung zu gewinnen. J und ich warteten am Ende der Strecke, wo sich der Zugang zum Lift befand, und C kam langsam nach. Obwohl es nicht unlustig gewesen war, war keiner von uns übermäßig begeistert von der Bahn. J holte die Tickets, und nacheinander setzten wir uns auf die blauen Plastikschlitten des Lifts, der uns mit deutlich höhrerer Geschwindigkeit aufwärts zog, als wir eben abwärts erreicht hatten. J erlebte die Bergauffahrt auf dem Bauch liegend, C gar rückwärts fahrend und auf uns zurückblickend.

Oben angekommen beschlossen J und ich, den Rodelbahnanfangshügel noch einmal zu erleben, damit C ein kleines drehen konnte. Cs Schlitten war an mehreren Stellen destruiert und für weitere Benutzung ungeeignet. J schaffte es tatsächlich, bei der Abfahrt seinen unlenkbaren Schlitten so zu steuern, dass er allen größeren Unebenheiten auswich. Der Videobeweis zeigt: Im Gegensatz zu Bad Harzburg, wo die Strecke eben war, reichte die Hügeligkeit hier aus, um J aus dem Schlitten zu heben. Immerhin blieb er störrisch darauf sitzen. Ich jedoch, ihm folgend, stürzte recht rasch von meinem Gefährt hinab in den festgefahrenen Schnee und beweißte mich von oben bis unten.

Wir kehrten zum Auto zurück, verstauten die Schlitten und fuhren zur Bad Harzburger Märchenwald. Erstaunlicherweise gab es keine Probleme beim Zurückgeben der Holzgefährte und schon bald befanden wir uns auf dem Weg in die Innenstadt von Bad Harzburg, wo wir nicht nur eine Fußgängerzone befuhren, sondern auch ergebnislos nach einer Lokation suchten, die geöffnet hatte und unseren gemeinsamen lukullischen Wünschen entsprach. In Anbetracht von zwei Fleischvermeidern und einem Käseverabscheuer keine leichte Aufgabe, und so kam es, dass wir schon bald Bad Harzburg verließen und nach Wernigerode fuhren. Hier war Feiertag, und die Innenstadt begrüßte uns mit wenig erfreuender Ausgestorbenheit. Erst in Blankenburg wurden wir fündig. Dort kehrten wir bei einem Asiaten ein. Zwar waren wir die einzigen Gäste, doch das störte uns wenig. Wir hatten Hunger.

Die Kellnerin erwies sich als angenehm gesprächsfreudig, das Essen als weder sonderlich gut noch sonderlich schlecht, und nachdem wir einigermaßen gesättigt waren und bezahlt hatten, traten wir die Heimfahrt an. Längst war es dunkel geworden, doch die vereinten Kräfte von Fahrerverstand und Navigationsgerät führten uns sicher nach Magdeburg zurück, gerade pünktlich, damit ich mich zu dem gerade beginnenden Geburtstagsnachfeierfondue meiner WG hinzugesellen und den ohnehin wundervollen Tag nicht minder schön ausklingen lassen konnte.

Mittwoch, 26. November 2008

Meine Odyssee durch das Stadtzentrum

In Anbetracht der allgemein umherschwirrenden und oftmals berechtigten Abneigung gegen Behörden mag der folgende Satz ein wenig befremdlich wirken, doch stehe ich hinter ihm beziehungsweise vor ihm, sobald er mit anzweifelnden Aussagen bombardiert werden wird.

Die Mitarbeiterin der Agentur für Arbeit war nett und kompetent. Zumindest jene, die ich bei meinem ersten Besuch antraf, jene, der ich zugewiesen wurde, nachdem ich versehentlich und vergeblich eine halbe Stunde lang an falscher Stelle gewartet und somit meinen Antragsübergabetermin um 14.35 Uhr verpasst hatte. Sie war nett, vielleicht weil auch ich beschlossen hatte, nett zu sein, obwohl ihr erster Satz "Aber das stand doch auf dem Zettel!" zu anderem verleitet hatte. Sie war kompetent, denn rasch arbeitete sie den Papierberg aus Antrag, Anlagen und Nachweisen durch, und obgleich sie meinen Antrag, also den auf ALGII, nicht die andere Art von Antrag, nicht annehmen wollte, weil diverse Unterlagen nachzureichen waren, und obwohl sie meinen nächsten Termin erst für zwei Wochen später festsetzte, hatte ich doch das Gefühl, so behandelt worden zu sein, wie ich es mir gewünscht hätte.

Der zweite Besuch war anders. Andere Frau, anderer Raum, andere Uhrzeit. Gleicher Antrag, allerdings um einige Unterlagen angereichert. Mir war bewusst, dass die Gewerbeanmeldung für die klitzekleine Firma, die ich zuweilen nebenbei betreibe, fehlte, doch ich hatte sie nicht finden können und erachtete meine Umsatzsteuerabrechnung für 2007 und diverse Berufsgenossenschaftsschreiben für beweiskräftig genug.

Als ich der zweiten Frau allerdings meinen Antrag samt Erweiterungen auf den Tisch legte, stöhnte sie auf. "Das ist ja gar nicht sortiert." Ich beruhigte sie. Doch, das ist es. Ich kramte den alten Antrag hervor, die einzelnen Blätter, die zwischengeheftet worden waren, erläuterte meine Anlagen und ließ mich auch nicht durch ihre zahlreichen Unterbrechungen aus dem Konzept bringen. Auch nicht durch ihre Verständnislosigkeit. Ich blieb nett und erwartete von ihr Gleiches. Nun ja.

Die Tatsache, dass ich in einer WG wohne, die ihre einzelnen Mietbeiträge selbst errechnet hatte, ohne dass der Vermieter seine Einwilligung dazu gab, brachte sie aus dem Konzept. Offensichtlich gab es kein Gesetz, keine Regelung, wo diese Ausnahme eingeordnet werden konnte. Sie war es nicht gewohnt, außerhalb ihrer Schienen zu denken, bemerkte ich und seufzte innerlich. Zum dritten Mal erklärte ich das Zustandekommen meiner Miete und was die einzelnen, deutlich beschrifteten Zahlen meiner sehr übersichtlichen Tabelle bedeuteten.

Letztlich lief es darauf hinaus, dass die Gewerbeanmeldung fehlte. Und nötig war. Dringend sogar. Wenn ich sie nicht innerhalb von drei Tagen eingereicht hätte, wäre die Woche vorbei, wäre der Monat vorbei, und sie müsste mir Antrag und Unterlagen unbearbeitet zurückgeben, auf dass ich den gleichen Kram noch einmal ausfüllte.

Von wegen!

Auf zum Gewerbeamt!, dachte ich. Ein kurzer Besuch auf dem Amt, ein rasches Ausdrucken der Gewerbeanmeldung, eine eilige Rückkehr, und alsbald wäre mein Antrag inklusive aller Nachweise vollständig. Doch wo befand sich eigebtlich das Gewebeamt?

Als ich das Gewerbe vor vier Jahren anmeldete, war das Gewerbeamt ein heruntergekommener Bau irgendwo abseits der Innenstadt, dort, wo man keine arbeitenden Beamten, sondern nur wohl situiert Wohnenden samt ihrer Häuser vermutete. Wo genau das gewesen war, wusste ich jedoch nicht mehr, und ob sich in der Zwischenzeit nicht etwas verändert hatte, ebenso wenig.

Also: Internet. Doch eine Heimkehr fand ich unsinnig und überaufwändig, und andere Zwischennetze waren nicht verfügbar.
Also: Telefonische Internetsuche. Ich rief meine Mitbewohnerin an, in der Hoffnung, sie in Rechnernähe anzutreffen, doch geriet nur an den Anrufbeantworter, dessen Spruch auch noch meine eigene Stimme wiedergab. Ich redete mit mir selbst. Ergebnislos.
Also: Oldschool-Suche. Gelbe Seiten. Wo bitte gab es die Gelben Seiten? Ich kann mich nicht erinnern, vor wievielen Jahren meine WG zum letzten Mal ein papiernes Telefonbuch besessen hatte, und konnte mir nicht vorstellen, dass überhaupt noch jemand, der freien Zugang zum weltweiten Netz besaß, freiwillig Jahr für Jahr dicke Wälzer von der Post nach Hause schleppte.

Die Post! Ich begab mich sogleich zur nächsten Postfiliale. Weil ich mich in der Innenstadt befand, also zur Hauptpost. Die Idee war gut und schlecht zugleich. Gut, weil von allen Orten der Erde die Hauptpost einer mittelgroßen Stadt noch am ehesten über ein Exemplar der Gelben Seiten verfügen wurde. Schlecht, weil die Menschenschlange, die sich mehr oder minder geduldig wartend im Filialraum gebildet hatte, enorme Länge besaß. Optimistisch geschätzte Wartezeit: Zehn Minuten. Realistisch geschätzte Wartezeit: ... Ich wagte es nicht, den Realismus auszupacken, sondern betrachtete die Schlange, rief laut und unangemessen euphorisch "Hurra!" und reihte mich ein. Die Minuten vergingen, und ich begutachtete die strategisch neben der Warteschlange aufgebauten Warenangebote. 3D-Papppuzzles verschiedener internationaler Sehenswürdigkeiten zum Beispiel. Wahnsinnig interessant.

"Was ist das überhaupt?", fragte der hinter mir Stehende.
"Das sind 3D-Papppuzzles verschiedener internationaler Sehenswürdigkeiten.", erklärte ich, und er schnaufte abwertend. Offensichtlich hatte dieser kleine Dialog ausgereicht, um eine Tür zwischen uns beiden zu öffnen, denn fortan war ich sein Ansprechpartner.
"Nur drei Schalter offen... Ewig warten... Das is doch kein Service!"
"Tja.", antwortete ich eloquent und unverbindlich. Ich mag es nicht zu warten, doch es wird nicht besser, wenn man sich auch noch darüber ärgert. Ich neige dazu, meine gute Laune bewahren zu wollen und die die offensichtlich hektisch arbeitenden Postfilialmitarbeiterinnen mit Freundlichkeit anstelle von Grummel zu bedecken.

"Hoffentlich hält das.", hörte ich eine ältere Dame sagen, die sich am Schalter 1 soeben nicht nur eine Rolle Packpapier, sondern auch ein überdimensional großes Paket griff und humpelnd den Ausgang suchte. Hin und wieder schleifte das Paket auf dem Boden. Oje, dachte ich, wo waren nur die Jungpioniere und Pfadfinder, wenn man sie brauchte. Wo waren die Altpapiersammler, Über-die-Straße-Helfer und Einkauf-nach-Hause-Trager, der zu sein ich einst erzogen wurde? Ich warf einen Blick auf die Menschenmasse vor mir, schätzte meine weitere Wartezeit optimistisch auf 15 Minuten, betrachtete die alte Dame, wie sie Stufe für Stufe dem Ausgang entgegenhumpelte, und fasste einen Entschluss. Ich rückte den Beschwerer hinter mir beiseite, drängte mich an allen anderen vorbei und gesellte mich zu der alten Frau.

"Wohin müssen sie denn?", fragte ich, auf das Paket deutend.
"Ach, auf den Werder.", seufzte sie, wissend, dass ich mit Sicherheit nicht willens wäre, ihr bis dorthin, Paket schleppend, zu folgen.
"Aber bis zur Straßenbahnhaltestelle kann ich's doch immerhin tragen.", meinte ich, und ihr Gesicht erhellte sich.
"Das wäre nett."

Wir gingen los. Das Paket war nicht schwer, nur klobig, und die Schnüre trugen sich sehr unangenehm. Die alte Frau humpelte auch ohne Paket, und wir kamen nur langsam voran. Macht nichts, dachte ich, denn ich kannte bereits mein nächstes Ziel. Und das lag sogar ein Stückweit Richtung Werder.
Wir betrieben Smalltalk. Sie erklärte, dass sie gerade vom Arzt käme, dass sie ja nicht gewusst hatte, wie riesig das Paket sei, dass sie den Postboten verpasst hatte, dass es Weihnachtsgeschenke seien, die ich trug, dass sie am Alten Markt umsteigen würde, weil doch wegen der Baustelle die Bahnen jetzt anders fuhren, dass es heutzutage nicht mehr so oft passiere, dass ein junger Mann... Ich sagte nicht viel. Musste ich auch nicht.

Die Straßenbahnhaltestelle rückte näher, und als wir sie erreichten, befand sich in meiner Hand plötzlich ein 2-Euro-Stück. Das hatte ich gewiss nicht beabsichtigt, und ich lehnte ab.
"Aber das ist doch nicht nötig..."
Wenn Omas Geld verschenken, wollen sie es nicht zurück, und ich wehrte mich nicht lange.
"Kaufen Sie sich etwas Süßes oder so.", drängte sie und akzeptierte nichts anderes.

Als die Bahn kam, stiegen wir ein. Zwei Haltestellen später würden wir aussteigen, sie, um zur Bushaltestelle zu wechseln, ich, um die Touristeninformation aufzusuchen. Denn wenn jemand etwas wusste, dann ja wohl eine Informationsstelle.
Die Bahn war voll, doch ich bewachte das klobige Paket und rückte nicht von der Stelle. "Nächste Haltestelle: Alter Markt". Blechern tönten ansagende Kinderstimmen aus den Lautsprechern, die Türen öffneten sich, wir stiegen aus und verabschiedeten uns, natürlich nicht ohne Dankesworte. Und bevor ich ging, hatte die alte Dame plötzlich noch eine Idee. Sie nahm ihre Rolle Packpapier, führte sie unter den beiden Paketschnüren hindurch – und schuf einen wunderbaren Tragegriff. Ich war begeistert. "So ist's besser.", meinte sie lächelnd und humpelte davon.

Die Touristeninformation war gleich um die Ecke, und ich musste Privatgespräche der Mitarbeiter unterbrechen, um mir Gehör zu verschaffen.
"Ich bin zwar kein Tourist, aber brauche trotzdem eine Information.", begann ich und fragte nach dem Gewerbeamt. Alternativ gingen auch die Gelben Seiten. Die ich auch gereicht bekam. Anstelle einer Infromation.
Während ich mich durch die blassgelben, bunt bedruckten Seiten wühlte, bekam ich vom Touristeninformanten einen guten Tipp:
"Warum gehen Sie nicht zur Stadt?"
"Zur Stadt?"
"Na, zum Rathaus. Der Portier weiß bestimmt Bescheid."

Gute Idee. Denn auch das Rathaus befand sich gleich um die Ecke. Ich blätterte noch ein wenig, ohne fündig zu werden, verabschiedete mich dankend und begab mich zum Rathaus. Der Portier war eine Frau, befand sich nicht in ihrem Glaskasten und humpelte.
"Ich suche das Gewerbeamt.", erklärte ich mich, denn bei allem odysseesken Herumgelaufe hatte ich mein Ziel nicht aus den Augen verloren.
Die Frau wusste Bescheid, und ich atmete auf. Sie setzte zu einer Erklärung an, doch unterbrach sich sogleich.
"Kommen Sie mit."
Sie humpelte zur Tür und deutete auf ein nebenstehendes Gebäude.
"Da ist der Eingang. Aber wie spät ist es? Kurz vor Zwölf. Da müssen Se sich beeilen."
Ich bedankte mich herzlichst und rauschte davon. Tatsächlich war es bereits Zwölf, denn sobald ich die Stufen zum besagten Gebäude betrat, läuteten Kirchenglocken.

"Ich möchte zum Gewerbeamt.", teilte ich dem weiblichen Portier mit.
"Zwei Treppen, dann erste Tür rechts. Raum 311. Aber beeilen Se sich."
Ich eilte, stürmte die Treppen hinauf, fand die Tür, klopfte, trat ein. Wieder unterbrach ich ein Mitarbeiterprivatgespräch, als ich meinen Wunsch äußerte.
"Ich weiß, es ist bereits 12 Uhr, aber ich bräuchte einen neuen Ausdruck meiner Gewerbeanmeldung.", sagte ich in reuevollem Tonfall.

Dass dieser Ausdruck haufenweise Geld kostete, bedarf keiner Erwähnung. Dass sich die Mitarbeiterin trotz der Uhrzeit ans Werk machte, jedoch schon. Und auch, dass sie bei der Kasse anrief, um mich anzukündigen. Die Kasse war ein Stockwerk höher gelegen und nach dem Bezahlvorgang hatte ich zu verkünden, dass ich der letzte sei. Kaum war ich wieder im Raum 311, wurde mir der Ausdruck ausgehändigt. Wuhuu!, dachte ich. "Danke.", sagte ich und verschwand.

Der weibliche Portier, für die mir noch immer keine passende Berufsbezeichnung eingefallen war, blickte mich fragend an, und ich winkte mit meiner Mappe. "Hat noch geklappt. Danke!", und ich wanderte davon, über den frisch eröffneten Weihnachtsmarkt Richtung Agentur für Arbeit.

Eine Straßenbahnfahrt, ein paar Meter Fußweg und allerhand Treppenstufen später stand ich vor der Tür meiner Sachbearbeiterin und klopfte. Keine Reaktion. Ich klinkte. Verschlossen. Mist.
Was nun?, überlegte ich, da kam plötzlich die Kollegin meiner Sachbearbeiterin vorbei, jene, die nicht nur mit ihr den Raum teilte, sondern auch noch Bescheid wusste.
"Haben Sie die Gewerbeanmeldung?"

Völlig außer Atem konnte ich nur nicken und ihr das kostbare Blatt reichen. Während sie kopierte, dachte ich an die alte Frau, der ich geholfen und an das Glück, das ich danach gehabt hatte. Karma? überlegte ich, die eigentlich mürrisch dreinblickende Kollegin gab mir die Gewerbeanmeldung zurück und wünschte mir freundlich einen guten Tag.

Montag, 24. November 2008

Bruno und Jürgen

"Sei vorsichtig! Die Klinge ist scharf!", sagte Bruno, der dicke Clown, und reichte Jürgen das Schwert.
"Haha!, grummelte Jürgen, denn als Schwertschlucker kannte er sich mit Klingen bestens aus.
"Nee, im Ernst!", meinte Bruno, "Die Klinge ist wirklich scharf!"
Wenn Clowns Dinge wie "im Ernst" und "ernsthaft" sagten, waren sie im Allgemeinen noch unglaubwürdiger als ohnehin schon. Insbesondere wenn sie schminkbedingt dabei hämisch zu grinsen schienen. So wie Bruno, der hämisch grinste.
"Is gut.", brummte Jürgen. "Schwerter sind nunmal scharf."
"Aber...", begann Bruno, doch Jürgen hatte bereits den Kopf gehoben und sich das Schwert tief in Mund und Rachen eingeführt. Eine Sekunde lang war es still. Dann errötete urplötzlich Jürgens kahler Schadel, reifte wie eine Tomate zu leuchtender Ampelfarbe. "Farf!", stöhnte Jürgen, der Schwertschlucker, und zog hastig das Metall aus seinem Gesicht.
"Scharf!", wiederholte er kurz darauf, nun verständlicher. Flammen züngelten zwischen seinen Lippen hervor.
Clown Bruno feixte. "Sag ich doch." Er reichte dem Schwertschlucker eine Flasche Chilisauce "Extra Scharf!!!".
"Dann werd' ich eben Feuerspucker.", meinte Jürgen gleichgültig und ging, während es grell aus seinem Mund loderte.

Mittwoch, 29. Oktober 2008

Mörder

"Geht es dir gut?", fragte ich leise. Die Frage erübrigte sich selbstverständlich. Die Maus war tot, und selbst wenn sie noch gelebt hätte, hätte sie vermutlich nicht geantwortet. Dennoch, ungeachtet der Unsinnigkeit meines Tuns, ungeachtet dessen, dass ich mit einem äußerst zweidimensionalen und äußerst leblosen Nagetier sprach, fragte ich noch einmal "Geht es dir gut?".
Die noch immer tote Maus zog es vor, weiterhin zu schweigen, und eine Träne kroch meine Wange hinab. "Ich werde dich rächen!", schluchzte ich. "Ich werde den Übeltäter finden und zur Strecke bringen!" Ich hatte sie nicht gekannt, die Maus, die ihr kleines, wertvolles Leben auf dem Asphalt ausgehaucht hatte, doch ich war nicht länger bereit wegzusehen, nicht länger willens, derartiges weiterhin geschehen zu lassen.
"Ich werde dich rächen!", stieß ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und stand auf. Der Baseballschläger schmiegte sich angenehm an meine Handfläche. Ich sah mich um. Die Straße war voller Autos, und unter ihnen gab es einen Mörder.
'Nur eine Frage der zeit, bis ich dich finde.', dachte ich wütend, schwang den Baseballschläger und begann mein Werk.

Donnerstag, 23. Oktober 2008

Ein Wildschwein!

"Ich hätte gern ein Wildschwein!", rief Elvira und nahm sich eine weitere Lakritzstange. Elvira hasste Lakritzstangen, und so war es nicht verwunderlich, dass sie angewidert auf die Süßigkeit in ihrer Hand blickte und diese dann – für ein achtjähriges Mädchen erstaunlich kraftvoll – aus dem Fenster warf.
"Das war bereits die fünfte.", dokumentierte ich milde.
"Lakritzstangen sind Iiieh!", meinte Elvira und hatte Recht. Lakritzstangen waren eklig. Eklig genug, um immer wieder welche zu kaufen und sie anschließend angewidert wegzuwerfen. Das hatten sie nun davon, diese widerlichen Dinger!
"Ein Wildschwein!", wiederholte Elvira und ihre Stimme nahm einen quengelnden Tonfall an.
"Was willst du denn mit einem Wildschwein?", fragte ich sanft. "Die sind doch immer so ... wild." Ein schlagkräftigeres Argument gegen ein Wildschweinhaustier fiel mir auf die Schnelle nicht ein.
"Von wegen 'wild'.", meinte Elvira. "Meerschweine sind ja auch nicht 'mehr', sondern eigentlich ziemlich klein. Also 'weniger'."
"Meerschweine heißen Meerschweine wegen des Meeres.", erklärte ich.
"Aber Meerschweine sind kein Meer. Sie sind noch nicht einmal nass!", rief Elvira. "Also sind Wildschweine auch nicht wild!"
"Aber Meerschweine können nass werden...", konterte ich schwach, doch Elvira unterbrach mich sofort.
"Nur, wenn jemand sie nass spritzt. Und das ist Tierquälerei!"
"Oder wenn sie sich bepullern."
Elvira stutzte. "Wenn sie sich bepullern?"
"Ja, wenn sie sich bepullern, werden Meerschweine nass. Also 'meerig'."
"Du meinst also", fragte Elvira zögerlich, "dass Meerschweine manchmal meerig sind?"
"Ja.", antwortete ich und führte den Gedanken fort, bevor sie widersprechen konnte. "Und wenn Meerschweine meerig sein können, können Wildschweine auch wild sein."
"Wenn sie sich bepullern?", meinte Elvira.
"Wenn sie sich bepullern.", sagte ich nickend und warf eine Lakritzstange aus dem Fenster.

Mittwoch, 15. Oktober 2008

Fiffi

„Fiffi!“, rief das Herrchen. „Fiffi, komm her!“

‚Fiffi!’, dachte Fiffi und schnaubte leise. ‚Wie blöd muss man eigentlich sein, um einen ausgewachsenen Tyrannosaurus Rex „Fiffi“ zu nennen? Und warum muss man sich überhaupt einen Dinosaurier als Haustier halten? Und ihn dann noch mit einem derart lächerlichen Namen strafen…?’

Fiffi war wütend. Seit mehreren Minuten versuchte das Herrchen mit penetranter Geduld, ihn zu dressieren, ihn, den König der Dinosaurier, zu erziehen, als wäre er ein rosa Schoßhündchen.

‚Dem zeig ich’s!’, dachte Fiffi und stapfte schnaubend auf das Herrchen zu. ‚Den werd ich fressen!’

‚Fiffi!’, rief das Herrchen noch einmal, doch dann lachte er. ‚Fiffi!, dachte er, ‚Was für ein bescheuerter Name für einen Regenwurm!’ Vergnügt steckte er die Hände in die Manteltaschen und ging nach Hause.

Freitag, 10. Oktober 2008

Ohne Termin

Ich hatte keinen Termin, brauchte allerdings auch keinen. Alles, was ich von meiner Hausärztin wollte, war eine Überweisung. Und die wollte ich noch nicht einmal von meiner Hausärztin, sondern von der im Empfangsbereich sitzenden Schwester, der Sprechstundenhilfe, die nun mal das Bürokratische abzuwickeln und die zahlreichen 10-Euro-Scheine in Empfang zu nehmen pflegte. Ich hatte keinen Termin, denn für das Ausstellen einer Überweisung, deren Aufwandsmaximum beim arztseitigen Unterschreiben liegt, benötigt man keinen Termin. Dennoch war es noch früher Morgen, als ich bei der Arztpraxis vorfuhr. Man konnte ja nie wissen.

Und tatsächlich: Es begann bereits. Die ältere Dame, an der ich eben noch vorbeigefahren war, nutzte die Zeit, die ich zum Anschließen meines Fahrrads brauchte, um mit einer für Trippelschritte erstaunlich hohen Geschwindigkeit an mir vorbeizueilen und kraftvoll, fast triumphierend, den Arztpraxis-Klingelknopf zu betätigen. Daraufhin geschah nichts - außer dass die Frau an der Klinke rüttelte, fest entschlossen, die Tür notfalls aus den Angeln zu reißen, wenn sie sich nicht freiwillig ergab. In meinem Kopf flehte die Tür bereits um Erbarmen, als die Omi abließ und mit großer Wucht ein zweites Mal auf den Klingelknopf drückte. Ein Moment der Stille. Nichts passierte. Erneutes Rütteln. Die Tür ging auf.

Ohne den Mann, der auf seinem Weg nach draußen die Tür geöffnet hatte, die Gelegenheit zu geben, ins Freie zu treten, sauste die Omi an ihm vorbei und auf die Arztpraxis zu. Die Verblüffung des Türöffners hielt lange genug an, dass auch ich vorbeiflitzen konnte, und so befand ich mich wenige Augenblicke später in der Arztpraxis, murmelte ein „Morgen.“ in die Runde, das mit gleichartiger Euphorie zurückgenuschelt wurde: „Mrgn.“

Meine Vordrängler-Omi, der ich mittlerweile wachsende Sympathien entgegenbrachte, klammerte sich bereits an den Tresen. Das Sprechstundenhilfe-Vorzimmer war nicht besetzt, doch würde es sicherlich jeden Moment werden. Und dann war es wichtig, die eigene Position gesichert zu wissen.

Es klingelte. Die Sprechstundenhilfe ließ sich nicht blicken und ohne zu zögern oder sich um die fragwürdige Rechtmäßigkeit ihres Tuns zu kümmern, betätigte die ältere Dame den Tür-Öffnungs-Knopf. Ich schaute wohl fragend, denn sie sah zu mir auf und sagte: „Das habe ich schon öfter gemacht.“ Ich glaubte Stolz aus ihren Augen blitzen zu sehen und lächelte ihr zu.
Als es ein weiteres Mal klingelte und sie ein weiteres Mal auf den entsprechenden Knopf drückte, hielt ich es bereits für normal.

Nach einer Weile des Wartens trat die Sprechstundenhilfe ein und betätigte sie zunächst den Türöffner. Unnötigerweise zwar, aber es war schön, dass sie überhaupt reagierte. Die ältere Frau erklärte ihr Anliegen, zeigte Zettel und Karten vor, und ich sah und hörte weg. Es fällt schwer, diskret zu sein, wenn man weniger als einen halben Meter hinter jemandem steht, doch ich versuchte mein Möglichstes.

Bevor die Sprechstundenhilfe die Omi auffordern konnte, im Wartezimmer Platz zu nehmen, war sie bereits davongeeilt und hatte einen Stuhl besetzt. Ich grinste, wandte mich der Sprechstundenhilfe zu und berichtete von meinem Wunsch nach einer Überweisung. Hinter mir warteten mittlerweile sechs oder sieben Menschen, und ich freute mich darüber, so zeitig eingetroffen zu sein. Außerdem freute ich mich darüber, ihnen einen Gefallen tun zu können, indem ich möglichst wenig Aufwand verursachte. Ungefragt hatte ich nämlich sowohl Chipkarte als auch einen Zehn-Euro-Schein aus meiner Tasche geangelt und auf dem Tresen platziert. Und nur wenige Augenblicke später war der Überweisungsschein ausgedruckt, und die Karte verweilte zusammen mit einer Quittung wieder in meiner Tasche.

‚Dann kann ich ja gehen.’, dachte ich und wollte mich bereits bedanken, als die Sprechstundenhilfe meinte: „Die Frau Doktor muss noch unterschreiben. Nehmen Sie doch solange im Wartezimmer Platz.“

Ich seufzte. Hätte ich Wartezeiten eingeplant, wäre ich mit einem Buch angerückt. Kurz überlegte ich, ob ich mir den Spiegel greifen sollte, der zwischen Bild-Zeitungen und Klatschzeitschriften noch ertragbar schien, doch entschied mich dagegen. Sicher würde ich nur wenige Minuten warten, da bedurfte es keines Börsencrashobamamccainypsilanti-Artikels, um Zeit zu vernichten. Ich setzte mich und versuchte, mir einen Comic auszudenken.

„Wollen Sie?“, wurde ich von links gefragt und erkannte sogleich meine sympathische Vordränglerin. Sie reichte mir den Sportteil ihrer Bild-Zeitung. „Nein, danke.“, antwortete ich lächelnd, jede Bemerkung über die Ekelhaftigkeit ihrer Lektüre vermeidend. Ihr anbietender Arm wich nicht. „Ich hab’s nicht so mit Sport. Und außerdem dauert’s bei mir sowieso nur ein paar Augenblicke. Das lohnt sich gar nicht.“
„Ach so.“, meinte sie und steckte den Papiermüll weg. „Ich dachte nur, weil ihr jungen Männer doch …“

Ich konnte mich nicht entscheiden. Waren ihre Sympathiewerte nun gesunken, weil sie – wie offensichtlich alle anderen Wartenden – Bild las, oder sollte ich sie aufgrund ihrer Freundlichkeit noch mehr mögen? Ich entschied mich für letzteres und dachte wieder an meinen Comic.

Gerade, als sich mir gegenüber eine Frau niederlies und mich verblüffte, indem sie ein Buch aufschlug, trat die Ärztin ins Wartezimmer. „Herr Morast?“, fragte sie, den Überweisungsschein hoch haltend. Ich stand auf, nahm ihr den gewünschten Zettel ab, bedankte mich und ging.

Mittwoch, 8. Oktober 2008

Eine Elefantengeschichte (mit Happy End)

Der Elefant stand in Onkel Rudolfs Wohnzimmer und nieste. Er hatte sich erkältet, weil der Winter nahte und Onkel Rudolf dazu neigte, unbedingt bei offenem Fenster schlafen zu wollen. Außerdem war Onkel Rudolf vergesslich, und wenn er einmal ein Fenster geöffnet hatte, konnte man davon ausgehen, dass er vergessen würde, es wieder zu schließen.

'Elefanten', dachte der Elefant, der keinen Namen besaß, weil Onkel Rudolf vergessen hatte, ihm einen zu schenken, 'Elefanten leben normalerweise in wärmeren Gefilden.' Dann seufzte der Elefant und korrigierte die Rechtschreibfehler auf seinem Ohr.

Onkel Rudolfs Vergesslichkeit war nicht neu, hatte sich über die Jahre jedoch gesteigert. Bis ihm eines Tages eine geniale Idee kam: Elefanten besitzen angeblich ein gutes Gedächtnis. Wie wäre es, sich einen Elefanten ins Zimmer zu stellen, der sich an alles erinnert, was er selbst, also Onkel Rudolf, vergessen würde? Wie wäre es, das eigene Gedächtnis outzusourcen?

Gedacht, getan. Knapp zwei Wochen später stand ein wunderschöner afrikanischer Elefant in Rudolfs Wohnzimmer. Eigentlich hatte Onkel Rudolf ihn ins Arbeitszimmer stellen wollen, aber aus irgendeinem Grund war ihm das entfallen. Außerdem passte die graue Faltenhaut des Elefant gut zur lindgrünen Wohnzimmertapete.

Anfangs war alles gut. Onkel Rudolf sagte irgendetwas, und der Elefant merkte es sich. Onkel Rudolf bekam einen Arzttermin, der Elefant merkte ihn sich. Onkel Rudolf beschloss, am nächsten Morgen zeitig aufzustehen, und der Elefant ... nun ja, ihr wisst Bescheid. Blöd war nur, dass Onkel Rudolf vergessen hatte, Elefantisch zu lernen. Genauer gesagt hatte er vergessen, dass Elefanten zwar Menschisch verstehen, aber nicht sprechen können. Also merkte sich der Elefant allerhand Sachen, gab sie aber nicht wieder preis.

"Der Elefant ist ja zu gar nicht nütze!", schimpfte Onkel Rudolf, und der Elefant weinte. Onkel Rudolf war kein böser Mensch, und so entschuldigte er sich höflich beim Elefanten. "Dann benutze ich dich eben als Tafel. Genug Platz ist ja."

Gesagt, getan. Onkel Rudolf nahm seinen Elefanthaut-Beschreibstift, den er zufälligerweise in seiner Hemdtasche fand, und begann, fortan seine Termine auf den Körper des Elefanten zu krakeln. Auf die Ohren, auf den dicken Po, ja sogar auf die Stoßzähne. 'Das kitzelt!', dachte der Elefant vergnügt, wenn Onkel Rudolf wieder eine wichtige Notiz machte, und freute sich seines Daseins.

Eine Zeitlang ging alles gut. Der Elefant, der nicht nur Menschisch verstehen, sondern auch lesen konnte, stupste den vergesslichen Onkel Rudolf hin und wieder an und deutete mit seinem Rüssel auf irgendeine Stelle seines wuchtigen Körpers: "17 Uhr Zahnarzt", "Elefantenfutter kaufen" oder "Haare kämmen.". Und – schwupps – erinnerte sich Onkel Rudolf und ging zum Zahnarzt, in den Elefantenfuttersupermarkt oder zum nächstbesten Haarekämmer.

Leider war Onkel Rudolf wirklich vergesslich. Es fing damit an, dass er vergaß, am Morgen die Fenster zu schließen. Als nächstes vergaß er, sich Dinge, die er nicht vergessen wollte, aufzuschreiben. Der Elefant half, so gut er kann, indem er sich einfach selbst beschrieb. Doch dann vergaß Onkel Rudolf, dass er einen Elefanten besaß. "Was machst du denn hier?", fragte er, wenn er mal wieder gegen den im Wohnzimmer stehenden Elefanten rannte – und hatte im nächsten Augenblick sowohl seine Frage als auch den Elefanten vergessen.

Und so stand der vergessene, aber nicht vergessliche Elefant in Onkel Rudolfs Wohnzimmer und nieste. 'So kann das nicht weitergehen!', dachte er. 'Ich muss etwas unternehmen!' Er grübelte und grübelte, doch als Onkel Rudolf nach Hause kam, war ihm immer noch nichts eingefallen. Onkel Rudolf schien es eilig zu haben, denn wie ein Berserker stürmte er in die Wohnung, rannte in die Küche, dann ins Bad und anschließend ins Wohnzimmer. Genauer gesagt gegen den Elefanten. Noch genauer gesagt mitten in dessen dicken, nicht unbedingt wohlriechenden Po.

"Iiieh!", empörte er sich, befreite sich vom Elefantenhinterteil und sah zum Elefanten auf. "Was machst du denn ...", begann er, doch zuckte dann mit den Schultern und lächelte. Der Elefant wunderte sich: Hatte Onkel Rudolf nicht eigentlich vergessen, wie man lächelte? Doch es gab noch mehr zu wundern, denn Onkel Rudolf meinte plötzlich: "Ich habe dir ja noch gar keinen Namen gegeben! Wie konnte ich nur?! Am besten, ich nenne dich Peter!"

Der Elefant trompeterte vor Vergnügen. Onkel Rudolf hatte offensichtlich völlig vergessen, dass er vergesslich war. Was für ein wundervoller Name! Was für ein wundervoller Tag!

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