Beinahe hätte ich es geschafft, mich selbst zu verhohnepiepeln [Allein für dieses Wort war es schön, diesen Satz geschrieben zu haben.] Der Wecker hatte seine Klingelei bereits überstanden und mich aus nicht erneut abrufbaren Träumen gescheucht. Und doch lag ich noch immer hier, in das Gefühl gestopft, gerade aufzustehen, obgleich mein regloser Körper unter verlockend nachtwarmer Decke keiner Bewegung frönte und meine Augenlider langsam gen einlullender Schwärze sanken. Gerade mal fünf Sekunden konnten vergangen sein, da schreckte ich auf, starrte auf die fehlenden Minuten, die die leuchten Zeitanzeige verschlungen haben musste, und sprang aus dem Bett, bevor ich es mir anders überlegen konnte. Das grelle Badezimmerlicht fand mich, und mit ihm ein Lied aus der Vergangenheit.
Manchmal vergesse ich, dass ich Aufstehen mag. Ich mag es, nicht lange zu zögern und bereits bei den ersten Weckerlärmversuchen aus dem Bett zu fliehen und den gen Bad zu stürzen. Ich bin nicht wach, doch die Dusche ändert das. Langsam öffnen sich meine Sinne, und wenn ich Glück habe und mich die Müdigkeit nicht allzu sehr lähmt, gedeihen bereits die ersten Ideen in meinem Kopf.
Wohlig gewärmt und gründlich gereinigt schlüpfe ich in die Kleidungsstücke, die mein vergangenes Ich freundlicherweise bereitlegte. Ich danke ihm und genieße das Gefühl frisch gewaschener Stoffe auf meiner Haut. Ich beeile mich, nicht viel, nur genug, um der kühlen Luft, die durch die offene Terassentür in das Schlafzimmer und an meinen Körper dringt, keine Gelegenheit zu geben, mich frieren zu lassen.
Dann frühstücke ich. Ich lasse mir Zeit, liebe es, den Tag mit entspannter Ruhe einzuläuten, nicht alle kommenden Aufgaben umgehend nach dem Aufstehen auf mich einstürzen zu lassen. Und auch wenn das Frühstück nicht immer hochwertig ist und allzu oft nur Müsli in meinem Mund zermalmt wird, so reicht es doch, um mich angenehm zu füllen und das Gefühl zu bestätigen, dass dies ein guter Tag werden könnte.
Und dann finde ich den Ohrwurm in meinem Kopf, entdecke, dass es nicht einer, sondern zwei sind - und dass mir beide gefallen. Leise singe ich mit, springe von einem zum anderen Lied, von Katatonia "Omerta" zu Ethereal Blue "Goliadkin" und laufe vergnügt durch die erwachende Stadt.
Im Wohnzimmer dudelte immer das Radio und warf die besten Hits der Siebziger, Achziger und von heute in den Raum. Wenn ich meinen Vater fragte, wer dieses oder jenes Lied sang, bekam ich immer eine Antwort. Allerdings selten eine ernst gemeinte. "Manfred Mann's Earth Band" sagte er häufig, und ich musste erst erwachsen werden, um zu erfahren, dass dieser skurrile Bandname kein Produkt seiner Fantasie war.
Songs, deren Interpreten er immer erkannte, würde man heute vielleicht dem Classic Rock zuordnen. ELO und CCR waren Abkürzungen, die mich faszinierten, und als ich irgendwann verinnerlicht hatte, dass es sich dabei um Electric Light Orchestra und Creedence Clearwater Revival handelte, fühlte ich mich ein wenig stolz.
Mein eigener Musikgeschmack entwickelte sich, und es wurde offensichtlich, dass die Rock- und Hardrock-Vorlieben meines Vaters ihren Einfluss ausübten. Als ich irgendwann einer CCR-BestOf von Anfang bis Ende lauschte, stellte ich erfreut fest, dass mein Vater, wenn man von gelegentlichen Abrutschern zu BAP oder den Rolling Stones absah, offensichtlich durchaus gute Musik hörte.
Das Hallenser Beatles-Museum jedoch lieferte mir einen Schock. Auf einer Charttabelle aus dem Jahre 1969, in der irgendein Beatles-Album an der Spitze stand, befand sich "Green River" von Creedence auf Platz 2. Auf Platz 2! Mein Vater war Mainstream gewesen, hatte Chartmusik gehört! Zwar erst Jahre nach der Veröffentlichung des Albums, aber trotzdem: Mein Weltbild schwankte.
Doch dann machte ich mir klar, dass die damaligen Möglichkeiten, "alternative" Musik zu vernehmen, sicherlich beschränkt gewesen waren. Technikbedingt und überhaupt. Und dass CCR eindeutig gut waren, unabhängig von irgendeiner Tabellenposition.
Weniger gut hingegen waren ABBA. Meine Mutter erzählte mir einst, dass sie ABBA eigentlich immer gemocht hatte, und meine Weltbild geriet erneut ins Wanken. Das Wohnzimmerradio mochte ABBA, dudelte tagtäglich den einen und anderen Song vor sich hin, und jedes Mal befiel mich ein Gefühl leichten Ekels. Ich konnte es mir nicht erklären, doch ABBA war widerlich.
Und ist es bis heute. Als in den Neunzigern Ace Of Base als die neuen ABBA bezeichnet wurden, bloß weil sie auch aus Schweden stammten, vererbte sich meine ABBA-Abneigung umgehend. Und als ich heute früh erwachte, und ABBAs "Lay All Your Love On Me" durch meinen Kopf tönte, verblieb mir nur, einen geplagten Seufzer in die Welt zu werfen und zu hoffen, dass der Tag andere Ohrwürmer bereithalten würde.
Mit meiner Mutter versöhnte ich mich übrigens schnell. Schließlich mag sie Deep Purple und neigt sogar bei finstersten Metalsongs dazu, nickend zu kommentieren: "Das klingt ganz gut."
Schon in der zweiten Klasse wurde festgestellt, dass meine Sehfähigkeit brillenbenötigend schlecht ist. Wenn ich mir später, ohne Kontaktlinsen zu besitzen, selber eine Brille aussuchte, setzte ich mir beim Optiker das unbeglaste Gestell auf die Nase und trat bis auf zehn Zentimeter Abstand an den Spiegel heran - weil ich erst dann scharf genug sah, um das Aussehen beurteilen zu können.
Mittlerweile benutze ich Kontaktlinsen, "Haftschalen", wie sie einst genannt wurden, und auch wenn der Weg zum Bad ein kurzer und mir bekannter ist, greife ich als erstes nach dem Aufwachen nach der Brille. Beziehungsweise als zweites. Zunächst widme ich mich dem Wecker. Dann stülpe ich mir das Nasenfahrrad über das Antlitz [Wuhuu! Weitere antiquierte Begriffe.], um die fünf Schritte in Richtung Kontaktlinsenbehälter zu überwinden und mir eine andere Art des Sehens einzuverleiben.
Bereits als Kind befürchtete ich, dass ich irgendwann erblinden könnte. Beziehungsweise ich versuchte, mich auf den Gedanken vorzubereiten, versuchte, mich schon während des Sehenkönnens an ein Leben ohne Augenlicht zu gewöhnen. Ich nahm mir die Angst. Beispielsweise liebte ich es [und liebe es noch immer], auf gerader, freier Strecke die Augen zu schließen und einfach loszulaufen. Es erstaunt mich immer wieder, dass ich meinen Rekord von ungefähr 40 Schritten nicht zu brechen vermag. Meine Fantasie spielt mir einen Streich, zaubert Bäume und Pfeiler auf den imaginierten Pfad, lässt mich vor Widerstände rennen und Schluchten hinunterstürzen. Selbst wenn eine Hand ein Brückengeländer entlanggleitet, meine Laufrichtung also gesichert ist, male ich mir unfreiwillig aus, wie Menschen mir entgegenrennen oder plötzlich der Asphalt unter meinen Füßen fehlt.
Wenn ich morgens aufstehe, verzichte ich auf Licht. Natürlich, der Badebesuch erfolgt lichtuntermalt, anders liefe eine Gesichtsenthaarung wohl kaum unbeschadet ab. Doch das Aufstehen selbst und auch das spätere Bekleiden erfolgen, sofern es die Jahreszeit zulässt, in morgendunklem Zimmer. Die Kleidungsstücke liegen bereit, und dennoch muss es ein unschöner Anblick sein, mich beim Ertasten des Sockenknäuels zu beobachten. Aber niemand sieht zu. Und selbst wenn: Es ist dunkel.
Ein Teil von mir erhofft sich, durch dieses morgendliche Verweilen in Finsternis noch ein wenig Restschlaf zu erhaschen, noch ein wenig Ruhe zu bewahren, bevor der Tag sich entgültig entfaltet. Und gleichzeitig setze ich fort, was ich vor Jahren begann, bereite mich, auch wenn es unnötig erscheint, darauf vor, irgendwann des Sehens nicht länger fähig zu sein, irgendwann durch dauerhafte Nacht schreiten zu müssen.
Immerhin hätte ich dann noch die Musik. Und mit ihr Ohrwürmer. Zum Beispiel jenen, der mich heute Morgen zum wiederholten Male fand - und dennoch, allein aufgrund seiner Schönheit, Erwähnung finden soll:
Verschlafen. Ein großes Wort für eine Sache, deren Bedeutung für mich kaum existiert. Schließlich bedarf es keines präzisen Zeitpunkts, zu dem ich meiner Arbeit nachzugehen habe. Ich habe freie Auswahl, und solange ich die erforderlichen Stunden erbringe, ist sogar mittägliches Auftauchen akzeptabel.
Wenn das Erwachen eine Stunde nach dem Weckerklingeln erfolgt, ist es also nicht Panik, die mich erfüllt. Nur ein Seufzen verlässt meine Lippen, bevor ich in derselben Geschwindigkeit wie jeden Morgen den Weg zum Bad suche, um mich dort der Reinheit und allmählichem Entmüden hinzugeben.
Allmählich spüle ich schläfrige Trägheit von meinem Leib. Ein Ohrwurm meldet sich plötzlich zu Wort, singt "Runaway Train" in meinem Kopf. "Runaway Train"?, wundere ich mich, und mein noch dämmriges Denken braucht eine Weile, um nicht nur Melodie und Refrainfragmente, sondern auch den Interpreten hervorzukramen. Soul Asylum.
Mit der Erinnerung kommt auch die Erinnerung daran zurück, dass das Video damals lauter vermisste Kinder zeigte - und wohl erfolgreich ein paar von ihnen zurückbrachte. Und daran, dass ich den Song eigentlich nie mochte.
Als ich ein paar Minuten später Müsli in mein Antlitz schiebe, ist es plötzlich "Fjara", das durch meinen Schädel wurmt. Sólstafir also. Schon wieder. Ich schmunzle zufrieden, und ein paar Haferflocken fallen mir aus dem Mund.
[Dies ist nicht mehr als der Versuch, eine totgeglaubte Rubrik zu reanimieren, beziehungsweise wild und relativ zusammenhangslos vor mich hin zu schreiben.]
Wenn irgendwo ein Fernseher läuft, habe ich Schwierigkeiten wegzusehen. Gesprächsverläufe leiden, bloß weil hinter meinem Gegenüber ein Bildschirm flackert. Vor dem Fernseher einzuschlafen, vermag ich nicht - und das nicht nur, weil ich keinen Fernseher besitze.
Seit kurzer Zeit besitze ich aber eine für mein Telefon geeignet Lautsprecheruhr. Radioweckeresk wird mir die Zeit angezeigt (was mir Halbblinden erst bei Minimalentfernung von Nutzen ist), und wenn ich den im Telefon integrierten Musikabspieler mit den Lautsprechern kombiniere, ertönen erquickliche Klänge in ebensolcher Qualität.
Hörbücher böten sich an, vor dem Einschlafen vernommen zu werden, bis der Geist selig von dannen schlummert. Doch Hörbücher sind Fernseher für die Ohren. Stundenlang läge ich wach und lauschte dem Vorgelesenen. Oder ich verlöre die Geduld und schaltete das Gerät manuell ab. An ein sanftes Wegnicken wäre nicht zu denken.
Mit Musik klappt es. Manchmal. Wenn meine Stimmung der des Lautguts entspricht. Wenn sie leise genug ist, um nicht zu stören. Wenn ich den Text nicht gut genug kenne, um mich ständig davon abhalten zu müssen, um Geiste mitzusingen. Wenn die Müdigkeit mich bereits zu zwei Dritteln verspeiste und mir meine Umgebung relativ egal wurde.
Dann klappt es. Dann kann ich den Geist treiben lassen und zu angenehmer Abendausklangsmelodie in den wohlverdienten Schlaf gleiten. Dann kann ich mich in den letzten Wachminuten noch entspannt und erfreut dem Ohrenschmaus hingeben und jeden Gedanken durch Lieblingstöne ersetzen lassen. Dann klappt es.
Und so ist es nicht verwunderlich, dass ich manchmal nach dem Aufwecken - für das abermals die Telefon-Uhr-Lautsprecher-Gerätekombination zuständig ist - Restklänge in mir herumtrage, einen Ohrwurm in mir entdecke, der mich unter die Dusche begleitet und somit den neuen Tag einläutet.
Gestern lauschte ich dem Neuwerk der isländischen Band Sólstafir. "Svartir Sandar" heißt das Album, und begeistert mich nicht weniger als dessen Vorgänger "Köld". Doch nicht einmal das erste Lied "Ljós o Stormi" hatte ich vollständig anhört. "Tut mir Leid.", hatte ich gemurmelt und mich der Übermacht des Schlafes hingegeben.
Dennoch blieb mir Sólstafir im Kopf und begrüßte mich beim Erwachen. Allerdings haben meine Isländischkenntnisse einen Hang zur Nichtexistenz, und so ist es nicht verwunderlich, dass sich mein Kopf über Nacht klammheimlich ein englischsprachiges Lied vom Vorgängeralbum wählte, um es mir am Morgen als Ohrwurm zu präsentieren.
"Love is the devil / and I'm in love" sang ich also innerlich, und fragte mich, ob auch nur eine der beiden Zeilen wahr sei.
Wenn ich das Auto nutze, das mein Bruder normalerweise fährt, neige ich aus Faulheit dazu, die eingelegte Musik beizubehalten, den tatsächlich neigen unsere Musikgeschmäcker dazu, sich zu ähneln.
Ich konnte bisher weder mit Motörhead noch mit Iron Maiden etwas anfangen, doch weil er stets äußerst begeistert von diesen Musikformationen schwärmte, ließ ich das Maiden-Album in Autoradio, während ich Hunderte Kilometer auf deutschen Autobahnen zurücklegte. Nach einer Weile nervte mich "Fear of the Dark", doch war kein Anlass, andere Musik auszuwählen. Erst als ich zum gefühlt zehntausendsten Mal "Rime Of The Ancient Mariner" vernahm, hielt ich es nicht mehr aus. Während der Fahrt öffnete ich das Handschuhfach, nahm das nächstbeste Album heraus, ohne einen Blick darauf zu werfen, und legte es ein.
Es war Blind Guardians "A Night At The Opera". Obwohl ich Blind Guadian früher sehr mochte, hatte ich damals, 2002, als dies Album herauskam, nichts damit anfangen können. Es sei überproduziert, hieß es, und obwohl ich mir unter dem Begriff nicht viel vorstellen konnte, fühlte er sich richtig an. Einzig "And Then There Was Silence", ein 16-Minuten-Stück gefiel mir wirklich.
Mein Bruder hingegen mochte das ganze Album, mag es immer noch. 'Nun gut', dachte ich, 'Wenn er es mag, habe ich mich vielleicht nicht lange genug damit beschäftigt.'
Also hörte ich hunderte Kilometer lang "A Night At The Opera". Erneut und immer wieder.
Das Album steckt noch immer im Autoradio, doch es ist mir trotz aller Beschäftigung, trotz diverser Mitsingversuche und Favoritenlieder nicht gelungen, es zu mögen.
Aber als ich heute morgen erwachte, erklang "Battlefield" in meinem Kopf, ein komplexer Song, von dem ich nicht viel mehr als ein paar Zeilen mitzusingen imstande bin, der mich dennoch nicht losließ.
Jedoch ob er mir gefällt, vermag ich nicht zu sagen.
There on the battlefield he stands
Down on the battlefield he's lost
And on the battlefield it ends
Der heutige Ohrwurm beim Erwachen war "Glass Slipper" von The Dresden Dolls. Das ist wenig verwunderlich, da ich mir diesen Titel zusammen mit anderen desselben Interpreten in den letzten Tagen häufiger zu Gemüte führte. Aber da dieser Song wunderschöner Natur ist, soll er hier erwähnt und ausschnittweise zitiert werden:
"how many wishes do i still have left to fix the way it ends
how many princes will it take to put a girl like this back together again
how many instances can you point out where i was less than kind
how many happy endings do you need to change your fucking mind
and how much time do we have left before it's midnight and
you see that i was never the right size?" The Dresden Dolls - "Glass Slipper"
Die Wiederbelebung einer alten Rubrk äußerte sich an diesem Morgen mit einem wundervollen Song der Magdeburger Band Chase The Dragon. Selbige, bestehend aus einem Akustikgitarristen/Sänger und einem Keyboarder, komponierten "5/4", den Ohrwurm, der heute morgen nach dem Erwachen meinen Schädel angenehmerweise besetzte, und das, obgleich der gestrige Tag keineswegs ein Drachenjägerlied an mein Ohr gespült hatte.
"And so sometimes
It's better to let the melody
speak out
what you cannot speak out yet"
Als ich erwachte, spürte ich in mir die gute Laune kichern. Den Wecker beruhigte ich mit den Worten "Ist ja gut, Süßer."- und einem liebevollen Knopfdruck. Durch das geöffnete Fenster klang das Gebrabbel eines Radiosenders, das ich für Russisch hielt, und für einen Moment wähnte ich mich im Urlaub.
In meinem Kopf klang ein Ohrwurm, lange nicht mehr vernommen, doch noch vor dem Duschen in voller Länge konsumiert:
Muse - "Stockholm Syndrome" "this is the last time I'll abandon you
and this is the last time I'll forget you
I wish I could