Es bedarf keiner tieferen Gedanken, keiner eingehender Überlegungen, um immer wieder zum gleichen Ergebnis zu kommen, um das zu entdecken, was ich schon tausendfach entdeckte, ohne daraus Nutzen beziehen, ohne das Unabwendbare abwenden zu können. Schließe ich die Augen, träume ich. Öffne ich die Augen, träume ich. Mein Dasein perlt vor sich hin, eine endlose Verkettung von Wünschen und Gedanken, immer wieder der Realität entfliehend, dem Wirklichen entkommend, zurückkehrend, um neue Eindrücke zu sammeln, neue Phantastereien zu erdenken, neue Träume zu malen. Atme ich, träume ich. In jedem Flüstern, in jedem Lächeln, in jeder Berührung sehe ich Leben, sehe ich Dinge, deren einzige Bestimmung es sein könnte, mein Wünschen zu heilen, zu verwirklichen, mir nahezubringen, einen Augenblick aus Ewigkeit zu schenken. Ich singe: Halt mich, schreie: Sieh mich, hoffe: Küss mich, träume: Lieb mich, schreite voran und falle in meine altbekannte Unwirklichkeit zurück. Gleiche Gesichter, andere Gesichter, andere Namen, gleiche Namen. Bedenke ich mich selbst, sehe ich nur Angst - und Hoffnung. Die Hoffnung, daß die Hoffnung niemals vergehe. DIe Hoffnung, daß es bald - endlich - keiner Hoffnung mehr bedarf. Die Angst vor einem Ende der Hoffnung. Die Angst vor einer Ewigkeit des sehnsüchtige, ergebnislosen Hoffens. Ich lächle in die Ungewißheit hinein, und meine Gedanken sehen in wirren Formen bezaubernde Muster, verführende Zusammenhänge, nicht wirklich, nicht wahr, aber vielleicht doch, vielleicht ja doch, bauen ein glitzerndes Schloß aus Licht, Hoffnung. Ich sehe mich träumen, sehe mein Lächeln und weiß, daß es vergebens sein wird, weiß, daß in wenigen Augenblicken Welten kollabieren werden, daß ich erneut auf staubigem Grund stehend versuchen werde, den Blick zum Himmel zu richten, die alte Sonne, die alte Hoffnung, die neuen Sterne, die neuen Hoffnungen, wiederzufinden, neuzuentdecken. Ich kann mich nicht halten, will mich nicht halten; schon schwebe ich nach oben, durch Wolken, durch Wirklichkeiten, denke nicht länger, was möglich, was wahr, rette mich in eine Flucht hin zum Traum. Für einen Augenblick bin ich frei. Der erneute Sturz ist unausweichlich, das Zerbrechen, das Auferstehen. Ich sehe mich, sehe, wie ich mich betrachte, wie ich einst mich selbst beobachtete, steigend, fallend, wissend, daß all dies schon tausendfach geschah - und immer wieder geschehen wird. Atme ich, träume ich. Ich schenke der Zukunft ein Lächeln, ein Lächeln aus Liebe, vermisse ihre Schönheit schon jetzt.
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morast - 12. Apr, 22:50 - Rubrik:
Geistgedanken
Nachdem ich mich 1999 erstmalig als Betreuer in einem wahrlich unspektakulären Kinderferienlager unweit Dessau betätigt und erstaunliche brave und freundliche Jungs im Alter von 8 bis 14 Jahren beaufsichtigt und unterhalten hatte, hielt ich mich 2003 für bereit, zusammen mit meinem Freund M eine Spanienreise anzutreten: als Betreuer und Entertainer von insgesamt 15 Jugendlichen.
Das vorbereitende und einweisende Treffen hielt nur wenig Nützliches bereit; wir ahnten kaum, was auf uns zukam: Zehn Mädchen und fünf Jungen, allesamt im wenig kontrollierbaren Alter von 15 oder 16 Jahren, die mit der, vom Reiseveranstalter bewußt angedeuteten Absicht nach Spanien gefahren waren, sich täglich besinnungslos zu trinken und zwischendurch in sämtlichen verfügbaren Diskotheken bis in die Morgenstunden rumzuzappeln und zu treibenden Beats und poppigem Liedgut abzuhängen.
Ständig mußten wir verbieten, erlauben, Diskoeintritte erwirken, kreativ die Abende und Nachmittage füllen, die Kinder beschäftigen, auf ihr Geld achten, trösten, heilen, retten, helfen, unterhalten usw.
Am Ende der zehn Tage, denn viel mehr waren es wirklich nicht, obgleich wir anderes hätten beschwören können, initiierten wir ein Neptunfest. Ich hatte in meinem Ferienlagerleben genug Erfahrungen gesammelt, um kluge und weniger kluge Ratschläge geben zu können, und auch M wußte Bescheid, was zu tun war.
Wir wählten drei Kinder aus, die getauft werden sollten, zwei Mädels und einen Jungen, ein mathematisch exakt ausgewogenes Verhältnis. Mit der mir eigenen Liebe zu detaillierter Feinarbeit erstellte ich Taufurkunden, die ich niemals hätte weggeben sollen - so toll fand ich sie. Wir erfanden amüsante Taufnamen, zwei böse, einen netteren, erdachten uns den Ablaufplan.
Es fehlte an allem. Wir hatten kein Geld, kein Boot, keine Leute. Zuerst rekrutierten wir also den stärksten und größten der Jungs als zweiten Häscher. Auf Nixen wurde verzichtet, M sollte der erste Häscher sein. Und ich - ich war Neptun.
Als das feststand, war das Grinsen auf meinem Gesicht nicht mehr zu entfernen.
Das Grinsen wuchs, als wir die Zutaten für den Ekeltrank einkauften. Kakao, Brause und Wasser für die Flüssigkeit, Mehl für das ekelhafte Aussehen, Ketchup, Zahnpasta und Marmelade für den perversen Geschmack, ... M hatte extra einen riesigen Metalleimer und eine nicht minder riesige, eindrucksvolle Metallkelle besorgt, die uns gute Dienste leisten sollten.
Die Brühe stank erbärmlich. Wir hatten sie nach der Zubereitung im Bad aufzubewahren. Ich wagte es, sie zu kosten: Erträglich - aber nur anfangs. Der Nachgeschmack war nahezu tödlich.
Ich hatte mir eine Art Fischernetz geknüpft, das ich mir um die Hüften band. In ihm zappelten ein Fisch und eine Krake - aus Pappe natürlich. Mein grünes Badehandtuch sollte als Umhang dienen. Wir fanden noch Kreppapier, das uns als Stirn- und Armbänder nützte. Ich trug zusätzlich, um meiner Bösartigkeit Ausdruck zu verleihen, ein Nietenarmband und meine Sonnenbrille. Unsere Oberkörper waren nackt, doch abstruse Malereien verunstalteten, verzierten unsere Leiber. Ich wurde mit einem Dreizack bemalt, M und der andere Häscher erhielten finstere Totenkopfzeichnungen auf Bauch und Rücken. Gruselig.
In meiner rechten Hand hielt ich meinen Dreizack, aus Holz und Pappe angefertigt, mit Kreppapier bestückt. An meiner Hüfte baumelte eine kleine, ebenfalls bemalte Baumwolltasche, beinhaltete die wichtigen Urkunden - und meine Rede.
Alles war vorbereitet. Es konnte losgehen.
Zunächst begleitete M die Kinder zum Strand, brachte sie dorthin, befahl ihnen, sich nicht von der Stelle zu rühren, nicht baden zu gehen, nicht zu entweichen. Sie plazierten sich nahe dem Wasser, inmitten von Holländern. Underdessen verzierte ich den zweiten Häscher und verwandelte mich zum Neptun. M kam zurück, wurde bemalt, bekleidet. Nun sollte es sein.
Wir hatten kein Boot, konnten nicht vom Meer aus an den Strand gelangen, hatten also beschlossen, ein Stück an der Strandpromenade entlangzuwandern, dann zum Strand herüberzuschwenken und das Stück Weg zurückzugehen, direkt am Wasser, wo wir dann auf unsere Kinder stoßen würden.
Es war ein Bild für die (Meeres)Götter. Ich lief voraus, barfuß, mit stolz geschwellter, grünbemalter Hühnerbrust, mit grünem Gesicht, Dreizack und flatternden Haaren. Hinter mir gingen die beiden Häscher, nicht minder schrecklich anzusehen, mühsam den Brühe-Eimer tragend.
Ich grinste, grinste wie noch nie: Ich war Neptun, ich war der Gott des Wassers, der Meere, war der Herr. Die Passanten schauten verdutzt, belustigt, verständnislos. Doch niemand hielt uns auf.
Der Weg am Strand war mühsam und beschwerlich. Der Sand hinderte uns am Gehen. Ständig liefen Kinder und Badende in den Weg, blickten uns an, als hätten sie Geister gesehen. Ich sah nicht herab, meine Nase zeigte zum Himmel. Ich war Neptun.
Unsere Kinder entdeckten uns bald, erkannten uns nicht, erkannten uns doch, jubelten, wunderten sich. Westdeutschen Jugendlichen scheint Neptunfest kein Begriff zu sein.
Ich bezog Position. Das Gelände war leicht abschüssig, unter mir lagen und saßen die verdutzten Opfer, gespannt, unsicher. M und der andere Häscher setzten den Eimer ab, verschränkten die Arme, versuchten, bedrohlich zu wirken.
Ich spreizte die Beine, stand sicher, in machtvoller Pose, den Dreizack haltend, setzte an zu meiner Rede. Meine Stimme schallte über den Strand, war voller Wut, voller Herrlichkeit. Ich war Neptun, Gott, Herrscher, König, Erhabener, Richter, hatte den langen Weg vom Grund der Meere, aus den versunkenen Trümmern von Atlantis, gemacht, um Rache zu üben, um Recht zu sprechen, um Unheil auszumerzen, um zu bestrafen. Alle anderen waren Opfer, Sündige, Schuldige, waren niederes Gewürm, nichtig und klein, sollten vernichtet werden, zertreten.
Ich verkündete, was geschehen sollte: Stellvertretend für alle sollten einige besonders garstige Bösewicht die Strafe erhalten, die ich ihnen zugedacht hatte. Hinterhältig grinsend rührte M in der Ekelbrühe herum, ließ sie plätschernd von der Kelle in den Eimer träufeln.
Als ich den ersten Namen verlas, geschah nichts. Das Mädchen wußte nicht, daß es besser war für sie, zu rennen, zu fliehen, hinfortzueilen, wußte nicht, was ihr bevorstand. Die Häscher hatten keine Mühen, fingen sie, hielten sie fest, legten sie auf den Sand.
Ekelbrühe füllte eine Kelle, fand ihr Gesicht, ihre Lippen. Sie wehrte sich, doch vergebens. Der zweite Häscher hielt sie, M schüttete, immer wieder. Irgendwann erreichte die Ekelbrühe ihren Mund, ihre Zunge. Angewidert verzog sie das Gesicht, spuckte aus, schluckte noch mehr.
Ich zückte die Taufurkunde, verlas ihren Taufnamen, wies die Häscher an, sie ins Meer zu stürzen, auf daß sie sich dort ihrer Sünden bereinigte. Die Häscher legten sie vorsichtig ins Wasser, vermieden jede Verletzungsgefahr. Wütend, angeekelt verzog sie das Gesicht, nahm ihre Urkunde in Empfang, war sprachlos. Doch es mußte weitergehen.
Ein weiterer Name sollte verlesen werden. Die Jugendlichen starrten mich an, gespannt, ängstlich vielleicht. Ich konnte das Grinsen nicht unterdrücken. Der Nächste war der Junge, ein dicklicher, überheblicher Fratz, eigentlich sympathisch, aber stetig den Mittelpunkt suchend, ein stachliger Kugelfisch. Er hatte begriffen, was ihn erwartete, hatte begriffen, daß eine Flucht sinnvoll wäre - und sobald ich seinen Namen aufgerufen hatte, rannte er, rannte er zum Wasser, am Meer entlang.
Er kam nicht weit. Sein Kumpel, Häscher 2, war schneller, fing ihn, ergriff ihn, hielt ihn. M trat hinzu, und der Kugelfisch wurde zu seiner Taufe getragen. Das gleiche, schreckliche Spiel.
Das letzte Mädchen rannte auch, doch nur kurz, war nicht schnell genug, nicht wirklich willens zu fliehen, wußte bereits um die Vergeblichkeit ihre Bemühungen. Die Häscher hatten sie bald. Wir tauften auch sie.
Dann war es vorbei. Der vorletzte Tag ging zur Neige. M, der Häscher und ich, entledigten uns unserer Kostüme, gingen baden, versuchten vergeblich, die Farbe zu entfernen. Ich war erleichtert. Beglückt. Nicht alles war perfekt, doch es hätte tausendfach schlimmer werden können.
Die Jugendliche gesellten sich zu uns, stellten neugierige Fragen. Was war in der Brühe [wir verrieten nichts - außer "Rattenkadaver und Plumskloablagerungen"]? Warum war Häscher 2 gewählt worden? Warum war der-und-der nicht getauft worden? etc.
Die Stimmung schwenkte um - in unsere Richtung. Plötzlich waren wir nicht mehr die Bösewichte, sondern Helden, hatten ein Erlebnis verschafft, das einmalig war. Die Taufurkunden wurden gewürdigt; und schließlich wollte jeder getauft werden - ohne Ekelbrühe natürlich.
M und ich grinsten uns an.
Neptun und seine Mannen hatten Geschichte geschrieben.
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morast - 12. Apr, 19:01 - Rubrik:
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