Sonntag, 10. April 2005

Ferienlagererlebnisse, Teil 4

1996 war ich in Spanien, wieder in einem Kinder- und Jugendferienlager.
Ich war mit meinem besten Freund gereist, mit meinem Bruder und dessen bestem Freund. Das Zeltlager war toll, die Betreuer "cool", das Essen schmeckte, die Sonne schien. Das Zeltlager hatte uns große Freiheiten erlaubt; täglich konnte man sich entscheiden, ob man sich den Unternehmungen diverser Betreuer anschloß, ob man bei den Zelten blieb, an den Pool oder ans Meer ging. Ich war glücklich.

Am vorletzten Tag stand das unvermeidliche Neptunfest an. Ich hatte nichts zu befürchten, war ich doch weder besonders auffällig, noch besonders unauffällig gewesen. Ich setzte mich an den Strand, ohne mich zu entkleiden, harrte fröhlich der Dinge, die da kommen mochten.

Vom Meer her kam ein Schlauchboot mit Außenborder. Ich kannte das Boot; wir hatten selbst diverse Fahrten darauf unternommen. Ich kannte auch Neptun, die Nixen und die Häscher. Letztere waren diesmals allerdings keine Betreuer, sondern kräftige Jugendliche, die Ältesten von uns.

Alles lief ab wie gewohnt. Die Opfer waren schnell, doch die Häscher waren schneller. Jedesmal. Nur einer floh ins Meer, doch hatte keine Chance. Wohin wollte er auch schwimmen? Afrika?
Ein Nescafé-Wagen kam vorbei, verteilte Probedosen. Der Eiskaffee schmeckte mir nicht, doch war kostenlos - und kühl.

Dann hörte ich meinen Namen. Ich konnte es nicht glauben. Die konnten nicht mich meinen, meinten jemanden anderes mit ähnlichem Namen, hatten mich sicherlich verwechselt! Doch die Häscher rannten auf mich zu, ohne Rücksicht auf die Sitzenden, ohne Rücksicht auf Handtücher und Rucksäcke.

Ich sprang auf, rannte los, vom Meer weg, durch den Sand. Schnell, schneller. Noch immer trug ich meine Schuhe. Das war mein Vorteil. Bald war ich auf einem betonierten weg. Ich lief nach Norden parallel zu Meer. Immer weiter. Ich lief so schnell ich konnte. Die Häscher blieben zurück. Ihre nackten Füße klatschen auf den heißen Asphalt. Ich hatte Schuhe, ich rannte, gab alles. Kühler Wind wehte mir entgegen, Passanten schauten mich vberwundert an. Ich rannte.

Irgendwann hatte ich die Häscher abgehängt. Sie waren zurückgefallen, würden mich nicht mehr einholen. Ich triumphierte innerlich.
Doch was nun? Ich konnte zum Zeltlager zurückkehren, doch meine Sachen lagen noch am Strand. Ich konnte einfach im Zeltlager warten, bis alles vorbei war. Ich konnte in die Stadt fliehen. Ich hatte kein Geld, doch das machte nichts, würde mich nicht verlaufen. Die Häscher würden mich nie finden, nie fangen. Niemals.

Doch all das hielt ich für feige, für sinnlos. Ich hatte gewonnen. Das wußte ich. Das mußten auch die Häscher wissen. Ich hatte gewonnen, war entkommen, sah keinen Sinn mehr darin weiterzufliehen. Ich konnte mich nicht ewig verstecken, nicht ewig wegrennen.

Ich kehrte um. Langsam, die nackten Handflächen zeigend, ging ich auf die Häscher zu. Ich lächelte, hatte gewonnen. Nichts konnte mir noch schaden.
Als die Häscher sahen, daß ich mich ergab, sprinteten sie zu mir, faßen mich grob an Beinen und Armen, schleiften mich durch den Sand. Ich wehrte mich nicht. Mein Lächeln blieb. Sie packten mich härter, zerrten mich den langen Weg zurück. Ich wäre auch allein gelaufen, doch sie wollten nicht, glaubten mir nicht, befürchteten wohl, ich könnte wieder fliehen.
Ich wäre nicht geflohen. Wozu? Wohin? Ich hatte längst gesiegt.

Die Häscher brachten mich zu Neptun. Die Antrengung war auf ihren Gesichtern zu lesen. Sie hielten mich fest, dudelten keine Bewegung. Ich bat darum, daß mir die Brille abgenommen, meine Schuhe ausgezogen würden; mein letzter Wunsch wurde mir gewährt.

Neptun tat, als wäre er wütend; die Häscher waren wütend. Meine Welt war nur noch ein verschwommener Buntbrei. Geduldig lauschte ich den Worten Neptuns, sah die Kelle mit der Brühe auf mich zukommen, preßte die Lippen zusammen. Ich würde das Ekelzeug nicht trinken. Eine Hand umfaßte meinen Unterkiefer, Finger bohrten sich in meine Wangen. Der Schmerz riß mir den Mund auf; die ekelhafte Flüssigkeit schwappte hinein. Immer wieder. Ich konnte nicht mehr atmen, hustete, spuckte, versuchte, Luft zu holen, fiel auf die Knie, keuchte. Ein Hand klopfte mir auf den Rücken. Dann wurde ich gepackt und ins Meer geworfen.

Dort blieb ich, holte Luft, wusch mir das Gesicht, die Arme, spülte den unappetitlichen Geschmack in meiner Mundhöhle mit Salzwasser aus. Als ich das Wasser verlies, wurde mir eine Urkunde in die Hand gedrückt:
"Dr.h.c. Fisch"

Ich grinste. Ich war als einziger entkommen, war freiwillig zurückkehrt und bekam nun nichts Schlimmeres als einen fischigen Doktortitel, ehrenhalber?
Meine Augen brannten vom Salzwaser. Auf meiner Zunge schmeckte ich noch immer die ekelhafte Brühe. Ich zitterte vor Kälte; das nasse T-Shirt klebte an meinem Leib. Die Welt war noch immer verschwommen; und ich rang um Atem.
Doch ich grinste:

Ich hatte gesiegt.
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Ferienlagererlebnisse, Teil 3

Ein für mich bedeutsamer Bestandteil meines ersten Ferienlagers war das Neptunfest.

Diese Festivität war typisch für ostdeutsche Ferienlager: Am vorletzten Tag versammelten sich dabei alle Ferienlagerkinder am nahegelegenen Strand, vorsorglich mit Badesachen bekleidet. Sinnlos standen wir in der Gegend herum und harrten der Dinge, die kommen würden. Ich wußte nicht, was mich, was uns erwartete und war gespannt.

Dann vernahmen wir Motorenlärm, entdeckten auf dem See ein reichlich mit Keppapier bestücktes Boot, das langsam auf uns zukam. In ihm saßen Neptun, Nixen und Häscher - allesamt eigentlich Ferienlagerbetreuer, die mit Farbe, Kreppapier und allerhand Krimskram ausstaffiert worden waren. Sie boten einen durchaus beeindruckenden, ja beängstigenden Anblick. Die Häscher schleppten einen riesigen Kessel, in dem eine undefinierte Flüssigkeit hin- und herschwappte.

Das Meeresvolk plazierte sich am Strand. Neptun verlas mit lauter Stimme eine Rede, an deren Inhalt ich mich nicht mehr entsinne. Ich denke, es ging um unsere "Sünden", die bestraft werden müßten.

Dann wurde der erste Name verkündet. Inmitten der Kinder entdeckte ich ein erschrecktes Gesicht, das sofort verschwunden war. Der Junge floh, rannte wie der Wind.

Es gab nicht viele Möglichkeiten zu fliehen. Entweder man rannte links um den See, rechts um den See, zurück ins Bungalowlager oder man wagte es, sich in den See zu stürzen und schwimmend die Flucht zu ergreifen. Der Junge rannte nach rechts.

Die Häscher, allesamt groß, kräftig und wesentlich älter als wir, warteten gedudlig einen Augenblick, gaben dem Jungen Vorsprung. Dann spurteten sie los. Sie brauchten sich nicht anzustrengen. Der Junge hatte keine Chance zu entkommen. Im Nu hatten sie ihn erhascht, trugen ihn zurück zu Neptun.
Dieser beschuldigte den verängstigt blickenden Jungen diverser Tätigkeiten und Untätigkeiten und gab den Befehl zur Taufe. Ich weiß nicht genau, was in der ekelhaft aussehenden Flüssigkeit enthalten war, aber glaube, daß der übliche Tee und Zahnpasta entscheidende Anteile bildete. Mit einer großen Kelle wurde dem Jungen das Zeug ins Gesicht, in den Mund geschüttet. Er schluckte angewidert, während sein neuer Name verlesen wurde. Dann trugen die Häscher den besudelten Jungen zum See, warfen ihn hinein, damit er sich bereinigen konnte und die Taufe rechtskräftig wurde.

Zurückgekehrt nahm er eine Taufurkunde in Empfang - und hatte es überstanden.
Wir anderen jedoch warteten, aufgeregt und ängstlich. Wer würde der nächste sein?

Nacheinander wurden zwei weitere Namen verlesen, zwei weitere Kindern rannten weg, wurden gefangen, bekamen Brühe ins Gesicht, wurden ins Wasser geworfen, erhielten die Taufurkunde mt ihrem Namen. Ich war erstaunt, mit welcher Mühelosigkeit die Häscher die Kinder fingen, stellte fest, wie sinnlos jeder Fluchtversuch war.

Dann hörte ich meinen Namen. Ich begriff nicht, konnte es nicht glauben, war doch das erste Mal in einem Ferienlager. Mein Gedanke war: Renn weg! Renn weit weg! Doch ich wollte nicht rennen, wußte mittlerweile um die Vergeblichkeit solcher Bemühungen. Die Häscher jedoch rannten los, glaubten mich gesehen zu haben, rannten in verschiedenen Richtung um den See herum, unglaublich schnell und kräftig.

Ich stand in der Masse, unter all den anderen Kindern, und wartete. Sie würden mich fangen, das wußte ich, doch ich selbst entschied, wann. Nach einer Weile trat ich in die Mitte des Kreises, trat ich zu Neptun. Erstaunt blickte er mich an, erkannte mich, rief seine Häscher zurück.

Sie packten mich, grob, wohl verärgert, weil sie sinnloserweise losgerannt waren, weil sie mich nicht erhascht hatten, weil sie noch nie so lange gebraucht hatten, um jemanden zu fangen. Während Neptun seine Worte sprach schütteten sie mir die Ekelbrühe ins Gesicht. Eine Kelle, zwei Kellen. Doch mein Grinsen verschwand nicht. Irgendwie hatte ich gewonnen.
Als ich aus dem See wieder herauskam, las ich meinen Taufnamen:
"Schleichender Wasserfloh" - weil ich ständig zu spät kam.

Bis heute frage ich mich, ob die Neptunfigur nicht vielleicht doch ein bißchen Göttlichkeit in sich gehabt hatte, ob sie wußte, daß der Taufname bestimmend für mein späteres Leben sein würde, ob ich schon damals Züge meines heutigen Ichs zeigte.

Denn noch immer komme ich zu spät. Ständig.
Wie ein schleichender Wasserfloh.
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Ferienlagererlebnisse, Teil 2

Ich war gerade 8 oder 9 Jahre alt, als mich meine Eltern in mein erstes Ferienlager schickten. Das war nichts Ungewöhnliches, denn die schulischen Sommerferien reichten aus, um sowohl ins Ferienlager zu fahren als auch zusammen mit meinen Eltern ihren schwer verdienten Urlaub zu genießen.
Mein Bruder, der mich in späteren Ferienlagern stets begleitete, war noch zu jung, um mitzukommen. Mein erstes Ferienlager. Unzählige unbekannte Menschen. Und ich war allein.

Ich kann mich an einen schlichten, dunkelbraun gestrichenen Holzbungalow erinnern, den ich mit sechs oder acht anderen Jungs teilte. Die für uns zuständige Betreuerin schlief mit uns in einem Raum. Immer blieben ein paar von uns auf, um zu warten, bis sie sich auszog und ins Bett legte. Man sah nichts; es war zappenduster, aber allein die Vorstellung einer unbekleideten Frau schien einige meiner Kumpanen irre zu machen.

Einen wesentlichen Bestandteil dieses Ferienlagers bilden in meiner Erinnerung Pfirsiche. Jeden Tag gab es Pfirsiche, zum Mittagessen, zum Abendbrot, riesige, saftige Dinger, von denen ich gar nicht genug bekommen konnte. Ich nahm die Früchte der anderen entgegen, als diese sie nicht mehr sehen konnten, bunkerte sie unter meinem Bett. Ich werde niemals den Geruch am letzten Tag vergessen, als wir gezwungen waren, den Bungalow zu bereinigen, als ich gewzungen war, den süßlich stinkenden, schimmelnden Matschhaufen aus dem Dunkel hervorzuholen und zu beseitigen.

Vielleicht trug das dazu bei, daß wir in einer abschließenden Preisverleihung für den saubersten Bungalow den allerletzten Platz belegten. Der erste Platz erhielt eine schlichte Urkunde, wir jedoch jeder einen großen Scheuerlappen. Ich war stolz, stolz auf mich, stolz auf uns.

Zu Hause packte ich den Scheuerlappen aus und zeigte ihn meiner Mami:
"Die anderen Bungalows haben nichts bekommen. Aber ich gewann das.
Für dich."
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Der morgendliche Wurm im Ohr 18

Ich liebe es aufzuwachen und nicht zu wissen, wie spät es ist.

Zwar verfüge ich über eine durchaus ästhetische Armbanduhr, doch deren Batterie hat schon vor einem Jahr beschlossen, in Ruhestand zu gehen. Das hat natürlich den Vorteil, daß die Uhr täglich zwei Mal die korrekte Zeit darstellt, wenn auch nur für einen Augenblick. Normal funktionstüchtige Uhren dagegen haben die schlechte Angewohnheit, niemals richtig zu gehen, da sie der "echten" Zeit immer ein paar Minuten voraus sind oder nachhängen. In diesem Fall kann also der Stillstand gelobt und gepriesen werden.

Habe es ich also am Vorabend versäumt, dem in meinem Handy integrierten Wecker mitzuteilen, wann ich mit nervigen Piep- und Klingeltönen dem Schlaf entrissen werden sollte, erwache ich planlos, ohne ein Wissen um die Tageszeit.

Und erstaunlicherweise, obwohl man meinen könnte, dadurch eine Art Verlorensein in zeitlicher Unkenntnis empfinden zu müssen, ist das ein schönes Gefühl.

Es könnte jetzt um acht sein - oder schon um eins. Es ist egal.
Noch einmal schließe ich die Augen, kuschle mich in meine Bettdecke und lausche dem Wurm in meinem Ohr: Tool ist es heute, doch ich erkenne das Lied nicht. "The Grudge" vielleicht. Es ist egal.

Ein paar Minuten später erhebe ich mich, langsam, allmählich, suche das Bad - finde den Tag...
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