Mittwoch, 27. April 2005

Straßenbahnerlebnisse 6

Ich stieg aus.

In Indien ist es nicht üblich, den eigenen Kindern beizubringen, daß man zuerst die Leute aus der Bahn herauszulassen habe, bevor man selbst einsteigt. In Deutschland schon. Ob das gut ist oder nicht, weiß ich nicht.

Festzustellen war jedoch, daß sich, als ich versuchte, aus der Straßenbahn auszusteigen, mich mit einer vielköpfigen Menschenmasse konfrontiert sah, die in kompletter Form in die Bahn hineinzugelangen versuchte. Dabei war wichtig, dem Nebenmann keinen Zentimeter Platz zu gönnen; vielleicht wäre er sonst derjenige, der den letzten freien, guten Sitzplatz vor der eigenen Nase wegschnappte.

Die Masse drängte hinein; ich wollte hinaus, stand schon der Tür, doch gleichzeitig auch vor einem nahezu undurchdringlichen Hindernis. Der Menschenleiberpulk wurde angeführt von einer ganz in Schwarz gekleideten, beleibten jungen Dame, die ihre Handtasche wie einen Schild vor sich hielt. Auch die Handtasche war schwarz. Allerdings hatte sich der Designer der Tasche wohl gedacht, daß Schwarz allein wenig Stil mit sich bringe und etwas Buntes, Glitzerndes, Witziges, Frisches, Peppiges hinzugefügt werden müßte. Und so funkelten auf der Tasche in riesigen pinkfarbenen Glitzerbuchstaben die Worte "PINK BAG". Ich schaute hin, wunderte mich, schaute nochmal. Tatsächlich; die Tasche war noch immer schwarz, tiefschwarz, und einzig die alberne Glitzerbuchstaben verfügte über eine Pinkfärbung.

'Haha!', wollte ich denken, als die Menschenmasse über mich hereinbrach, mich überrollte, mich in die Bahn zurückdrängte, auf die freien Sitzgelegenheiten quoll, hastete, als gäbe es nichts Wichtigeres.

Ich floh, eilte durch den Wagon nach hinten, zur letzten Tür, stieg aus, frei, unbelästigt, unbehelligt, ohne Platznot, mit dem Bild einer schwarzen Handtasche im Kopf, die von sich behauptete, pink zu sein.

Mit mir zusammen stieg eine ältere Frau aus, welche die Sechzig schon überschritten hatte. Ihre letzten Worte an den gerade verabschiedeten, scheinbar befreundeten Fahrgast waren:
"Ich schreib dir ne Mail."

Verdutzt blieb ich stehen, sah der grauhaarigen Dame nach und bemerkte nicht, wie sich hinter mir die Türen schlossen und die Straßenbahn davonfuhr.

Das Wort des Tages 14

Das Wort des heutigen Tages sei
Geifer.

Bevor ich die geifernden Stimmen aus dem imaginären Publikum vernehme, die sich darüber auslassen, wie eklig dieses Wort doch sei, biete ich eine kleine Erklärung an:

Ich wohne im Dachgeschoß. Dächer verfügen über die zuweilen unerfreuliche Eigenschaft, sich in den oberen Regionen eines Bauwerkes aufhalten zu wollen, weswegen meine Etage nur über inexistente Fahrstühle oder unzählige Treppenstufen erreichbar ist.

Einhundertunddrei. 103. Das ist die Zahl der Stufen, die ich täglich mehrfach begehe. Hoch und runter. Runter und hoch.

Wenn ich mich beeile, schaffe ich es, in weniger als zwei Minuten den Müll runterzubringen. Wenn ich aber einen schlechten Tag erwische, benötige ich deutlich länger, krieche die einzelnen Stufen herauf, schleiche mühevoll an von der Putzfrau übersehenen Einkaufszettelfetzen und unter das Geländer geklebten, durchgekauten Hubbabubba-Kaugummis vorbei, ärgere mich über den gehässigen Feuermelder, der mir anzeigt, daß ich noch zwei weitere Etagen, also vierzig unüberwindbare Stufen, zu erklimmen habe.

Heute war kein schlechter Tag, doch meine Mitbewohnerin begleitete mich, vom Mensaessen gesättigt und mit innerer Trägheit überflutet. Den Wohnungstürschlüssel in der rechten Hand haltend [Ich hatte meinen versehentlich vergessen.] schlich sie die Stufen hinauf, bei jedem Treppenabsatz aufstöhnend.
Ich hatte genug Zeit, nebenbei den prozentualen Anteil bereits hinter uns gebrachter Stufen zu dem noch zu besteigender im Kopf ins Verhältnis zu setzen und mit allerlei Zahlen zu jonglieren, die Namensschilder der unter uns Wohnenden intensiv zu betrachten, den orangfarbenen Kaugummi einer gründlichen Musterung zu unterziehen und die Dreckkrümel auf dem Boden zu zählen.

"Was ist DAS!?", fragte meine Mitbewohnerin angewidert und deutete auf einen schwarzen Fleck am Boden.
Im ersten Augenblick hielt ich es für Schmutz, für irgendeine organische Flüssigkeit, die sich nach mehreren Tagen in eine feste, schwarze Substanz verwandelt hatte.

"Ein Brandfleck?", mutmaßte meine Mitbewohnerin.
Ich gab ihr recht, denn tatsächlich sah der schwarze Fleck aus, als wäre er eingebrannt worden. Nun ja, nicht ganz, eher, als wäre das Linoleum der Treppenstufe kurz Zeit großer Hitze ausgesetzt gewesen - allerdings nur an dieser einen Stelle, deren Durchmesser vielleicht drei Zentimeter betrug.

'Säure!', dachte ich plötzlich, stellte mir vor, wie ein verrückter Wissenschaftler mittels einer Pinzette ein paar Tropfen hochkonzentrierter Schwefelsäure auf den Boden träufelte und wohlig sabbernd die vom verkohlten Linoleum aufsteigenden Dämpfe inhalierte.

Moment. Sabber? Säure? Da war doch was!?
Na klar: Aliens!

Und nun war alles klar.
Kein Brand, keine verderbliche Flüssigkeit, kein verrückter Wissenschaftler hatte zur Entstehung des mysteriösen schwarzen Flecks beigetragen. Nur ein riesiges, häßliches, von Sigourney Weaver verschontes Alienmonstrum, das im Treppenhaus heimlich arglosen Mietern aufgelauert und dabei seinen ätzenden Geifer auf irgendeiner der 103 Stufen verteilt hatte...

Und schon setzte sich das Wort Geifer in meinen Schädel und verleitete mich zu der Feststellung, daß es nicht nur einen interessanten und ungewohnten Klang besaß, sondern unbedingt zum Wort des Tages gekürt werden sollte.

Allerdings werde ich wohl in der nächsten Zeit nicht mehr Rad fahren. Wer weiß, was sich im Fahrradkeller versteckt...

Begleitservice

Eine meiner Aufgaben als Zivildienstleistender im Krankenhaus war es, Patienten zu Röntgen, Computertomographie, Ultraschall etc zu begleiten. In den meisten Fällen war das nötig, wenn der Patient sich alleine nur mühsam oder unsicher [oder gar nicht] fortbewegen konnte oder die Gefahr einer Irrwanderung inerhalb des riesigen Krankenhauskomplexes bestand.

Diese bestand immer. Meine ersten Wochen als Zivildienstleistender waren ein navigatorischen Greuel. Auf meine Orientierungsfähigkeiten war noch nie sonderlich Verlaß gewesen, doch die Ratschläge der wegweisenden Schwestern taten ihr Übriges, um mich komplett zu verwirren. Schließlich waren die meisten genannten Wegziele seit Jahren schon nicht mehr nicht dort anzutreffen, wo sie nach Meinung der Wegweisenden hätten sein sollen. Unterwegs irgendeine weißbekittelte Gestalt zu fragen, war zum einen einigermaßen respektlos [Ich war nur Drecks-Zivi, und bei meinem Gegegnüber konnte sich womöglich gar um einen Chefarzt oder Professor - oder beides - handeln...] zum anderen aber auch erstaunlich erfolglos.

Die wenigsten Krankenhausangestellten wußten tatsächlich wo das Röntgen war, wo ich neue weiße Wäsche bekam, wohin man sich wenden mußte, wenn man diesem oder jenem Arzt etwas zu überreichen hatte.

Ich fragte mich durch - andere Zivis halfen weiter -, suchte, probierte, riet. So viel hatte ich nicht zu tun, als daß ich nicht das ganze Gebäude allmählich durchstöbern konnte. Tatsächlich schlenderte ich eines Tages gelassen den Hauptgang entlang, als mir meine vorgesetzte Oberschwester über den Weg lief, mich herumschlendern sah und verbissen fragte:
"Sie haben wohl nichts zu tun, oder wie?"

Ich hatte tatsächlich nichts zu tun, wenn man von einem Gang zur Apotheke absah, nach dessen Rückkehr mir Langweile drohte. Doch ich schwieg, zeigte auf die Apotheke. Zuzugeben, daß man nichts zu tun habe, konnte desaströs enden.
"Naja, denn...", giftete die Oberschwester und eilte von dannen. Sie hatte es immer eilig. War immer gestreßt. Und sie konnte mich nicht leiden.

Dazu gab es auch allen Grund; schließlich neigt ein gelangweilter 18Jähriger in einem zehngeschössigen Bauwerk schon einmal dazu, sämtliche Knöpfe im Fahrstuhl zu drücken, bevor er hastig aussteigt - und gerade noch sieht, wie die Oberschwester diesen Fahrstuhl betritt und ihm einen mißtrauischen Blick zuwirft, der später in eine unangenehme Unterredung münden sollte...

Einer der unangenehmsten Wege, die ich innerhalb des Krankenhauskomplexes zu erledigen hatte, war der Auftrag, eine beleibte Frau aus arabischen Landen zum Röntgen zu bringen. Diese verstand zwar kein einziges Wort Deutsch, war aber immer sehr freundlich gewesen und hatte ständig versucht, allen Krankenschwestern, Ärzten und Zivis ihre nicht unbedingt wohlschmeckenden Kekse anzudrehen.

Der Weg zum Röntgen dauerte seine Zeit. Ging ich alleine, konnte ich mit etwa drei bis fünf Minuten Fußmarsch rechnen - ohne Berücksichtigung der Auf-Den-Fahrstuhl-Wartedauer. Mit Patienten dauerte der Weg natürlich wesentlich länger; denn diejenigen, die ihn in gleicher Geschwindigkeit wie ich zurücklegen konnten [und davon gab es glücklichereise genug], waren auf meine Begleitung nicht angewiesen. Der Rest brauchte eben eine Weile.

Die Araberin ging langsam, gemächlich. Das hätte mich nicht weiter gestört, wäre sie nicht in ihren Traditionen und Bräuchen verhangen gewesen, die ihr befahlen, aufzwangen, hinter einem Mann [und sei er noch so jung] hinterherlaufen zu müssen, Abstand zu wahren.
Zuerst begriff ich nicht. Ich ging los, doch sie rührte sich nicht, kam erst allmählich nach. Sie bewegte sich langsam; doch wenn ich anhielt, um sie aufholen zu lassen, blieb auch sie stehen.

Wir kamen kaum voran. Schließlich war es meine Aufgabe, die Frau zum Röntgen zu begleiten, nicht wie ein albernes, berädertes hölzernes Kinderspielzeug hinter mir her dackeln zu lassen. Ich hatte den Auftrag, sie zu führen, ihr, wenn nötig, behilflich zu sein.
Doch sie lief hinter mir, langsam. Immer wieder sah ich mich um, lächelte ihr aufmunternd zu. Doch sie sah mich nicht an, ging weiter und weiter, achtete immer auf den Abstand zwischen uns.

Wenn ich um eine Ecke bog, kam sie mir erst nach, wenn sie sicher sein konnte, daß ich weitergegangen war und nicht auf der anderen Seite wartete. Wenn ich jemanden traf, den ich kannte und mit ihm ein paar Worte wechselte, blieb sie stehen, als gehörte sie nicht zu mir, und ich mußte immer wieder zurückschauen, um mich zu vergewissern, daß sei noch hinter mir war.

Ich glaube, daß ich - noch nicht einmal, wenn ich [gegen die Arbeitsauflangen verstoßend] allein ein gefülltes Krankenbett durch die Gänge karrte - noch nie derart lange für den Weg von der Station zum Röntgen gebraucht habe.
Zum Glück sollte ich die Frau nur abliefern, nicht auf sie warten und sie - vorerst - nicht abholen.

Ich hatte mehr als eine halbe Stunde sinnlos vertrödelt, einzig mit Warten, Schauen und langsamem Gehen.
'Gute Leistung.', dachte ich, meldete mich auf Station ab, ging mit meinem Zivi-Kumpel erst einmal eine geschlagene Stunde lang Essen, wohnte dann noch dem ausgiebigen Kaffekränzchen der Schwestern bei und durfte mich dann umziehen, durfte nach Hause gehen.

Auf dem Heimweg jedoch fühlte ich immer wieder den Drang in mir, mich umzudrehen, glaubte einen Schatten hinter mir gesehen zu haben, der mir unaufhörlich, in stetig gleichem Abstand folgte...

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free erdem (Gast) - 6. Jun, 16:40
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morast - 1. Feb, 21:10

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