Ich wünschte, ich könnte einkaufen. Einfach so.
Ich wünschte, ich müßte ich nicht im Hinterkopf behalten, daß dieses Gemüse gespritzt wurde, daß irgendwelche Bauern subventioniert und somit andere benachteiligt wurden, daß diese Früchte von unterbezahlten Kinderhänden gepflückt und nach Europa versendet wurden, daß ich damit Nationen ausbeute, Menschen unterdrücke, Tiere quäle, die Natur zerstöre.
Ich wünschte, ich müßte nicht darauf achten, ob ich nicht wieder nur einem von schlauen Verpackungsdesignern ausgetüftelten Trick verfalle, ob die Packung halbleer ist oder mich nur wegen bestimmter Fabrkombinationen anspricht, ob ich das Produkt nur kaufe, weil es mir aus irgendeiner Werbung, Empfehlung, Serie, Sendung, unbewußt in Erinnerung blieb und dank geeigneter Bilder in geeigneten Positivzusammenhang gesetzt wurde.
Ich wünschte, ich müßte nicht befürchten, daß die herstellende Firma zu bekannt, zu mächtig, zu sehr kapitalistisch geprägt sei, daß die Firmenkette in international-negative Verwicklungen involviert ist, Kinder oder Mitarbeiter mißhandelt, unölologisch produziert, zu einer Kette gehört, die einst Juden vergaste oder Homosexuelle diskriminierte.
Ich wünschte, ich müßte mich nicht fragen, welche Giftstoffe in die Produkte gespritzt wurden, um sie länger haltbar zu machen, besser aussehen zu lassen, welche Vitamine und angeblich gesundheitsfördernde Zusätze beigefügt wurden, um mich zum Kauf zu bewegen, welche künstlichen Anreicherungen hinzugesetzt wurden, um die Masse zu erhöhen und den Fertigungspreis zu erniedrigen, welche Stoffe Fette und zucker ersetzten, um mit dem Diätwahn und ähnlichem Gesundheitsfanatismus schrittzuhalten, welche Aromen meine Zunge beim Konsum benetzen und meinen Körper vergiften werden.
Ich wünschte, ich hätte nicht mit jedem Produkt, das ich in die Hand nehme, das Gefühl, einer riesigen Lüge aufgesessen zu sein.
Ich wünschte, ich könnte fernsehen, einfach so.
ich wünschte, Nachrichtensendungen bestünden aus nachrichten, nicht aus reißerisch zusammengeklaubten, stimmungsmachenden Informationsfetzen, die in einen Zusammenhang zu bringen ich längst aufgab, nicht aus Bildern, die bewegen sollen, nicht aus stammtischartigen Interviewsentenzen, die mich beeinflussen, in bestimmte Meinungsmuster drängen sollen.
Ich wünschte, ich bräuchte nicht durch die Kanäle schlittern auf der Flucht vor der allgegenwärtigen Penetranz uninformativer, schlecht recherchierter vermutungen und Fakten über Persönen des öffentlichen Interesses, denen gefälligst mein Interesse zu gelten habe, auf der Flucht vor allgegenwärtigen, schlichte Geister fesselnden Zweitleben, für die man auf das erste, eigene, verzichten darf.
Ich wünschte, ich könnte fernsehen, ohne glauben zu müssen, daß mir mit diesem Film, mit dieser Serie, Dinge schöngeredet, angepriesen, würden, derer ich nicht bedarf, daß mir unterschwellig Produkte aufgedrängt wurden, deren Kauf mein leben angeblich vereinfach, entwirren, leiten könnte.
Ich wünschte, ich könnte glauben, was ich sehe, müßte nicht alles hinterfragen, alles anzweifeln, für gestellt, übertrieben, untertrieben, gekünstelt, meinungsforcierend, undurchdacht oder schlichtweg falsch halten, wünschte, ich könnte Informationen beziehen, ohne jedesmal Quellen als glaub- oder unglaubwürdig kategorisieren, andere, thematisch verwandte Berichte auf Deckungsgleichheit der Fakten prüfen zu müssen, wünschte, ich könnte glauben, daß der mir präsentierte Teil der wirklichen Welt auch ein repräsentativer sei.
Ich wünschte, ich könnte fernsehen, ohne zu erwarten, daß jeder einzelne auf der anderen Seite der Glasscheibe Lügen verbreitet.
Ich wünschte, ich könnte leben, einfach so.
Ich wünschte, ich könnte durch die Welt gehen und glauben, was ich sehe, höre, fühle, könnte bewerten, ohne in Gefahr zu geraten, mich auf falsches Wissen zu berufen, könnte Meinungen vertreten, ohne befürchten zu müssen, an irgendeiner Stelle beeinflußt worden zu sein, könnte agieren, ohne das Gefühl, ferngelenkt zu werden.
Ich wünschte, ich könnte reden und schreiben, was mir in den Sinn kommt, wann und wo ich es mag, ohne bedenken zu müssen, wie richtig oder falsch es sein könnte, an dieser oder jener Stelle Informationen preiszugeben, ohne mich ständig fragen zu müssen, was mit meinen Daten passiert, wer mich beobachtet, wenn ich einkaufe, wenn ich meine EC-Karten-Geheimnummer irgendwo eintippe, wer all das sammelbare Bild-, Ton und Textmaterial betrachtet, auswertet, einsortiert, weiterverwendet, wem, welcher Firma, welchem Unbekannten, ich wann vertrauen kann, ob nicht jeder, der mir die Hande schüttelt, in Wahrheit nach Untaten schnüffelt, mir Geld zu entziehen, mich in Fallen zu locken versucht.
Ich wünschte, ich könnte mit Menschen sprechen und müßte nicht nur ihre Fassaden ansehen, nicht nur ein antrainiertes Lächeln, das mich in Sicherheit wiegen soll, nicht nur das routinierte Sympathiegesicht, müßte nicht hinter jedem Wort eine verschönernde Höflichkeit, eine undurchschaubare Halbwahrheit erwarten, gegeben aus Freundschaft, aus gesellschaftlicher Tradition, aus wirtschaftlichen Gründen heraus, müßte nicht in Augen blicken, denen selbst längst der Durchblick abhanden kam, wann und wo die Grenze zur Unwahrheit überschritten wurde.
Ich wünschte, ich könnte in einer Welt leben, die endloser Netze aus Falschheiten, aus ungewolltem oder bewußt erstrebten Lügen, nicht bedarf, die mich nicht in jedem vergehenden Augenblick das Gefühl gäbe, mich längst in diesen Netzen verstrickt zu haben, längst Teil davon zu sein, Opfer und Täter zugleich.
[Im Hintergrund: Farmakon - "A Warm Glimpse"]
morast - 9. Feb, 16:33 - Rubrik:
Wortwelten
"Wird ganz schön teuer, die Fahrt nach K. ", sagt sie.
"Wieso?"
"Es hat sich niemand wegen einer Mitfahrgelegenheit gemeldet... Willst du vielleicht mitkommen?"
"Ich kenn doch keinen in K."
"Dann bleibst du halt die ganze Zeit im Auto sitzen und wartest auf mich. Und bezahlst die Hälfte der Benzinkosten."
Ein Scherz nur, und doch driften meine Gedanken bereits ab. Auf nach K!, denke ich und stelle mir vor, im Auto zu sitzen, auf dem Beifahrersitz, angenehme Musik zu hören, belanglose Dinge zu erzählen, angeregt durch andere Belanglosgkeiten aus ihrem Mund. Manchmal verdichtet sich das Gespräch, dann wird sie ernst, werd ich ernst, wir reden über Gefühle, über Innerstes, bis Uneinigkeit die Worte verdunkelt und ein Schweigen heraufbeschört, das ein kleiner Scherz, ein kurzes Lachen zu unterbrechen weiß.
In K werde ich trotz Kälte und Schneeregen aus dem Auto aussteigen und die Innenstadt betrachten, mich in einzelne Geschäfte wagen, mich womöglich über ein Musikgeschäft mit großer Auswahl freuen und dort geraume Zeit verweilen, vielleicht einen Stadtplan kaufen, Wegweisern zu vermeintlichen Sehenswürdigkeiten folgen, meine Enttäuschung über deren Nichtigkeit unter der Freude verbergen, hier zu sein, allein, mit meinen Gedanken, ungestört, ja frei.
Vielleicht werde ich in ein Museum gehen, mich an meinem Drang nach Wissen, nach Bildung, berauschen, vielleicht anschließend ein Café aufsuchen, um, während ich gedankenverloren mit einem Löffel in der halbleeren Tasse rühre, festzustellen, daß die Heiße Schokolade hier auch nicht anders mundet als zu Hause.
Unterdessen wird sie ihre Freundin besuchen, mit ihr den Nachmittag, den Abend verleben, keine Sorgen an mich verschwendend, bin ich doch alt und intelligent genug, mein Handeln und sein in richtige Bahnen lenken zu können. [Bin ich das?]
Ich sehe mich in einer Stadt, deren Straßen sich ob des Wetters, der nahenden Nacht, ob der schließenden Geschäfte, allmählich leeren und fühle die Freiheit verlustig gehen, die Einsamkeit mich finden, sehe mich zwischen scheinbar altbekannten, nie gesehenen Betonbauten stehen und irgendetwas vermissen, einen Menschen vielleicht, einen Freund, eine wärmende Hand, vielleicht ein Ziel, sehe mich weglos und fröstelnd in einer fremden Stadt umherblicken und wundern, was genau ich hier zu finden geglaubt hatte.
Und während ich darüber nachdenke, während ich die Möglichkeit, spontan Ja zu sagen und ohne weitere Planung mit nach K zu reisen, im Geiste mit Bildern bestücke, weiß ich, daß ich mich betrüge, daß ich nicht nach K zu gehen wünsche, daß mir nicht der Sinn nach Autofahrten steht - sondern daß es allein und einzig die Flucht ist, die mich reizt, die ich ersehne, die Flucht ohne Ziel, an deren Ende eine erneute Flucht stehen wird.
"Ich komm nicht mit."
Sie weiß es längst, fragt scherzhaft nach Begründungen, die ich sogleich ihr liefere: fadenscheinig und dennoch wahr. Ich schweife ab, lenke das Thema in andere Bahnen. Sie antwortet, und ich bin dankbar dafür, dankbar, daß ich im nächsten Moment vergessen werde, was ich mir soeben noch präzise auszumalen versuchte: Gedanken um eine aussichtslose Flucht.
[Im Hintergrund: Farmakon - "A Warm Glimpse"]
morast - 9. Feb, 14:05 - Rubrik:
Wortwelten