Freitag, 14. Juli 2006

Originale

Es ist nicht unwahrscheinlich, daß jede größere Stadt ihre Originale hat. In Kleinstädten und Dörfern ist es ohnehin üblich, daß jeder jeden kennt, daß also über jeden einzelnen Geschichten und Gerüchte im Umlauf sind, deren Wahrheitsgehalt mitunter vernachlässigbar gering ausfällt.
In größeren Städten dagegen greift die Anonymität um sich. Ich weiß tatsächlich nicht, wer die beiden anderen Wohnungen auf meiner Etage behaust bzw ob dort überhaupt jemand einzog. Dementsprechend wenig vermag ich über Peter Schmidt zu sagen, der mir am McDonalds zum ersten und einzigen Mal begegnet - ohne daß ich ihn überhaupt bemerke, geschweige denn seinen Namen und die über ihn kursierenden Absurditäten kenne.
Doch es gibt Menschen, die jeder kennt, der ausreichend lange eine Stadt bewohnt; ich nenne sie Originale, obgleich ich nicht weiß, wer sie kopieren wollen würde. Denn ihre Schicksale sind nicht selten abstrus und sonderbar, zuweilen gar traurig - zumindest wenn man den Gerüchten Glauben schenkt.

In Halle (Saale) gab es den Klatscher. Insbesondere in Halle-Neustadt bekannt wußte doch kaum jemand, wer oder wie alt er wirklich war. 18 Jahre vielleicht. Oder zwanzig.
Er lächelte immer, und immer bewegte er sich im Hopserlauf fort. Hin und wieder klatschte er ausgelassen in die Hände, zuweilen gar rhythmisch. Und wenn er besonders guter Laune war, jauchzte er kurz. "Wuh!", tönte es dann zwischen den Plattenbauten hindurch.
Der Klatscher trug immer gute Klamotten, war gepflegt, hatte - wie meine Großeltern wußten - sorgende, liebende Eltern. Diese sah ich nie.
Der Klatscher ließ mich immer lächeln. Seine gute Laune war ansteckend. Und doch zündete er Mülltonnen an. Es dauerte eine Weile, bis man herausfand, daß er es war, und als es soweit war, wollte es keiner glauben.
Unser Klatscher?, fragten die Leute. Niemals!
Irgendwann beging der Klatscher Selbstmord. Ich weiß nichts Genaueres, doch hin und wieder entsinne ich mich seines erheiternden Hopserlaufs.

Ein weiteres Hallenser Original ist der Schreier. Der Schreier ist ein älterer Mann, vielleicht fünfzig, der immer mit Anzug und Krawatte umherläuft. Doch benimmt er sich seltsamerweise nicht seinem Äußeren entsprechend.
Er schreit. Na gut, er schimpft. Er redet laut. Mitten auf dem Marktplatz, vor Kaufhof oder dem Rathaus steht er und füllt seine Umgebung mit wüsten Beleidigungen, mit extremen Beschimpfungen. Es ist schwer zu verstehen, wen er beleidigt, doch es sind nicht die Passanten.
Angeblich mußte er einst zusehen, wie seine Frau und seine Kinder bei einem Hausbrand in den Flammen ums Leben kamen. Dieser Anblick raubte ihm die Sinne und führte zu seinem derzeitigen Verhalten.
Ich weiß nicht, inwieweit man dieser Geschichte Glauben schenken darf und hoffe, daß es sich nicht so verhielt.

In den letzten Tagen begegnete ich hin und wieder dem bekanntesten Magdeburger Original: Fidel Castro. Ein älterer Mann mit Rauschebart, der bevorzugt in Armeeklamotten, mit Armeerucksack, unterwegs ist. Er gesellt sich zu den Trinkern am Bahnhof ebenso wie zu den Punks. Selbst in glühender Hitze trägt er seine Armeeweste, die allerdings zuweilen in Beigetönen gehalten ist. Niemals sah ich ihn ohne sein Army-Cap.
Sein Gesicht besteht nur aus dem grausweißen Bart, der wohl zu seiner Namensgebung beitrug. Vorhin saß er auf einer Bank im Schatten, zusammen mit ein paar Punks, die ihn einem älteren Ehepaar vorstellten, das sich eigentlich nur ausruhen wollte: "Das hier ist Fidel Castro." Leider konnte ich deren Gesichter nicht sehen.
Fidel Castro ist erstaunlicherweise überall beliebt und willkommen. In seiner Nähe wird getrunken und diskutiert, und mehr als einmal hörte ich davon, daß jemand intelligente Gespräche mit ihm führte. Ich beobachtete, wie er in einem Jugendclub freudig begrüßt wurde, obgleich er den Altersdurchschnitt nicht unwesentlich hob.
Ich redete noch nie mit ihm, doch bezweifle nicht, daß Fidel - wie ihn alle nennen - ein Mensch ist, den kennenzulernen sich lohnen würde. Allerdings nicht im Umfeld von betrunkenen Punks.

Vielleicht weniger stadtbekannt, dennoch aber relaitv häufig zu beobachten ist der Bildleser. Mein Freundeskreis taufte ihn so, weil er - man glaubt es kaum - Bild liest. Immer.
Er ist ein kleiner Mann, vielleicht 1,50 Meter groß, und verfügt über eine beschauliche Halbglatze, die eigentlich nur noch aus einem Haarkranz besteht. Typisch für sein Äußeres ist eine dicke Hornbrille mit Aschenbechergläsern. Einmal sah ich ihn ohne diese Sehhilfe, und er wirkte hilflos, fast blind.
Man begegnet ihm nur in der Straßenbahn. Kaum hat er einen Sitzplatz gefunden, klappt er seinen Aktenkoffer auf und entnimmt ihm eine Bildzeitung, die er gewissenhaft entfaltet und genauestens studiert. Niemals sah ich jemanden mit ihm reden - noch nicht einmal Fahrkartenkontrolleure.
Unlängst fragte ich mich nach längerer Nichtsichtung, ob es ihn denn noch gäbe. Nur wenige Tage darauf sah ich ihn, in altbekannter Haltung mit der Bildzeitung auf seinem Schoß.
Die Welt war noch in Ordnung.

Mir fallen noch mehr Gestalten ein. Der dicke Fahrkartenkontrolleur beispielsweise bzw seine Begleiterin, die "Mutti". Oder den Bettler in Halle, von dem gesagt wird, er sei eigentlich weiblich - und ich frage mich bei jeder Begegnung, ob das stimmen kann. Oder den Fliegenmann, der modebewußt - meist in Schwarz - und glatzköpfig durch Stadtfeld wandelt, nicht selten bestückt mit einer weißen Fliege...

Doch wie sieht es mit Originalen in eurer Stadt aus. Gibt es welche, und was macht sie aus?

[Im Hintergrund: Grabnebelfürsten - "Von Schemen und Trugbildern"]

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ungefragt - 14. Jul, 23:47

Köln hat den Öhi - einen alten Mann mit Spitzbart und grünem Hut, der wegen eines fehlenden Beines im Rollstuhl mit halsbrecherischer Geschwindigkeit durch die Stadt päst und sich laut rufend ankündigt, man möge ihm aus dem Weg gehen. Er hat immer mal wieder neue Themen, meistens schimpft er über irgendetwas.
Hamm hatte den Perlentaucher, einen Penner, der sagenweise früher tatsächlich nach Perlen getaucht haben soll. Er trug sommers wie winters eine giftgrüne Pudelmütze mit Bommel und klingelte zweimal die Woche, ich glaube Mittwochs und Samstags mittags, bei uns, um sich sein Käsebrot abzuholen. Wurst mochte er nicht. Neulich hörte ich, er sei gestoben.

keabecky - 15. Jul, 00:06

In Greifswald gibt es, wie es typisch ist für eine Kleinstadt, auch einige Originale. Zum Beispiel Klaus, der wohl erst Anfang 40 war, als er vor ein paar Jahren von einer Gruppe Jugendlicher erschlagen wurde, der aber aussah wie Anfang 60, gezeichnet vom Alkohol und dem Leben auf der Straße. Er soll einst im Gefängnis gesessen haben, wieso, ist mir nicht bekannt. Die Anteilnahme an Klaus' gewaltsamen Tod war erstaunlich groß dafür, dass er immer eher negativ auffiel durch seine Fahne und sein Geschimpfe.

Dann gibt es da noch den "Schwarzen Baron", der bevorzugt an Hauswände pinkelt, sonst aber eher unauffällig durch die Straßen spaziert. Er trägt immer Schwarz, daher sein Name.

Und "Knospe" ist ein lustiger Geselle. Keiner weiß, er ihm den Namen "Knospe" verpasst hat und wieso. Er braust gerne auf dem Rad durch die Stadt und bekommt beim Italiener am Markt immer eine Kugel Eis geschenkt, wenn er dort vorbeischaut. In einem Jahr beobachteten eine Freundin und ich, wie "Knospe" auf dem Greifswalder Weihnachtsmarkt umsonst Karussell fahren durfte, und er fuhr stundenlang.

schmetterling (Gast) - 15. Jul, 00:14

in karlsruhe kenn ich auch so ein orginal.
wir nennen ihn den spanier, weil er , wie sein name schon verrät, aus spanien kommt. auf jeden fall sieht man ihn immer freitags und samstags abends im schlossgarten mit seinem fahrrad rumfahren und leergutflaschen sammeln. ich weiß nciht was er unter der woche macht ob er da auch falschen sammelt aber wenn man ihn am wochenende sucht dann am besten im schlossgarten wo alles jugendlichen ihm ihre flaschen schenken mit deren inhalt sie sich eben och betrunken machten und weshalb ihnen jetzt der verbleib dieser flaschen egal ist und sie (die flaschen ) ihm (dem spanier) geben!

morast - 15. Jul, 10:38

Danke für die Antworten.
Es ist beeindruckend, wie leicht es fiele, sich zu jeder dieser Gestalten eine Geschichte auszudenken...

jesushannes (Gast) - 15. Jul, 20:04

der bekannt klatscher von halle hat isch übrigens erhängt...
des weiteren gibt es in dieser wundervollen stadt mehrere schreier, sänger und tänzer daher diesen eien schreier den du wahrscheinlich meinst, gibt es so nicht mehr, da sich nach und nach sein zerfall an ihm sichtbar zeigt.
morast - 15. Jul, 20:43

Hatte gehofft, daß du dich melden und meine Erzählungen ergänzen würdest... Danke.
lina- - 15. Jul, 23:30

Hier in Berlin gibt es wahrscheinlich genauso viele Originale wie "normale Bürger". Leider ist es aber auch so, dass die Stadt so groß ist, dass man selten mehr über diese Menschen (also die Originale) erfährt. Aber es gibt drei Menschen, die eigentlich fast jeder in Berlin kennt. Manche freuen sich, ihnen zu begegnen - andere wenden sich angewidert ab (leider).
Zum einen wäre da eine ältere Frau, die immer um die Gegend am Zoo mit ihrem vollgeladenen Rad unterwegs ist und für die freie Liebe lautstark wirbt.
Zum anderen wäre da eine arme alte und sehr kranke Frau, die auf einzelnen U-Bahnlinien zum schnorren unterwegs ist. Immer wenn ich sie sehe, frage ich mich "Wie kann sie mit diesem zerfallenen Körper noch leben?" und gebe ihr übriges Kleingeld. Leider habe ich sie nun schon lange nicht mehr gesehen. Ich hoffe das liegt daran, dass ich meine Stamm-U-Bahn-Linie von 6 auf 8 geändert habe.
Mein Lieblingsoriginal habe ich letztens nach langer Zeit wiedergefunden :) Er (oder sie - da bin ich mir wirklich nicht sicher) verkauft die Motz - meist in der U-Bahn. Was ihn oder sie ausmacht sind die herrlich schrägen Klamotten (immer Lila) und der filzige Hut als ständiger Begleiter.

graefin - 16. Jul, 10:04

Als ich noch ein Kind war gab es bei uns auf dem Dorf den "Müllkasten Willi". Der einzige "Stadtstreicher", der jemals bei uns gesichtet worden ist. Er durchwühlte immer die Mülleimer des ganzen Dorfes nach Essbarem, Flaschen, Dosen, Papier - einfach allem. Als Kind kam mir das sehr seltsam vor, denn ich hatte noch nie eine Großstadt besucht und kannte keine Penner. Jeder kannte den Müllkasten-Willi und jeder kannte auch seine Geschichte. Seine Familie war bei einem Autounfall ums Leben gekommen und er war den Wagen gefahren.
Angst brauchten wir nicht vor ihm zu haben. Wir winkten ihm oder sagten Hallo und er sagte Hallo zurück. Eines Tages war er dann nicht mehr da.

In Hannover gibt es natürlich auch den ein oder anderen seltsamen Typen. Beispielsweise den "Szene Opa", der mir in Baggy Pants, Cappi, und cooler Jacke immer in der U-Bahn begegnet. Der muss so um die 60 sein, kleidet sich aber wie 16. Dann gibt es den "Karate Horst" der immer in einem weißen Judo Anzug herumläuft mit Schäferhund an der Seite. Oftmals noch mit Schlagstock am Gürtel. Ich weiß nicht genau, ob ich mich vor ihm fürchten soll oder nicht. Dann haben wir einen genialen U-Bahn Führer, den ich noch nie gesehen habe, aber oft höre. Er fährt die Linie 5 oder 4 (?) und macht solche Ansagen wie "Herzlich Willkommen meine Damen und Herren an Bord der U-Bahn Linie x, unsere aktuelle Reisegeschwindigkeit beträgt x..."

TJa, und da gäbe es noch viel mehr Originale, meistens Menschen die immer in meinem Bus sitzen und die ich seit Jahren tagein, tagaus sehe. Bei einem weiß ich seit gestern den Namen: Herr Sonnenberg, ein geistig zurückgebliebener älterer Herr.

Mawaasesned (Gast) - 4. Aug, 13:23

Mainz

Paula, eine ältere Frau, sehr freundlich, sitzt immer in der Fußgängerzone auf dem Boden und häkelt Topflappen. Die verkauft sie, sofern es sich nicht ohnehin um Auftragsarbeiten handelt. Man kann nämlich auch Topflappen vorbestellen. Dann darf man sich die Farbe aussuchen. Man darf ihr aber auch einfach so Geld geben. Dann wünscht sie einem einen schönen Tag oder so etwas.

Viel origineller als Original ist der alte Mann mit den spärlichen, aber länglichen, weißen Haaren, die er mit Schleifchen verziert oder gar zu dünnen Zöpfchen flicht. Er trägt Kleider, Modell geblümte Kittelschürze, und spielt auf einer Heimorgel Volksmusik und bekannte alte Schlager, im kräftig gegen den automatisch erzeugten Rhythmus ankämpfend. Manchmal, wenn er oder sie eine Pause macht, hört man auch den Rhythmus ganz alleine spielen. Abends packt dieses Original der Mainzer Fußgängerzone seine Orgel in den Mofaanhänger und fährt nach Hause, wo auch immer das sein mag.

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