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Mittwoch, 1. April 2009

Berg- und Talfahrt [ohne Tal]

Wenn ich Stuttgart als meinen derzeitigen Wohnort angebe, schaffe ich es, gleichzeitig zu lügen und die Wahrheit zu sagen. Denn tatsächlich wohne ich einem mit eigenem Markt und Einkaufzentrum ausgestatteten Vorort Stuttgarts, der vom Stadtkern getrennt ist, aber dennoch zur baden-württembergischen Landeshauptstadt gezählt wird. Zwischen mir, also dem Ort, an dem ich sitze und diesen Text tippe, und der Innenstadt, also beispielsweise dem Hauptbahnhof, liegen jedoch ein paar U- beziehungsweise S-Bahnminuten, die nicht nur mit Gleisen beziehungsweise Straßen gefüllt sind, sondern auch mit Wald.

Jedoch dürfte bekannt sein, dass Stuttgart trotz schwäbischer Fröhlichkeit [Ich entschuldige mich im Voraus für den nun kommenden schlechten Wortwitz.] eine Weinstadt ist, und dass Weinstöcke üblicherweise in ab- beziehungsweise aufschüssigen [kommt darauf an, in welche Richtung man läuft] Gebieten wachsen.
Ich drücke es mal so aus: Es gibt einen Grund dafür, dass der Fahrradkeller nicht von Stadträdern, sondern vielgangigen, profilreifigen Mountainbikes bevölkert wird und dass ich zur Arbeit mit dem Rad bei ausreichend regelignoranter Fahrweise auf dem Hinweg zehn, auf dem Rückweg etwa zwanzig Minuten brauche.

Dessen ungeachtet spürte ich den Gedanken in mir keimen, den mittelgut bewetterten Sonntag dazu zu nutzen, die mich umgebenden Baumansammlungen mit dem Fahrrad erkunden, frei von Stadt- oder Routenplänen, gepäck- und sorglos.

Ich liebe mein Fahrrad. Es hat bereits mehrere Jahrzehnte auf dem Rahmen, doch vermochte es, mich und dreißig Kilogramm Gepäck unversehrt und fröhlich 500 Kilometer durch die Niederlande zu tragen. Ich liebe es, weil es nicht so aussieht, als besäße es überhaupt eine Gangschaltung, und weil es dementsprechend mit einer altmodisch wirkenden aber tadellos funktionierenden 3-Gang-Nabenschaltung zu überraschen weiß. Ich liebe es, weil es ein wenig antiquiert ist, ein wenig mitgenommen wirkt, aber mich zuverlässig mit kleinen oder großen Geschwindigkeiten an jedes Ziel bringt.

An Stuttgarts Wäldern jedoch scheiterte es. Beziehungsweise ich scheiterte, denn das Rad kann nichts für meine Unfähigkeit, kilometerlange Extremsteigungen anstrengungsfrei zu bewältigen.

Anfangs war alles noch gut. Der Wald war arm an Laub, doch reich an Feuchtigkeit, und ich bemühte mich, auf den breiteren Wegen zu bleiben, die allesamt "Seufzerallee" oder ähnlich albern benamt waren. Hin und wieder stieß ich auf einen Wegweiser, der mich zu Zielen wies, von denen ich noch nie gehört hatte, doch wenn ich ihnen folgte, waren sie an der nächsten Kreuzung nicht länger bereit, mit Rat und Hinweis zu glänzen. Statt dessen las ich Namen wie "Teufelswiesen", wo überhaupt keine Grünfläche zu finden war. Auch gab es farbige Wegesmarkierungen, doch da ich bewusst vorwissensfrei in diese Tour gestartet war, halfen sie natürlich ebensowenig wie die zahlreichen Jogger, die Vogelgesang und Waldesluft ignorierend ihrer Atmung lauschten und den Weg vor ihren Schuhe beobachteten. Ebensowenig halfen die zahlreichen Hunde, die ihrer Angst vor Zweirädern teilweise mit dezibelstarkem Gebell Ausdruck verliehen. Und dass der Wald von etlichen kleinen und größeren Pfaden durchkreuzt wurde, die es unmöglich machten, in irgendeine Wildnis zu geraten, waren ebenfalls wenig unterstützend, da doch jede Kreuzung eine erneute Entscheidung abverlangte.

Was dagegen half, doch zugleich missfiel, war die Straße. Zu meiner Linken rauschte es immerfort, und ich wunderte mich ein wenig, wie es sein konnte, dass ich durch ein Naturschutzgebiet radelte, das derart intime Nähe zu Autobahnigem besaß. Immerhin war es, selbst wenn ich die Orientierung verloren hätte, dadurch nahezu unmöglich, sich zu verfahren.

Ich radelte, und tatsächlich brachte es mir Freude, Schlammpfützen auszuweichen und über belaubte Weg zu flitzen. Abzweigungen wählte ich spontan, und nicht selten suchte ich diejenige Alternative, auf der ich gerade niemanden entdecken konnten.
Es ging bergab, was mich wenig erstaunte, wohnte ich doch anscheinend oberhalb von wirklich allem. Ich war schnell unterwegs, bremste bei Hunden, bremste bei Pfützen, bremste in scharfen Kurven, bremste an Kreuzungen. So konnte es ewig weitergehen, dachte ich, wählte eine andere Richtung und trat noch ein wenig stärker in die Pedale.

Zwischendurch hielt ich an einigen der kartenartigen Orientierungshilfen, die jedoch nicht weiterhalfen. Es war vielleicht eine gute Idee gewesen, eine Art Relief zu schaffen, bei dem die Tiefe der Gravierung anscheinend für die Ausgebautheit des Weges stand. Es war auch schön anzusehen, dass Wege mit absonderlichsten Namen überall zu verlaufen schienen, dass es zahlreiche Aussichtspunkte und Raststätten gab, ja, dass der Wald im Allgemeinen vollgestopft war mit Orientierungspunkten und spannendem Zeugs. Interessanterweise gelang es mir jedoch nicht, Legende und Karte in Einklang zu bringen. Wenn ich also den Wanderweg vom Schloss zum Schössle zu entdecken versuchte, scheiterte ich. Vielleicht lag es an mir und meiner Benachteiligung, was das Erkennen roter Linien auf waldgrünem Grund angeht. Vielleicht lag es aber auch daran, dass jede einzelne dieser Karten anders ausgerichtet war. Mal war Norden links, mal oben rechts, mal unten. Ich begriff nicht, nach welcher Systematik die Karte jeweils gedreht war, doch sehr schnell, dass ich nicht imstande war, diese Karte zu lesen. Also verließ ich mich auf meinen Orientierungssinn und das Rauschen zu meiner Linken.

Eine weitere Kreuzung erreichte mich. Ich hatte mir bereits eine hohe Geschwindigkeit zu Eigen gemacht und musste mich rasch entscheiden. Vier Wege standen zur Auswahl, doch wenn ich den einen, von dem ich heranbrauste, und den anderen, der Richtung Straße führte, abzog, blieben nur nich zwei Möglichkeiten: Ein schmaler, stark belaubter, vermutlich unebener Weg - oder eine beqeme, breite Strecke, auf der sich jedoch ein Pärchen vergnügte.

Der schmale Pfad ging steil bergab. Ich grinste und wusste genau, dass mein Rad für solche Strecken eindeutig ungeeignet war. Der Boden war feucht, zu großen Teilen matschig, und wenn ich mit altmodischem Rücktritt bremste, schlug das Hinterrad aus. Es war steil genug, dass ich den Rücktritt irgendwann kontinuierlich betätigte, nur um die Geschwindigkeit annähernd beizubehalten. Alsbald musste ich auch die Vorderbremse einbeziehen, und ich war dankbar dafür, dass ich den umgestürzten Baum bereits längst gesehen hatte, bevor ich ihn erreichte, denn hätte er sich hinter einer der zahlreichen winzigen Kurven befunden, wäre ich vermutlich zusammen mit meinem Gefährt umgehend die Böschung hinunterstürzt.

Doch meine Angst galt nicht dem Sturz, galt nicht irgendwelchen Verletzungen, galt nicht dem Schlamm, der mich und mein Transportmittel verunzierte, galt nicht den zahlreichen Hindernissen, von denen irgendeines mein Rad ernsthaft beschädigen konnte. Meine Angst galt einzig und allein der Rückfahrt, auf der ich den gewaltigen Höhenunterschied wieder wettmachen müsste. Und wie ich vermutete, würde dies keineswegs mit schonend sanfter Steigung möglich sein.

Der Weg fand irgendwann sein Ende in einer Wiese, die "Vogelwiese" hieß, von Kleingärtnerei umegeben war, Blick auf die autobahnige Straße und deren Tunneleinfahrt bot, doch ansonsten keinerlei richtungsweisende Merkmale besaß. Ich hatte nur zwei Möglichkeiten und wählte die, die weg von der Zivilisation [allerdings hin zur Rauschestraße] Richtung Heimat führte. Bergauf natürlich, doch zunächst noch gemächlich. Als ich mal wieder einen bellenden Hund überholt hatte, entschied sich der Weg, allmählich steiler zu werden und sich dann zu gabeln. Erstaunlicherweise fand ich zwei Wegweiser. Der nach rechts führende Pfad war für Fahrräder wie das meinige offensichtlich ungeeignet. Er war winzig und führte steilst bergauf - in Richtung irgendeines Sees. Die Alternative war eine Fortführung des bisherigen Weges, breit genug für mich, nicht allzu steil und zur irgendeinem Brunnen führend.

Ich erreichte den "Brunnen" wenige Minuten später. Unästhetische Betonitäten hatten das aus dem Berg sprudelnde Wasser aufgestaut, so dass man sich tatsächlich badenderweise in einem Miniaturbecken vergnügen konnte - wenn es nicht nur sieben Grad Celsius draußen gewesen wären.

Na toll, seufzte ich, und gleich darauf ein zweites Mal: Der Weg war zu Ende. Das kann doch nicht sein, dachte ich und stieß bis zu dem Punkt vor, an dem ich direkt vor dem Berg stand. Hier hätte es weitergehen müssen, doch tat es das nicht. Mist.
Wieder hatte ich zwei Möglichkeiten: Ich konnte zurückfahren, dem bellenden Hund erneut begegnen und dann jenen Weg nehmen, den ich zuvor als unbefahrbar klassifiziert hatte. Oder ich schnappte mir mein Rad und trug es einfach nach rechts den Berg hinauf, durch den Wald, dorthin, wo erwähnter Weg theoretisch langlaufen müsste.

Ich entschied mich für b), und während ich mich Fahrrad tragend dem Berg näherte, wurde mir klar, dass die Wahrscheinlichkeit, mich an diesem Berghang hinzulegen und einzusauen, auch ohne schweres Fahrrad und mit zwei unterstützenden Händen anstelle von einer enorm groß gewesen wäre. Und tatsächlich: Kaum hatte ich zwei Mal gedacht, dass ich jeden Moment stürzen würde, stürzte ich. Nicht viel, nur genug, um Knie und linken Arm zu beschlammen und ein wenig zurückzurutschen. Doch ich gab nicht auf, suchte kundigen Blickes den einfachsten Weg hinauf, zog mich Schritt für Schritt voran - und landete tatsächlich auf dem erwähnten unwegsamen Weg, der mir plötzlich erstaunlich begehbar vorkam.

Ich schrieb "begehbar", denn an eine Fahrradfahrt war nicht zu denken. Und so schob ich mein Rad bergauf, hörbar außer Atem und verrückt grinsend. Wenn "aspirieren" "ansaugen" bedeutet und "trans-" "durch", dann saugte ich in den Augenblicken wohl ordentlich durch. Meine Hose war dreckig, doch das kümmerte mich nicht. Hauptsache, dieser elende Anstieg fand bald ein Ende.

Irgendwann war es dann soweit. Ich gelangte an eine dieser von Irren angefertigten Relief-Umgebungskarten und versuchte gar nicht erst, mich an ihr zu orientieren. Ich wählte irgendeinen Weg, der befahrbar aussah und in Richtung des Waldes führte, und trat in die Pedale. Es ging bergauf, und obwohl die Steigung nicht sehr steil war, spürte ich, wie ich langsamer und langsamer wurde und schließlich Geschwindigkeiten erreichte, für die mich höchstens noch gelähmte Schnecken bewundert hätten. Tatsächlich kam mir, während ich in der Pedale stehend dem baldigen Ende des derzeitigen Hügels entgegenkeuchte, ein Mountainbiker entgegen, der aber mein verzerrtes Grinsen nicht erwiderte, sondern ignorant vorbeiradelte. Arsch!, dachte ich und kämpfte weiter.

Irgendwann wurde der Weg wieder besser, und bald gelangte ich an eine Stelle, die mir bekannt vorkam. Moment, dachte ich, hier bin ich doch auf diesen schmalen, kleinen, steil abwärts führenden Schlammpfad abgebogen! Und selbstverständlich wählte ich nun eine andere Richtung, nämlich die, aus der ich ursprünglich gekommen war. An der nächsten Abweigung stieg ich ab. Ich verließ das vertraute Gelände erneut, stopfte mir ein Lakritzbonbon in den Mund und schob mein Fahrrad bergauf. Für heute hatte ich genug aufwärt gestrampelt.

Bald hatte ich genug vom Schieben und fuhr noch ein wenig. Ich gelangte ich eine bewohnte Gegend und beschloss, den Wald endgültig zu verlassen. Hier sind die Wege besser, dachte ich beglückt, vergaß jedoch, dass auch Straßen Höhenunterschiede besitzen. Nur wenige Augenblicke später kämpfte ich mich erneut transpirierend und keuchend bergauf.

Dann war es vorbei. Ich durchquerte die Siedlung mit vor Schmutz starrender Kleidung, durchgeschwitzt und Bonbon lutschend, einhändig die ebenen Straßend genießend. Als ich das Fahrrad verstaut hatte, setzte ich mich erst einmal. Ich war nicht weit gekommen an diesem Tag, doch wusste nun, was es heißt, in Stuttgart Rad zu fahren.

Sonntag, 29. März 2009

Musik, bitte.

Der Stuttgarter Club Zentral hatte zu den sogenannten Metal Nights geladen und mich frisch Zugezogenen mit schwermetallischen Bands gelockt. Ich wehrte mich nicht, und erwarb eine Karte, die mir ermöglichen sollte, Agathodaimon, eine von mir seit ungefähr zehn Jahren gutgefundene Klangformation, live zu erleben, begleitet von Agrypnie, dem Projekt, das aus den nicht mehr existierenden, aber von mir noch immer hochgeschätzten Kapelle Nocte Obducta hervorging.

Der wahre Anlass war natürlich das neue Agathodaimon-Album, das nach diversen bandinternen Umstrukturierungen eventuell in mir diverse Befürchtungen geweckt hätte, wenn ich überhaupt davon gewusst hätte. Doch bis vor wenigen Tagen wusste ich nichts, und bis Zeitpunkt des ersten Agathodaimon-Konzertsongs hatte ich von dem Neuwerk nicht mehr gehört als wenige durchgezappte Minuten in irgendeinem Musikfachfarengeschäft. Aber immerhin kannte ich das Altwerk zur Genüge und glaubte mich zumindest für den Headliner gerüstet.

Agrypnie hingegen war mir nahezu unbekannt. Glücklicherweise hatte last.fm das Debüt dieser Musikgruppe anhörbereit, so dass ich ihm drei Male komplett lauschen konnte, bevor ich mich heute auf den Weg begab. Doch war ich diesbezüglich sorgenfern, denn auch Nocte Obducta war keine Band gewesen, deren Titel man mitsingen können sollte.

Es hieß Metal-Nights, und so war es nicht verwunderlich, dass zwei Vorbands aufzutreten beabsichtigten. Zum einen handelte es sich dabei um Lyfthrasyr, deren Name mir bekannt vorkam, deren Klänge mich beim last.fmigen Hineinhören jedoch nicht dazu ermutigten, mehr als zwei Lieder erlauschen zu wollen. Ich war demnach unvorbereitet, doch mit diesbezüglicher Gleichgültigkeit benetzt. Und von der lokalen Band Darkness Ablaze wollte ich mich schlichtweg überraschen lassen.

Dass der Club Zentral so heißt, war gut, denn die Haltstelle Stadtmitte war nicht fern, und erhöhte mir Unwissendem, mit handgezeichnetem Lageplan Bestücktem die Erreich- und Findbarkeit der Lokation. Selbige war klein, aber im Gegensatz zu den üblichen Metalschuppen sauber und abseits jeglicher wrackiger Konsistenz. Es gab sogar eine behindertengerechte Männertoilette - unguterweise war sie jedoch für maskuline Wesen die einzige, so dass auch wir Nichtweibchen mal die Erfahrung einer Kloschlange machen durften. Zum Glück war sie stets angenehm kurz.

Weiteres Glück hatte ich, weil ich nach der Konzerterei meine Jacke an ihrem Platz antraf. Denn Stuttgart besitzt in seinen Clubs zwar Möglichkeiten, ablegbares Kleidwerk zu verstauen, doch mangelt es sehr häufig an Bewachern, Abholmarkenausgebern und 50-Cent-Kassierern. Intelligentweise war ich vorbereitet gewesen: Monatskarte, Geld und Wohnungsschlüssel waren alles, was ich an bedeutsamen Gegenständen bei mir trug - und natürlich nicht in der Jacke ließ.

Darkness Ablaze waren erstaunlich gut. So gut, dass ich während ihrer nur halbstündigen Darbietung immer wieder dachte: Huch, die sind ja gut. Nicht gut genug, um 12 Euro für ihr silbernes Presswerk ausgeben zu wollen, doch gut genug, um bereits jetzt in die Stimmung zu kommen, den Kopf nicht nur taktbezogen wippen, sondern mitsamt des wallenden Haupthaares schütteln zu wollen. Ich schüttelte nicht, doch freute mich über das angenehm abwechslungsreiche Spiel und den fähigen Frontmenschen, der mich eine einst getroffene Aussage korrigieren ließ: Kurzhaarige Headbanger sehen albern aus, aber nur, wenn die Kurzhaarigkeit nicht in eine Glatze mündet. Tatsächlich versprühte der Schreikerl angenehm viel Energie, um auch den recht kleinen und trotzdem nicht übermäßig dicht bevölkerten Club in Wallung zu bringen. Und auch wenn ich befürchte, die Band abseits ihres Live-Daseins nicht übermäßig viel hören zu werden, empfehle ich sie hiermit.

Das Gegenteil mache ich mit Lyfthrasyr. Unwillig muss ich zugeben, dass es nicht Unfähigkeit war, die meine Sympathie an dieser Band vorbeigehen ließ. Nein, der Grunzer war durchaus zum verschiedenen-tonlagigen Kreischen imstande und konnte auch nebenbei seinen elektrischen Bass bedienen. Doch allein dieser E-Bass war ein Hort der Widerwart: Alles an ihm schrie: Ich bin ein Poser, schaut alle her! Und es ging noch weiter: Die Gewandung der Musizierenden war tiefstes Gothic-Klischee, irgendwie unpassend für ihre harten metallischen Laute, mit Lack und Bondagerei eher dem ELektronischen zuvermutet - und auf jeden Fall in jedweder Umgebung unschön, abartig, als hätten sie Rabatte bei XtraX bekommen. Die Mimik, die Gestik, des Frontmenschen - alles rief "Poser" und vermochte noch nicht einmal mehr, mich schulterzuckend schmunzeln zu lassen. Und wenn es nicht "Poser" war, dann war es "evil" - was allein der Scheinwerfer bezeugte, der den Sänger von unten bestrahlte und dementsprechend taschenlampenböse aussehen ließ. Wenn wenigstens die Musik gut gewesen wäre - doch irgendwie empfand ich sie nur als sinnloses Geknüppel, das hin und wieder von dem mit einer Baumarktkette beschmückten Keyboard unterbrochen wurde.

Die Umbauarbeiten waren jedesmal wieder faszinierend. Zum einen erstaunte mich, wieviele Menschen Platz auf dieser kleinen Bühne hatten, zum anderen fand ich angenehm, dass die Bandmitglieder selbst es waren, die den Hauptteil des Auf- und Abbaus besorgten, nicht irgendwelche Groupies.

Agrypnie waren der Höhepunkt der Metal-Nights. Zumindest wenn es nach dem Publikum ging. Es wimmelte nur so von Agrypnie- und Nocte-Obducta-Bekleidung, während sich Agathodaimiges nirgends finden ließ. Der Saal erreichte seine Maximalbefüllung des Abends, jedoch längst nicht seine maximal mögliche.
Ich befand ich mich irgendwo in dritter, vierter Reihe und schwelgte in Sympathie. Denn tatsächlich war die Band auf den ersten Blick schon einnehmend. Da war der Schlagzeuger, der seine Ohren mit dicken Kopfhörern bedeckte und gerne in des Sängers Ansagen hineintrommelte. Da war der Bassist, ein etwas Fülligerer, der während der Songs vielleicht am meisten mitging und hin und wieder sein Musikinstrument in die Höhe hielte, als wollte er un zeigen, dass es noch immer existierte. Da war der Leadgitarrist, ein riesiger Kerl, dessen Gitarre in anderen Händen poserartig gewirkt hätte, beim ihm jedoch etwas Zierliches hatte. Während der cleanen Passagen zupfte er vor sich hin, auf seine Arbeit konzentriert und doch ohne Besessenheit. Wie nebenbei brachte er die Gitarre zum Klingen. Der zweite Gitarrist war fast noch ein Kind. Nach dem Aufbauen setzte er seine Brille ab, nach dem Konzert wieder auf. Zwischendurch strich er sich immer wieder die Haare aus dem Gesicht, obwohl sie dort überhaupt nicht verweilten. Der Sänger selbst war allerliebst. Gerne hätte ich mehr Ansagen gehört, doch war aufgrund der hohen Musikerdichte dafür kaum Zeit. "Wir spielen noch zwei Titel. Also zuerst den einen, dann ruft ihr Zugabe; dann spielen wir den anderen." Dass er zudem auch noch Linkshänder zu sein schien, machte ihn aus unbekannten Gründen umso sympathischer.

Leider war der Klang mies. Schwarzmetall eignet sich vielleicht nicht für Konzerte, oder der Mischpultmann war überfordert; ich weiß es nicht. Sicher war nur, dass ich zum Teil aus dem ganzen Rauschen, das ich vernahm, kaum noch das Lied heraushören, das ich immerhin schon dreifach gehört hatte. Nicht weniger schade war, dass nur wenige Songs des mir bekannten Albums, dafür umso mehr der neueren Scheibe gespielt wurden, so dass mein Haarschüttelpotential nicht völlig ausgeschöpft werden konnte. Doch wenigstens zum mir Bekannten arbeitete ich fleißig an den Nackenschmerzen, die mich am nächsten Tag ereilen würden.

Dann Agathodaimon. Weil das neue Werk präsentiert werden sollte, und ich eigentlich nur dessen ersten Titel wiedererkennen konnte, befürchtete ich ein wenig, nicht ausreichend Begeisterung förderndes Material auf die Ohren zu bekommen. Zum Glück unebrechtigterweise, denn obgleich tatsächlich viele Werke der gerade erschienenen CD gespielt wurden, schafften die Agathodaimonen es auch, mich sehr zu erfreuen. Ja, mehr als das: Obwohl sich der Raum ein wenig geleert hatte und die allgemeine Kopfschüttelneigung sehr gering war, wirbelte ich eifrig mein Haupthaar umher - und konnte sogar den neuen Klängen etwas abgewinnen. Der Sänger, angeblich einigermaßen neu und unguterweise mit diversem Gothic-Kram bestückt, war nicht nur allgemein gutfindbar, sondern auch zu begeisternswerten Klängen fähig und imstande, auch das Altwerk zu präsentieren, als wäre es schon immer das seine gewesen.

Dass das Mikrophon des Zweitsängers und Gitarristen nichts nutzte, störte durchaus ein wenig, doch war das Konzert gut genug, um mich darüber hinweghören zu lassen. Und als dann abschließend mit "Departure" in der Zugabe eines meiner favorisierten Lieder gespielt wurde, war ich vollends zufrieden und kehrte mit einem berauschenden Gutgefühl bestückt heim.

Samstag, 24. Januar 2009

Stuttgart

Stuttgart schafft es, auf eine sympathische Weise hässlich zu sein.

Der vorangegangene Satz entspricht keineswegs der Wahrheit, sondern nur dem Eindruck, den die bawüer Landeshauptstadt innerhalb von fünf in ihr zugebrachten Stunden auf mich machte, fünf Stunden, von denen ich eine halbe Stunde auf dem Hauptbahnhof, eine halbe in der S-Bahn und ein Großteil des Rests in einem Bürogebäude der zahlreichen Stuttgarter Vorstädte zubrachte. Das Stuttgart, das ich kenne, fliegt an unsauberen Fensterscheiben vorbei oder befindet sich über von mir gerade befahrenen Tunneln.

Sicherlich: In der Ferne erheben sich die Bergbauten, wildromantisch an den Hügel geklebt. Doch die Bergigkeit Stuttgarts ist mir bekannt, und dass sie keinen sonderlich euphorischen Ruf genießt, ebenfalls. Sicherlich: Hier und da entdeckte sogar ich auf meinem äußerst kurzen Kurzbesuch Gebäude, die wohl höheren architektonischen oder kunsthistorischen Wert besaßen, doch überwog die Zahl der Bauten, von denen mir zwar das beschreibende Adjektiv „uninteressant“], nicht aber das Aussehen in Erinnerung blieb.

Steigt man am Hauptbahnhof aus, wähnt man sich in kleinstädtischen Gefilden. Zu winzig scheint das Bahnhofsgebäude zu sein, um den Landeshauptstadtbewohnern Fernreisestation zu sein. Zudem schenken überallige Baumaßnahmen erste Eindrücke von Stuttgarts Hässlichkeit: Sie stören nicht, doch sind vorhanden. Auch die Bild möchte den Häßlichkeitsbrei mitmischen, und stellt einen unansehnlichen Audi-SUV als gewinnbar zur Verfügung – eine Masche, auf die normalerweise nur weltfremdeste Ueckermarkbewohner hereinzufallen pflegen.

Immerhin beeindruckte mich Stuttgart mit der Leichtfindbarkeit von eigentlich fast allem. Selbst als ich bewusst beschloss, bereits an der Haltestelle „Stadtmitte“ die S-Bahn zu verlassen und durch die Innenstadt zu irren, ohne einen Stadtplan erworben zu haben, gelang es mir nicht, mich zu verlaufen. Und nicht nur das; ich fand auch immer zur gerade verlassenen Haltestelle zurück, bis ich irgendwann aufgab, mich wieder in eine S-Bahn setzte und die eine Haltestelle zurück zum Hauptbahnhof fuhr, während die bilingualen Lautsprecherdurchsagen mit ihrer sympathisch-deutschen Akzentuierung mich zu erheitern vermochten.

Denn so war es in Stuttgart: Nichts wirkte überzeugend oder beeindruckend, und doch fühlte ich mich nicht gestört, nicht aufgewühlt ob irgendwelcher Hässlichkeiten, nicht beleidigt aufgrund dessen, was ich sah oder gar roch. Stuttgart war nicht schön, ja unschön, und wirkte es auf seltsame Weise angenehm, sympathisch. Wie ein alter Terrier vielleicht, der keine Schönheitskonkurrenz mehr [um mal einen Monopoly-Begriff einzuflechten, den ich noch nie in anderem Umfeld vernahm] aber dafür noch immer das Herz älterer Damen und spielender Kinder gewinnen wird. Nur dass jene Damen und Kinder in Wahrheit Anzugträger waren, die sich überall in der Innenstadt antreffen ließen. Und selbst das störte mich nicht – vielleicht weil ich an meinem Besuchstag einer von ihnen war.

Die Bezeichnung „Stadtmitte“ war irreführend, nicht auf die bösartige Märchenwald-, sondern auf die unzufriedenstellende Art. Sicherlich: es gab Fußwege und Geschäfte, wie man sie in jeder Stadt zu finden vermag. Es gab schlendernde Menschen und zahlreiche Methoden, sich ohne anzuhalten Essen in das Gesicht zu stopfen. Doch das war auch alles.

Ich landete in einer Passage, die exquisit zu sein schien, wagte kaum, die Auslagen zu beschauen, aus Angst, als neidischer Schaufensterossi zu gelten, und ich fand zwei Dönerläden, die auf den ersten Blick völlig anders aussahen, als ich Dönerladen kenne. Doch das war auch alles.

Ich sitze im Zug, fahre heim, versuche, Stuttgarts fehlende Schönheit als negativ zu erachten, doch kann es nicht. Aus irgendeinem Grund mochte ich diese Stadt. Vielleicht weil mir nicht ein einziger unfreundlicher Mensch begegnet war. Vielleicht aber auch, weil ich alte Terrier mag.

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