Bahnbegegnungen
Mein Mitbewohner erzählt:
Eines Tages saß er in einer Straßenbahn. Diese hatte bereit ein paar Augenblicke an der Haltestelle gewartet, als drei Kinder angerannt kamen, jeweils mit einem Eis in der Hand. Als sie einsteigen wollten, deutete ihnen der Straßenbahnfahrer, daß sie mit dem Eis nicht in die Bahn hineingelassen werden würden. Verdutzt schauten sich die Kinder an, zögerten kurz, warfen dann ihr Eis vor sich auf den Gehweg und drückten hastig den Türöffnerknopf. Doch zu spät; die Bahn fuhr an und hinterließ drei verblüffte Kinder. Sprachlos standen sie inmitten ihrer zermatschten Eistüten und starrten der verpaßten Straßenbahn hinterher.
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morast - 20. Apr, 20:54 - Rubrik:
Bahnbegegnungen
"Ihre Fahrkarten bitte."
Gerade hatte ich meine Schuhe von dem sich gegenüber befindlichen Sitz heruntergnommen und war aufgestanden, um in meiner Jacke nach einem Kugelschreiber zu suchen, als mir die vertraute Aufforderung ans Ohr drang. Die Kontrolle bestand diesmal aus zwei Personen, aus einem jungen Mann, der eifrig alle vorgezeigten Fahrkarten einer gründlichen Kontrolle unterzog, und aus einer nicht wesentlich älteren Frau, die ihm wie ein wohlerzogenenes Schoßhündchen wortlos hinterhertrottete.
Mein Billet hielt der Kontrolle stand, wurde abgestempelt. Er verließ das Abteil; sie trottete gehorsam nach.
Nicht einmal zwanzig Minuten später nahten die beiden Zugbegleiter erneut. Hastig nahm ich meine Schuhe vom Sitz, um potentiellen Ärger zu vermeiden. Der junge Kontrolleur sah mich mißtrauisch an:
"Hatte ich Ihre Fahrkarte schon gesehen?"
"Ja.", antwortete ich, einigermaßen unschuldig blickend.
"Wo wollen Sie denn hin?"
"Nach Magdeburg."
"Kann ich die Fahrkarte trotzdem nochmal sehen?"
"Na klar."
Ich stand auf, kramte sie heraus. Er warf einen flüchtigen Blick auf das bereits abgestempelte Stück Papier, bedankte sich artig und ging, gefolgt von seiner Kollegin.
Die hinter mir Sitzende machte sich bemerkbar:
"Da sind die schon zu zweit und wollen die Fahrkarte trotzdem nochmal sehen."
Ich zuckte mit den Schultern. Sie ließ jedoch nicht locker:
"Sehr ungewöhnlich."
"Macht nichts," entgegnete ich und lächelte.
Es machte tatsächlich nichts.
Doch sie hatte sich bereits in Rage geredet, wollte nicht länger schweigen:
"Zwei Mal kontrollieren. Das machen sie bei den Ausländern nicht!"
Was sollte das schon wieder heißen?, fragte ich mich und versteckte mich hinter meinem Buch.
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morast - 29. Mär, 20:53 - Rubrik:
Bahnbegegnungen
Gerade stellte ich ernüchtert fest, daß mein neuwertiger mp3-Player mir den Dienst versagte, als auch schon drei Jugendliche in die Bahn einstiegen und beschlossen, den verbleibenden Viererplatz [den anderen hatte ich in Beschlag genommen] meines Abteils zu beziehen. Die drei, zwei weibliche und ein männliches Wesen, erweckten keinen angenehmen ersten Eindruck, nicht zuletzt weil sie mit den kalten Rauch ihrer soeben hastig konsumierten Zigaretten meine Atemluft verunzierten. Automatisch ordnete ich sie in die Proll-Fraktion ein. Buffalos, Gürteltaschen, schwarzgefärbtes Haar und unnatürlich gebräunte Gesichtshaut boten genug Indizien.
Ich versuchte zu lesen, doch ihre Stimmen drangen an mein Ohr, verseuchten den akustischen Nahbereich mit unglaublich leerem, inhaltslosem Dahergerede, mit plumpen, humorbefreiten Wortwitzen, mit ausgelutschten Fernsehzitaten und beeindruckend dummem Gelächter.
Den Höhepunkt ihres Konversationsimitats bildete folgende, vom maskulinen Pseudowitzbold ausgestoßene Weisheit:
Frauen wollen Blumen.
Jedoch glauben sie sofort, wenn sie mit Blumen beschenkt werden, daß der Schenkende etwas ausgefressen habe.
Bevor ich den anzweifelnd-kritischen Stimmen in meinem Kopf nachgehen konnte, folgte eine verdeutlichende Anektdote aus dem scheinbar ereignisreichen Leben des beeindruckend beleibten Mädels, ein faszinierender, sich unablässig im Kreis drehender Dialog:
< Ey, ... [beliebigen Namen einsetzen] hat mir och neulich Blum' geschenkt.
Ich so: "Warum schenkstn mir Blum'?"
"Wieso?"
Ich so: "Na, haste was ausgefressn?"
"Wieso?"
Ich so: "Na, warum schenkstn mir Blum'?"
"Na, nur so."
Ich so: "Das globste ja selber nich!" >
Selten sehnte ich mich so sehr nach einem funktionstüchtigen Musikabspielgerät.
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morast - 29. Mär, 20:52 - Rubrik:
Bahnbegegnungen
Als ich den Straßenbahnsitzplatz ergattert hatte, wurde mir bewußt, daß es ein Fehler gewesen war, sich hierhin zu setzen. Nicht, weil es unbequem war, nicht, weil unangenehme Menschen um mich herumstanden. Nein, mich störte der Umstand, daß ich nicht in Fahrtrichtung blicken konnte. Dabei war mir egal, ob ich Sicht nach außen hatte. Es bestand auch keine Gefahr aufkommender Übelkeit, wie es bei manchen Zugfahrern verbreitet ist, die sich prinzipiell ans Fenster und prinzipiell in Fahrtrichtung setzen müssen.
Nahezu alle Sitze in dieses Straßenbahnwagons waren in "richtiger" Richtung angeordnet. Nur meiner nicht. Ich schaute also allen entgegen, konnte gar nicht anders, als alle anderen anzublicken. Ich versuchte, aus dem Fenster zu sehen, doch interessierte mich die falsch herum vorbeigleitende Umgebung wenig. Menschen sind interessanter.
Schnell hatten meine Augen das interessanteste Objekt ausgemacht: Ein junger Mann mit sauber gestutztem Bart und langem, blonden Haar. Der Bart sah komisch aus. Nicht minder komisch wirkten die beiden Nietenarmbänder. Ich habe nichts gegen Nietenarmbänder, doch sie sollten sich in das Gesambild einfügen. Hier wirkten sie aufgesetzt, unnatürlich. Die Kapuzenjacke trug die Aufschrift "Anthrax", eine Metalband, von der ich zugegebenermaßen nicht viel kannte. Sein schwarzer Armeerucksack war bestückt mit unzähligen Aufnähern. Metallica. Ich seufzte innerlich und ohne Begeisterung. Die schwarze Wollmütze auf seinem Schädel erweckte einen albernen Eindruck.
Er blickte zu mir. Schnell sah ich weg, scheinbar in die vorbeifliegende Umgebung vertieft. Zuweilen ist es gefährlich, allzu neugierig zu sein. Menschen neigen zu aggressivem Verhalten, wenn man sich zu sehr für sie interessiert.
Als ich wieder hinsah, spielte er mit seinem Nietenarmband. Scheinbar war es ihm genauso ungewohnt wie es aussah. Neben mir wurde ein Platz frei. Er setzte sich, starrte mich an, schaute weg, starrte wieder. Freundlich erwiderte ich seinen Blick.
"Wo hast du die Jacke gekauft?", stotterte er mit erstaunlich piepsiger Stimme und zeigte auf mein Samtjacket. Ich war verdutzt, versuchte mich zu erinnern. "Moment.", antwortete ich lächelnd, "Gleich fällt es mir ein." Im Geiste begann ich zu hoffen, daß ich das Jacket nicht in H&M oder einem ähnlich uninteressantem Laden erworben hatte.
Dann erinnerte ich mich: "In einem Second-Hand-Store in Halle." Das klang gut. Alternativ. Das übergroße C&A-Schild, das ich nach dem Kauf hastig von der Innentasche entfernt hatte, erwähnte ich nicht.
Er nickte mir zu. "Sieht gut aus. Wie Emppu. Von Nightwish."
Ich zuckte mit den Schultern, wußte nicht, ob mich nun freuen sollte oder nicht. Nightwish. Nun ja. Kenne ich, mag ich nicht. Emppu? Keine Ahnung, wer das ist.
Noch während ich nach einer Antwort suchte, hielt die Bahn. Ich sah aus dem Fenster, stand auf.
"Hier muß ich raus.", sagte ich und floh.

[Emppu]
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morast - 24. Mär, 20:35 - Rubrik:
Bahnbegegnungen
Als ich das Abteil betrat, sahen die beiden alten Leute nicht auf. Eifrig wühlten sie gemeinsam in einer kleinen Tasche und zauberten eine Zeitung und ein Buch hervor. Ich setzte mich, nahm einen Viererplatz in Beschlag und überlegte, in welche Richtung der Zug fahren würde.
Die beiden Alten nahmen keinen Anstoß an meinem Platzraub, an meinen Schuhen auf der Sitzkante, vertieften sich in ihre Lektüre. Heimlich schaute ich hinüber. Keinerlei Reaktion erfolgte. Ich blickte offensichtlich hinüber, wendete demonstrativ Kopf und Oberkörper in ihre Richtung, starrte sie aufdringlich an. Die alte Frau drehte sich zu ihrem Mann und murmelte ein paar Worte. Er antwortete, sie lachte, las weiter. Ich bin ein Geist.
Mein Schnupfen machte sich bemerkbar, machte mich bemerkbar. Ich nieste lautstark. Mehrmals. Anschließend vernahm ich nur Stille, keine Genesungswünsche, keine Regung, keinen Laut aus den Mündern der Alten. Selbst als ich mir die Lunge aus dem Hals hustete, als ich mich keuchend an der Lehne festkrallte, um nicht von mir selbst vom Sitz zu gerissen zu werden, als mir jede Luft zum Atmen fehlte und ich im Geiste flehte, daß dieser Hustenanfall vorbeigehen möge, blickten die beiden Alten nicht zu mir herüber. Ich war unsichtbar.
Heimlich faßte ich in mein Gesicht, tastete nach meinem Leib, befürchtete, mit der Hand hindurchzugleiten. Doch ich spürte mich, war noch da.
Die Alten erhoben sich, halfen sich gegenseitig beim Bekleiden. Sie sahen zu mir - doch sahen mich nicht. Als sie ausstiegen, fragte ich mich, wo ich bin. Noch immer hier?
Ich sah mich, meinen Körper, fühlte mich, konnte mich atmen hören. Verweilte ich noch in dieser Welt? Oder war ich unsichtbar, für mich allein zu sehen, ein Geist, ein Dämon gar?
Der Schaffner trat ins Abteil, wünschte meine Fahrkarte zu sehen.
Ich atmete auf: Ich war noch immer hier.
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morast - 20. Mär, 20:33 - Rubrik:
Bahnbegegnungen
Gerade eben setzte sich sich der Zug behäbig in Bewegung, begann beschleunigend die Fahrt in meien zweite Heimat. Das Bahnhofsgelände rauscht außen vorbei; ich sehe aus dem Fenster und begegne fremden Welten.
Dieser Bahnhof besitzt zwei Seiten. Die erste kenne ich gut. Unzählige Male hielten sich meine Blicke an den bekannten Gebäuden fest, erfreuten sich heimkehrend der restaurierten Fassade der Bahnhofshalle. Die zweite Seite jedoch verbirgt sich, verblieb bislang unbekannt.
Auf rostenden Gleisen stehen wuchtige Lokomotiven, deren roter Lack allmählich abzublättern beginnt. Unzählige Masten und Signale bilden einen wirren Wald aus Metall. Zerfallene Backsteinbauten stehen herum, mit längst veralteten, verrottenden Schildern bestückt. Überall wuchert wild das Unkraut, entfaltet sich in unkontrollierter Freiheit.
Hinter den Gleisen stehen Häuser. Ihre Scheiben sind längst erblindet oder von Steinen zerschmettert. Grau und tot präsentiert sich das dreckverkrustete Mauerwerk, zeugt von Vergessen. In Reih und Glied warten sie neben den Gleisen wie Veteranen längst verlorener Kriege. Ich kenne sie nicht.
Vielleicht tummelte sich einst Leben in ihnen, Arbeitende, Maschinen, menschliche Stimmen, zu Gelächter geformt, die üblichen Wünsche und Sehnsüchte in den Köpfen träumender Wesen. Vielleicht waren sie einst wichtig, stolze Bestandteile des Bahnhofs, bedeutend für den seinen Betrieb, unentbehrlich für seine Funktionalität.
Heute jedoch wirken sie traurig, leer und kalt, einer Geisterstadt entnommen. Ich entdecke einige Buchstaben - eine einstige Beschriftung vielleicht - doch vermag ich sie nicht zu entziffern, kann mich nicht erinnern, die zweite Seite des Bahnhofs jemals zuvor entdeckt zu haben.
Schon länger bewohne ich diese Stadt, wandle durch ihre Adern, kenne Bauten, kenne Bewohner. Doch die Welt hinter dem Bahnhof kenne ich nicht.
In meinem Kopf befrage ich den Stadtplan, orte den geheimen, vergessenen Bezirk. Schon oft verweilte ich hier, lief durch die Straßen, fuhr zu wichtigen Zielen. Doch niemals zuvor sah ich diese Häuser.
Nur wenige Straßen weiter erblicke ich weitere Gebäude, Wohnhäuser. Ich erkenne sie wieder, glaube mich an einen Mieter erinnern zu können, fände sie sofort, müßte ich danach suchen. Aber das vergessene Zwischenreich, die ungesehene Welt hinter dem Bahnhof, vermag ich nicht zu fassen.
Für einen Moment bedrängt mich der Wunsch auszusteigen, zu erkunden, was längst dem Verfall überlassen wurde, der Wunsch zu entdecken, was so geheim, so fremd, auf der Bahnhofsrückseite verweilt, will berühren, was sich so geschickt vor meinen Blicken verbarg. Schon stehe ich auf...
Am Fenster rauscht die Außenwelt vorbei. Längst liegt die zweite, die myteriöse, Seite des Bahnhofs Kilometer hinter mir. Ich setze mich wieder, versinke im Sitz, in meine Gedanken.
Die Lautsprecherstimme weckt mich. Ich bin bereits am Ziel. Als ich mich erhebe, mir meine Jacke überwerfe, erhasche ich, kurz bevor der Zug zum Stehen kommt, einen Blick nach außen - auf eine weitere Welt jenseits des Bahnhofs, jenseits menschlicher Erinnerung.
Fassunglos steige ich aus, fliehe in die Wirklichkeit.
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morast - 20. Mär, 20:33 - Rubrik:
Bahnbegegnungen
In der Straßenbahn saß hinter mir ein Paar. Ich schätzte die beiden auf Ende Vierzig und stellte mal wieder fest, wie schwer es mir fiel, Menschenalter zu erahnen. Heimlich nach hinten lugend, beobachtete ich sie, wie sie ihrerseits einen BMW beobachteten, der neben uns hielt. Silbergraumetallic. Neu. Funkelnd und glänzend.
Die beiden schauten aus dem Straßenbahnfenster hinaus, auf den BMW hinab. Zumindest versuchten sie es. Schließlich war die Scheibe über und über mit Außenwerbung beklebt. Ich hörte wie der Mann sich auf seinem Sitz hin- und herbewegte, um optimale BMW-Sichtverhätnisse zu erwirken. Seine Frau dagegen betonte immer wieder: "Ich kann hier durchgucken!" und meinte die winzigen Löcher in der fensterbedeckenden Werbefolie.
Der Mann ignorierte sie, starrte wie besessen auf den blitzenden BMW: "Ist 'n 7er. Ich kanns nicht genau erkennen. 'N 7er."
Während er sich weiterhin bemühte, seine Sitzposition den mangelnhaften Sichtverhältnissen anzupassen und einen Blick auf das auskunftgebende Fließheck des teuren Wagens zu werfen, murmelte er beschwörend, sich ständig wiederholend: "'N 7er. 'N 7er.". Wie ein Mantra.
Die Ampel schaltete auf Grün; der BMW fuhr an. Es war ein 5er.
Ohne seinen BMW-Beschwörungsritus zu unterbrechen, als hätte er die ganze Zeit nichts anderes gesagt, murmelte der Mann weiter vor sich hin: "N '7er. N '7er. N '5er ..." und ergänzte schließlich, wie um mit beeindruckendem Fachwissen zu protzen: "'N 5er... Kombi."
Dann war er weg. Der 7er. Äh ... 5er. Kombi.
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morast - 17. Mär, 20:32 - Rubrik:
Bahnbegegnungen
Die Bahn macht mobil. In Minderheiten.
Ich habe keine Ahnung, ob der allseits unbeliebte Bahnchef Mehdorn in einem deutschlandweiten Rundbrief an seine Personalabteilungen die Forderung nach zunehmender Integration von Minderheiten in das Zugbegleiterpersonal stellte oder ob ich nur das skurrile Glück hatte, bei den letzten Zugfahrten immer wieder von derartigen nach meinem Ticket befragt zu werden. Fest steht, daß ich eines Tages als ich schmökernd in dem S-Bahn-artigen Gefährt saß, welches stündlich zwischen Halle und Magdeburg hin und her pendelt, von einer wenig attraktiven Frau nach meiner Fahrkarte gefragt wurde. Ich habe ihr Gesicht nicht länger in Erinnerung, doch erinnere mich noch deutlich eines slawischen Akzents, der mich grübeln ließ, welcher nationalen Abstammung die Schaffnerin, Verzeihung: die Zugbegleiterin, wohl sein mochte. Allein die Tatsache der Integration einer urspünglich ausländischen Mitbürgerin in das Bahnpersonal fand ich lobenswert und verschaffte der sonst selten mit Positivaspekten belegten Deutschen Bahn einen kleinen Pluspunkt auf meiner inexistenten Bewertungsskala.
Allerdings maß ich der Sache nicht derart große Bedeutung bei, daß sie mir in allen Einzelheiten im Gedächnis blieb. Jedoch begab es sich, daß mir auf der Rückreise in der gleichen Regionalbahn erneut die Frage nach meiner Fahrkarte gestellt wurde. Diesmal handelte es sich bei dem Kontrolleur um einen jungen Mann von geringer Körpergröße und schmaler Statur. Sein Schnauzer wirkte ein wenig albern und erweckte den Eindruck, zu einem Türken zu gehören. Der Eindruck täuschte nicht, war doch sein Akzent eindeutig türkisch gefärbt. Ich gebe zu, daß die Färbung auch arabisch gewesen sein konnte, daß der kontrollierende Zugbegleiter womöglich nicht aus der Türkei, sondern aus dem Iran oder dergleichen stammte, doch steht fest, daß Deutschland vermutlich nicht als seine ursprüngliche Heimat zu bezeichnen war.
Wieder vergaß ich diese Begebenheit und sollte ich mich erst wieder an sie erinnern, als ich mich vor wenigen Tagen in der Regionalbahn von Halle nach Magdeburg befand. Es war Samstag Abend, der Zug war verhältnismäßig leer, ich hatte meine Ruhe. Letzteres ist in den seltensten Fällen gegeben, weswegen ich bei nahezu jeder Zugfahrt die Möglichkeit des Erwerbs eines tragbaren Musikabspielgerätes zum Ohrenverstopfen erwäge. An einer der unzähligen Dorfhaltestellen steigen zwei Rentner zu, plazierten sich direkt hinter mir und begannen ausfürlich über ihren Sohn zu diskutieren, dem sie gerade einen Besuch abgestattet hatten. Ich versuchte, mich in die Bedienungsanleitung meines Photoapparates zu vertiefen, doch versagte. Die beiden, in wasserabweisendes Wanderoutfit gekleidet und mit scheinbar unabnehmbarer Woll- bzw Schirmmütze bestückt, wurden in ihrer dorfdialektisch eingefärbten Nonsens-Unterhaltung, in der sie ständig einander zu bekräftigen versuchten und immer neue Worte fanden, um bereits Gesagtes anders zu umschreiben, erst unterbrochen, als der Zugbegleiter in das Abteil hereinspazierte.
"Hereinspazierte" trifft es vielleicht nicht ganz, war es doch mehr ein elegantes Tänzeln, das man bei maskulinen Wesen eher selten sieht. Sowohl diese Gangart als auch seine Frisur, sein gut ausrasierter Bart und der Ring im rechten Ohr bewirkten bei mir eine Spontanassoziation zu dem Wort "schwul". Und wie es aussah, war mein erster Eindruck ein richtiger, wurde er doch durch Gestik, Stimme und Sprache des Zugbegleiters verstärkt.
Das Rentnerpaar besaß eine eindeutig falsche Fahrkarte, aber nicht die Fähigkeit zur Einsicht, was zu einer Endlosdiskussion zu führen schien. Immer wieder verwies der kontrollierende Bahnmitarbeiter darauf, was deutlich auf dem Ticket zu lesen war, vermochte aber keine weiteren Argumente für die Eindeutigkeit seiner Aussage zu finden. Er blieb ruhig, ging höflich auf die beiden Älteren ein, neigte aber zu einem Anflug von Verzweiflung, als er der Uneinsichtigkeit der Rentner gewahr wurde. Diese nämlich diskutierten wild durcheinander, nicht vergessend, sich völlig ihrem unappetitlichen Dialekt hinzugeben, auf die Bahn, ihre Preise und die bösen, bösen Automaten zu schimpfen, die doch gefälligst alles ausführlich zu erklären hätten.
Selbst als der offensichtlich homosexuelle Zugbegleiter sich mir zuwandte und die beiden Nahezu-Schwarzfahrer mit ihrem flaschen Ticket allein ließ, ohne ihren Fehler zu ahnden, schimpften sie weiter, diskutierten, behaupteten, die richtige Fahrkarte zu besitzen.
Seiner Verzweiflung nachgebend zeigte er nun auch mir das Ticket, wollte darin bestätigt werden, was auf dem unrichtigen Ticket eindeutig zu lesen war. Lächelnd gab ich ihm recht, zeigte meine eigene, gültige Fahrkarte und war sogar so großzügig, meine Bahncard unaufgefordert vorzuweisen. Die Alten gaben keine Ruhe, doch diskutierten mittlerweile eher mit sich selbst als mit dem Zugbegleiter. Dieser hatte seine Ruhe noch immer nicht verloren, beendete seinen freundlichen Kontrollblick auf mein Ticket und verschwand aus dem Abteil.
Ich hörte mir die Diskussion der beiden Zurückbleibenden noch eine Weile an, versuchte, einen guten Rat einzubringen, der aber abprallte und darin mündete, daß die bereits tausendfach aufgeführten Unschuldsbetuerungen noch einmal von vorn begannen. Ich seufzte leise und vertiefte mich erneut in meine Bedienungsanleitung.
Als die Rentner wenige Bahnhöfe später ausstiegen und die ersehnte Ruhe in mein Abteil zurückkehrte, stellte ich resümierend fest, daß ich nicht nur die zunehmende Integration in Deutschland lebender Minderheiten in das Zugbegleiterpersonal der Deutschen Bahn guthieß, sondern wohl in meinem gesamtem Bahnfahrerdasein noch keine derart freundlichen Zugbegleiter erlebte.
Deswegen fordere ich an dieser Stelle lautstark:
Mehr schwule Schaffner für deutsche Bahnen!
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morast - 7. Mär, 20:31 - Rubrik:
Bahnbegegnungen
Ich gebe zu, ich bin ein häufiger Nutzer des öffentlichen Personennahverkehrs und neige zuweilen dazu, in diesen Fortbewegungsmitteln den kleinen Ungewöhnlichkeiten anderer Passagiere zu widmen. Eines jedoch ertrage ich überhaupt nicht, insbesondere wenn mir geeignete Gegenmittel [wie mobile Musikabspielgeräte jeder Art] fehlen: überlaute Unterhaltungen.
Erst heute begegnete ich einem besonders aufdringlichen Exemplar dieser Gattung. Zwei Frauen, schätzungsweise zwischen 50 und 60 Jahre alt, wenig vorteilhaft gekleidet, saßen einander gegenüber. Etwas abseits hatte sich der zu einer der beiden gehörende Mann platziert.
Die Damen unterhielten sich, besser: eine von ihnen unterhielt. Ihr Mund stand nie still. Vermutlich lag es an ihrem albernen Ohrenwärmerstirnband, daß sie der Überlautstärke ihrer Stimme nicht gewahr wurde. Ich jedoch bemerkte sie. Und das nicht nur nebenbei.
Die Frau redete und redete und schien weder zu einer Atempause noch zu einem Themawechsel bereit.
Ihre unzähligen Sätze faßten den Inhalt irgendeiner hirnlosen Comedy-Sendung des Vortags zusammen, bei der sie sich wohl hinreichend amüsiert hatte. Nun glaubte ich nicht, daß mein Amusement ebenso intensiv gestaltet gewesen wäre. Schlimmer noch war es jedoch, ihr notgedrungen zuhören zu müssen, wie sie jedes unbedeutende Detail des Gesehenen dezibelintensiv beschreiben mußte, aber irgendwie verfehlte, auch nur eine winzige Prise Humor beizufügen.
Sie gab ihren ausführlichen Bericht zum Besten und vergaß auch nicht, immer wieder, insbesondere bei Erwähnung teilhabender deutscher Pseudoprominenz à la "Schanedd Biedormann", ihrer lauschenden Begleitung die rhetorische Frage zu stellen: "Die gennste doch, oder?".
Nur einmal richtete sie eine derartige Frage an ihren Mann und kommentierte sogleich lautstark seine darauffolgende Sprachlosigkeit:
"Du hörst mir doch eh nich zu. Ich genn dich doch. Du hörst eh nich zu."
Bis jetzt bewundere ich diesen Mann und frage mich, wie er er wohl geschafft haben mag, trotz aufdringlicher Überlautstärke nicht zuzuhören...
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morast - 28. Feb, 20:30 - Rubrik:
Bahnbegegnungen
Der Kasper neben mir, der sich als "Juppi" vorgestellt hatte, schweigt nicht. Seine Bierfahne bemerke ich schon lange nicht mehr; leicht vermag sie sich in unter dem allgemeinen Gestank der grölenden Masse zu verstecken.
Nachdem ich feststellte, daß die Welt unter meinen Füßen außeinanderzubrechen droht, trat ich die Heimfahrt an - allerdings inmitten einer zugbesetzenden Gruppe angetrunkener Fußballfanatiker, deren Verein in meiner Heimatstadt ein scheinbar bedeutsames Spiel zu bestreiten hat. Ein Derby: Magdeburg gegen Halle.
Der Fahrkartenautomat verweigerte im letzten Moment den Dienst, mein Zugeintieg erfolgte in höchster Eile. Ich quetschte mich an den unzähligen grüngewandeten, mit Helmen und Schlagstöcken ausgerüsteten Ordnungskräften vorbei und platzierte mich auf dem letzten, verfügbaren Sitz, direkt neben einem unrasierten Mittdreißiger, der mich sogleich mit lallenden Worten belegte und sich umständlich vorstellte Juppi. Ich leihe ihm meinen Schlüsselanhänger zum Öffnen seiner Bierflasche, und unsere Freundschaft ist besiegelt.
Er ist freundlich, erklärt mir die Umstände (Magdeburg gegen Halle. Derby. Fußball. Fans. Zugfahrt. Polizei. Lustig.) , die ich längst begriff, versucht den uns umgebenen Lärm mit Eigengeräusch zu ünertönen. Ab und zu unterbricht er sich, um bei einem Fußballgesang, den er kennt, mitzugrölen.
Die Gespräche ringsum kann man kaum als solche bezeichnen: Sinnlose Bemerkungen über Bier wechseln sich ab mit einem gegenseitigen Anfeuern; es folgt eine Diskussion über die verbleibende Anzahl an Bierflaschen im Kasten und darüber, sich und insbesondere die Stimmorgane, für später zu schonen; gleichzeitig fliegen Haßtiraden gegen Hallenser Fußballer und deren Anhänger durch die stickige Luft, unterbrochen von einer Zählung der verbliebenen Bierflaschen und textlosen Schalala-Gesängen. Und stets präsent ist die wohl bedeutsamste aller Fragen dieser Augenblicke: Wo zur Hölle ist das verdammte Klo?
Die grünen Wächter bleiben erstaunlich gelassen, tolerieren den zunehmenden Alkoholkonsum, den Genuß von Zigaretten im Nichtraucherabteil, tolerieren die albernen Gesten und das pseudomännlich-affenartige Gehabe. Nur einmal "eskaliert" die Situation, als ein Fußballfreund in ruhigem Tonfall aufgefordert wird, sich zu setzen - und nach einigen bierbedingten Verständigungsschwierigkeiten gehorcht. Neben ihm lassen sich zwei Grüne nieder, augenscheinlich froh, auch einmal sitzen zu können.
Ich bemerke erstaunt, daß die Gesangsstimmen der sangesfreudigen Magdeburger Fans stets mindestens eine Oktave tiefer zu sein scheinen als ihre mittlerweile recht heiseren Sprechstimmen. Ein Grüner wird beim allgemeinen Rumgehüpfe angerempelt - und erhält eine Entschuldigung dafür.
Juppi, der freundliche Anhänger einer einseitigen Konversation mit mir, vertraut mir seinen Beutel an. Dessen Inhalt besteht - natürlich - aus mehreren Bierflaschen. Immerhin hat er einige Minuten zuvor erfahren, daß ich Bier meide, was mich wohl in seinen Augen zu einem vertrauenswürdigen Menschen macht. Er verzieht sich - natürlich - aufs Klo.
Sein Sitzplatz wird schnell wieder besetzt - von einem schätzungsweise vierzehnjährigen Jungen, der irgendwann feststellt, daß ich gar keine Frau bin. Ich bin von seiner Auffassungsgabe beeindruckt. Er wiederum davon, daß ich so viele Wörter aneinanderreihe. Ich habe einen weiteren Freund gefunden.
Die Gesänge, sofern man so euphemistisch ist, sie als solche zu bezeichnen, lassen nicht nach; das Niveau der durchaus lautstarken Kommunkation sinkt weiter. Juppi kehrt zurück, tanzt den vierzehnjährigen Platzbesetzer an, der sich aber um andere Dinge kümmert (Bier). Erstaunlicherweise führt auch das zu keinerlei Verdruß.
Nicht minder erstaunlich ist der Umstand, daß auch die wenigen Freunde der Hallenser Mannschaft toleriert werden. Sicherlich fliegen höhnische Worte und beleidigende Gesänge durch die Luft, doch sind sie harmlos und münden nur in verbalen Gegenattacken.
Juppi schmeißt sich unterdessen an eine Sechszehnjährige heran, deren Hüfthose beeindruckend tief sitzt, und versucht sich als Alleinunterhalter - beides natürlich vergeblich. Erwähntes Mädel, ich stelle später fest, daß ihr echter Name Uli ist, zeigt alberne Knutschfotos herum, präsentiert diese sogar den beiden sitzenden Grünen - nur nicht meinem Freund Juppi.
Fast bin ich geneigt, so etwas wie Mitleid mit ihm zu empfinden, was mich jedoch nicht davon abhält, mich der Distanz zwischen mir und ihm zu erfreuen.
Nach einer Weile aber läßt sich Püppi, wie Juppi sie nannte, dazu herab, auch ihm ihre albernen Fotos zu zeigen; die restlichen Mädels, die erstaunlich laut zu grölen vermögen, beschweren sich geifernd über ein anderes Zugabteil, wo alte Männer ihnen an Brust und Po gegrabscht haben. Immenser Biergenuß läßt wohl auch treuste Ehemänner zu hirnlosen Kinderschändern mutieren.
Juppi ist in seinem Element, als er beginnt, lautstark in die Gesänge der anderen Abteile einzustimmen. Erstaunlich, wie laut ein einzelner Mensch sein kann. Ebenso erstaunlich ist, daß der besungene Fußballverein mit einem Male keine Bedeutung mehr zu haben scheint und spontan gegen einen Erstligisten ausgetauscht wird.
Nicht minder erstaunlich ist die Knopfdruck-Funktion: Juppi beginnt mit melodiebefreitem, rhythmusfernen "Schalala"-Gegröle, und die übrigen Anwesenden - abgesehen von mir und den Polizisten - stimmen ein. Ich kann keinerlei Texte ausmachen, obgleich sicherlich irgendwo in dem dezibelintensiven Gelalle ein- oder zweisilbige Wörter versteckt sind.
Ein Grüner ermahnt einen Marsriegelesser, der gerade mit reger Begeisterung eine Bierthematik anschlägt, sein Verpackungspapier nicht auf dem Boden liegen zu lassen, und wird mit einem kollektiven "Spielverderber!" belegt. Ich schmunzle unfreiwillig.
Mittlerweile beginnen mich die kindischen Hirnlosigkeiten und die montonen, stetig wiederkehrenden und vor allem überlauten Gesänge zu nerven. Den Grünen reicht es aber scheinbar auch. Die Ermahnungen nehmen zu. Ruhe wird gefordert. Mehrmals. Drohungen werden ausgesprochen. Die Reaktionen sind verhalten.
Einer der Störenfriede, der ominöse Marsriegelesser, wird beiseite gezogen, ein unfreundliches Wort findet das nächste. Der Ermahnte setzt sich wieder und bleibt einigermaßen ruhig.
Aber Juppi, der inzwischen wieder den Platz neben mir einnimmt und von der geladenen Simmung innerhalb des Abteils nicht viel mitzubekommen scheint, beginnt zu schunkeln. Ich erwäge mehrmals aufzustehen und zu gehen. Doch wohin?
Püppi wird von Juppi aufgefordert, sich auf seinen Schoß zu setzen, übt sich aber in Ignoranz. Derart abgewiesen wendet er sich mir zu, belastet mich mit zwei oder drei wirren Sätzen, beinhaltend seine Kinder in Thüringebn, seinen Onkel im Ruhrgebiet, sein geschiedene Frau und Fußballfanatismus. Ich verstehe kein Wort. Er erkundigt sich nach meiner bereits gegründeten, allerdings leider nichtexistenten Familie. Ich lächle verzweifelt.
Juppi nervt. Immer mehr. Er beginnt zu grölen, direkt neben meinem rechten Ohr, hört auf, macht weiter. Immer wieder. Aggression liegt in der Luft: gegen Juppi, gegen die Grünen, gegeineinander. Skins laufen durch die Gänge, präsentieren sich. Arroganz zeigt verbissene Gesichter.
Draußen schneit es. Ich versuche, mich dauaf zu konzentrieren, schaffe es nicht.
Zunehmend Beschwerden über Grabscher. Vorher Angetrunkene sind längst Besoffen. Gehirne funktionieren nicht länger. Schreie zerschmettern mein malträtiertes Trommelfell. Polizisten greifen sich einen weiteren Fan. Juppi singt wieder.
Schnee. Atmen. Atmen. Schnee.
Ich will hier raus.
Der Hallenser Bahnhof rückt nahe. Die Grünen postieren sich ander Tür, allgemeines Gedränge herrscht. Doch niemand schubst. Langsam quellt der weißblaue Brei durch die Tür nach außen. Dort erkenne ich nur grün. Der ganze Bahnsteig ist mit Polizisten zugepflastert. Die Treppe zur Bahnhofshalle ist durch eine grüne Mauer versperrt. Ich stelle mich davor und lächle. Inmitten eines Pulks angetrunkener, grölender Fans ("Hurra, hurra, die Magdeburger sind da!") stehe ich und lächle. Ein Polizist bemerkt mich, begreift, daß ich nich zur Meute gehöre und läßt mich durch.
Befreit laufe ich durch die leeren Gänge. Polizisten säumen den Weg. Grimmige Gesichter. Angespannte Minen.
Mein Telefon klingelt. Mein Bruder fordert mich zur Eile auf. Er steht im Parkverbot und ist schon mehrmals von Polizisten zur Weiterfahrt aufgefordert worde. Ich fange an zu zu rennen.
Ein merkwürdiges Gefühl, inmitten einer Masse aus Gesetzeshütern urplötzlich zu rennen...
Ich verlasse den Bahnhof. Mein Bruder winkt mir aus der Ferne zu. Erleichtert lache ich ihm zu.
Es beginnt zu schneien.
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morast - 26. Feb, 20:29 - Rubrik:
Bahnbegegnungen