Wortwelten
Im Erdgeschoss der hier ansässigen Karstadt-Filiale, in direkter Nähe zu den zahlreichen nach oben und unten zeigenden Rolltreppen, befindet sich ein Tisch, auf dem vor geraumer Zeit eine Schaufensterpuppe positioniert wurde. Sie sitzt dort, trägt häufig wechselnde Klamotten und einen unmodischen graubraunen Kurzhaarschnitt aus Plastik.
Ihre Haltung ist verkrampft. Kerzengerade thront sie auf ihrem Tisch, zwischen Damensocken und Handtaschen, in unmittelbarer Nähe zu den wichtigsten Gängen des Erdgeschosses. Und jedesmal, wenn ich das Karstadt-Kaufhaus betrete, sehe ich sie. Wer baut solche Puppen, denke ich dann häufig und suche vergeblich das Lächeln in der starren Miene aus Kunststoff. Ihr Mund ist nur ein schmaler Strich, und in ihren Augen finden sich nur Langeweile und Trauer. Ich nehme mir ein Herz, laufe durch die Gänge, entdecke ein Paar flauschige Wohlfühlsocken mit lustigen Tiergesichtern und lege es liebevoll in ihren Schoß. Natürlich lächelt sie nicht - wie sollte sie auch, als unbewegliche Schaufensterpuppe? Und doch stelle ich mir vor, dass sie sich freut, dass sie - irgendwie - nach innen schmunzelt.
Beim unserer nächsten Begegnung lege ich ihr eine Handtasche in den Schoß. Keineswegs verdient diese die Bezeichnung "hübsch"; sie ist eher schrill und grell und wirft, so absurd es klingt, ein wenig Leben in das künstliche Antlitz. Beim übernächsten Mal ist es ein riesiger rosaroter Regenschirm, den ich ihr in die Finger drücke. Natürlich wird sie hier drin, im Inneren des Kaufhauses niemals nass werden, dennoch glaube ich, dass sie die Geste zu schätzen weiß. Und nicht nur sie. Gerne stelle ich mir vor, wie potentielle Karstadt-Kunden an ihr vorbeigehen, den Schirm oder die Socken bemerken und darüber schmunzeln. Nicht länger ist die Puppe eine fade, unbemerkte Erscheinung am Rande des Gangs, sondern eine klitzekleine Attraktion, ein winziger Grund zu lächeln. Ich glaube, das gefällt ihr.
Was werden die Mitarbeiter denken?, frage ich mich manchmal, wenn ich ihr neues, veräußerliches Utensiliar auf die Oberschenkel lege. Mache ich mich strafbar...?
Heute trägt sie einen Hut. Eine gute Idee, denke ich, denn obgleich die Kopfbedeckung aufgrund fehlenden Bezugs zu aktuellen Modevorstellungen unkaufbar ist, bedeckt er doch ihre unschöne, festsitzende Plastikfrisur und raubt ihr einen weiteren Teil der fortwährenden Starre.
Ein paar Meter weiter werden Sonderangebote veräußert. Ein Mann mit Mikrofon wirft mit Preisen und Sortimenten um sich, und ich bete leise, dass er mich nicht sieht, mich nicht anspricht, als ich direkt vor seiner Nase einen riesigen Plüschteddy vom Wühltisch klaube und zu meiner Schaufensterpuppe trage. Liebevoll setze ich ihn auf die reglose Figur, lasse ihn sich sanft mit kuschligem Fell an ihre nackten Arme lehnen. Ein letzter Blick, und ich verlasse das Gebäude.
[Im Hintergrund: Helrunar - "Frostnacht"]
morast - 13. Feb, 23:59 - Rubrik:
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Während rechts von mir ein metallener Dinosaurier mit ungelenken Bewegungen an den Resten eines Hauses herumknabberte und links von mir ein riesiger Bagger ehemalige Gebäudebestandeile in eine Maschine schaufelte, die kontinuierlich zerkleinertes Steingut ausspuckte und zu Haufen türmte, vernachlässigte ich einen Augenblick lang die Beobachtung der Gehwegplatten, auf die ich meine Schritte setzte - und trat prompt in ein widerliches Häufchen Fäkalunrat.
Ich erachtete mich nie als Angehöriger jener Gruppe von Menschen, die Klein- und Wenigerkleintieren das öffentliche Darmentleeren verbieten oder zumindest deren Herr- und Frauchen horrende Geld- und Zuchthausbußen für unterlassene Kotbeseitigung aufbrummen wollen, und so unterließ ich es auch diesmal zu erzürnen und den nächstbesten Gassigeher mit unflätigen Beschimpfungen zu überhäufen. Nur ein leiser Seufzer entrann meinen Lippen, als ich das verklebte Profil meines Schuhwerks in Augenschein nahm. Denn leider sind innenstädtische Bereiche arm an Möglichkeiten, Ekelhaftes von Schuhunterseiten zu entfernen. Wiesen oder Waldwege wären meines Erachtens nach bestens dafür geeignet gewesen, den rechten Fuß schabend an ihnen entlangstreifen zu lassen, auf dass nach und nach die hündischen Stoffwechselendprodukte von mir wichen. Doch an Grünflächen mangelte es wie so oft in derartigen Situationen, und die wenigen mir zur Verfügung stehenden hätten aufgrund des ungünstigen Verhältnisses zwischen Anzahl an nachbarschaftlichem Kläffgetier zu pflanzenbewachsenen Kacklokationen die Bezeichnung "Braunflächen" verdient und meinen Schuh eher um weitere Widerlichkeiten bereichert als die vorhandenen entfernt. Tatsächlich neigt man hier dazu, hauseingangsnahe Grasareale mit winzigen Zäunchen zu umgeben, um mit vollgestopften Därmen vorbeieilende Köter davon abzubringen, das sich tapfer durch Betongrau kämpfende Grün mit Naturdung zu befärben. Dass diese Maßnahmen jedoch zu einer weiteren Verknappung an Hundeörtchen führen, ist erahnbar, und so wundert es mich auch reichlich wenig, immerfort zahlreichen Gehwegshäufchen ausweichen zu müssen.
Anstelle einer Abstreif-Grünfläche fand ich ein metallenes Gitter, das gröbste Unreinheiten von meinem Schuh beseitigte und mich zumindest auf den ersten Blick kotfrei aussehen ließ. Gut genug, um ein paar Nahrungsmittel zu erwerben, dachte ich, setzte meinen Weg fort zum nächsten Lebensmittelladen - und trat sogleich in den nächsten Haufen.
"Scheiße.", fluchte ich leise.
morast - 6. Feb, 17:03 - Rubrik:
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Auf der Zahnpastatube steht geschrieben, sie sei für sensible Zähne geeignet.
Nun stelle ich mir meine Zähne vor. Ich kenne ihre genaue Anzahl nicht, doch wird sie wohl in Richtung Dreißig tendieren. Dreißig sensible kleine Kerle.
Von wegen. Üblicherweise befinden sich in einer Gruppe aus dreißig Leuten immer ein paar unsensible Wesen. Das kann doch bei Zähnen nicht anders sein!
Und wie reagiert die Zahncreme für sensible Zähne dann? Wirkt sie nicht länger? Werden sensible Zähne dann gesund, während die weniger sensiblen, die ruppigen und unfreundlichen von Karies, Parodontose und Zahnstein befallen werden? Werden diese dadurch nicht erst recht Ansporn finden, möglichst unsensibel, unempfindlich, wenig feinfühlig am Leben teilzunehmen? Ist diese diskriminierende Zahnpasta nicht vielleicht sogar Auslöser eines Teufelkreises, einer sich stetig abwärts windenden Spirale?
Vielleicht sollte ich die Zahncrememarke wechseln.
morast - 3. Feb, 15:23 - Rubrik:
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Sicherlich, ich füllte den Großteil der zwei in dem heimischem Metallmusikklub verbrachten Stunden damit, aus den überall herumliegenden Flyern Figuren zu reißen und brachte es immerhin auf eine Meerjungfrau, einen Fisch, eine Krake, einen Mond mit Pudelmütze, einen Stern, ein Schwein mit großem Rüssel und einen grimmigen Drachen;
sicherlich, die beiden Gläser eiswürfelgekühlten Mineralwassers erwiesen sich als keineswegs unterhaltsame Abendbegleitung [und daran änderte auch der leicht verstörte Blick der Barfrau nichts, als ich die offensichtlich unübliche Bestellung aufgab];
sicherlich, nur ein geringer Bruchteil des präsentierten Liedguts gehörte zu dem von mir favorisierten und sorgte für eifrige Kopfschüttelbewegungen;
sicherlich, der Nacken weist heute, am Tag danach, mit gehöriger Intensität darauf hin, dass auch das Schütteln des Haupthaars eines häufigeren Trainings bedarf;
sicherlich, meine Klamotten würden heute, trotz mittels hinweisender Wandbehänge kundgegebenen Rauchverbots innerhalb des Musikabspiel- und Tanzgebäudes irgendwo unangenehm kaltrauchig vor sich hin stinken, gäbe es nicht die Waschmaschine, die sich ihrer annahm und nun fröhlich-fleißig säubernd vor sich hin wirbelt;
sicherlich, Menschimitatoren, die ihre Hirnlücken mit alkoholhaltigen Getränken zu befüllen und sich durch zwar dezibel- aber nicht unbedingt inhaltsstarke Kommunikation zu verständigen versuchen, stellen nicht unbedingt die Idealgesellschaft bei nächtlichen Straßenbahnfahrten dar;
sicherlich, es gab bereits unzählige Abende in meinem Dasein, die auf der Gutfindskala höhere Punktwerte erzielt hätten...
... und dennoch: Ich genoss die ausgiebige Portion ohrenbetäubenden metallischen Krachs, genoss es, mich minutenlang im Lärmsumpf zu verlieren, genoss es, erneut zu erfahren, dass es diese Klänge sind, die mich bewegen, die mir behagen.
[Im Hintergrund: Candlemass - "King Of The Grey Islands"]
morast - 3. Feb, 14:45 - Rubrik:
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Die Bildungselite Deutschlands wartet an Universitäten und Fachhochschulen darauf, endlich ihr umfangreiches Wissen und Können in die Welt hinaustragen zu können, um diese nachhaltig zu verbessern.
Von wegen. Studenten sind genauso unschlau und widerlich wie der Rest der Bevölkerung. Zwei Beispiele:
Beispiel 1: Der Automat
Die Speisen der Mensa mögen nicht unbedingt jedem zusagen, dennoch werden sie von erstaunlich vielen Nutzern Tag für Tag konsumiert. Zu einer vollwertigen Mahlzeit gehört nicht selten ein Getränk, und obwohl niemand misstrauisch beäugt wird, der sein eigenes Getränk mitbringt, herrscht doch allgemeines Interesse am Mensa-Getränkeangebot vor.
Ich selbst genieße nicht selten eine Halbliterflasche Cola, die während des Essens fast nebenbei geleert wird - was mir als notorischem Zu-wenig-Trinker durchaus behagt. Doch wohin mit der leeren Flasche?
Die Milchflaschen bringen nichts, doch für die anderen steht ein Automat bereit, der freizügig im Tausch gegen eine passende Flasche 15 Cent herausrückt. Nicht selten wurde ich Nutznießer der Erstsemesterdummheit, wenn die neuen Studenten ihre Pfandflaschen irgendwo stehen ließen - weil sie ja noch nicht wissen konnten, dass Glasgut problemlos gegen Kleingeld getauscht werden kann.
Der Automat ist ein großer Kasten mit drei Fächern, in die jeweils eine Flasche gestellt werden darf. Drückt man einen Knopf, schließen sich alle Fächer; die darin enthaltenen Flaschen werden geprüft und für gut oder schlecht befunden. Nach bestandener Prüfung klimpert es kurz, und man kann sein Vermögen aus dem Geldrückgabefach herausfriemeln. Je nach Anzahl der Flaschen wird es sich also um 15, 30 oder 45 Cent handeln - stets in 5-Cent-Stücken ausgezahlt.
In Zeiten des Mensa-Hochbetriebs bildet sich an jenem Automaten rasch eine entmutigend große Menschenschlange, deren einzelne Glieder stets nur eine Flasche, maximal zwei, in den Händen halten und geduldig darauf warten, auch endlich an der Reihe zu sein, auf den Knopf drücken zu können und das Kleingeld klimpern zu hören.
Und jedesmal, wenn ich diese Schlange sehe oder Teil von ihr bin, will ich meine Hand an die Stirne klatschen und dezibelintensiv ausrufen:
"Ihr ineffizienten Idioten! Seht ihr denn nicht, dass der Automat DREI Fächer besitzt, dass er stets nur 5-Cent-Stücke herausrückt und dass es somit ein Leichtes wäre, mehr als eine Flasche gleichzeitig in den Automaten zu stopfen und dann das Geld untereinander aufzuteilen?!?"
Zuweilen fragte ich tatsächlich, höflich aber, meinen Vorder- oder Hintermann, ob es sich nicht lohne, auf diese simple Weise das Anstehen zu verkürzen. Doch ehe meine Botschaft angekommen war und somit vielleicht Verbreitung gefunden hätte, war ich bereits an der Reihe, stellte meine Flasche in das Fach, drückte den Knopf und erfreute mich am Klingeling der drei 5-Cent-Stücke.
Beispiel 2: Toiletten
Dass öffentliche Toiletten selten ein Musterbeispiel für Hygiene sind, ist sicherlich keine Neuigkeit. Dennoch erstaunt es mir immer wieder, dass selbst Toiletten, die sich im tiefsten Inneren von Institutsgebäuden befinden, derart verschmutzt sein können. Ich selbst würde mich nicht als Inkarnation der Ordnung bezeichnen; dennoch ist es mir ein innerer Wunsch, nach einem Toilettenbesuch dafür zu sorgen, dass diese den Umständen entsprechend benutzbar aussieht. Ich werde also nicht die Klobürstennutzung oder gar das Spülen vergessen, werde nicht ganze Klopapierrollen in die widerliche Brühe werfen, die ich angerichtet habe, werde darauf verzichten, andere per Filzstiftbotschaft zu grüßen oder zu beleidigen und Harnflüssigkeiten gleichmäßig auf dem Toilettensitz und dem Boden zu verteilen. Derlei stellt für mich keine Schwierigkeit dar, und ich bin immer wieder erstaunt, dass andere nicht ähnlich denken, insbesondere wenn zu vermuten ist, dass sie dasselbe WC in ein paar Tagen wieder werden nutzen müssen.
Vielleicht wäre das noch erträglich. Schließlich bin ich ein Mann, kann Nötigstes auch im Stehen erledigen, ekle mich nicht allzu leicht und bin auch imstande, einmal wegzusehen. Doch was ich nicht ertrage, sind maskuline Wesen, die es nicht für notwendig zu halten scheinen, sich nach dem verrichteten Geschäft ihre Hände zu reinigen. Ich rede dabei nicht von stundenlangem Einseifen, intensiver Spülung und pedantischem Trockenreiben, sondern tatsächlich nur vom Mindesten: Seife, Wasser, Hände kurz abwaschen, abschütteln, abhauen.
Doch das ist schon zuviel. Ich staune immer wieder darüber, wie viele Menschen diese simplen und wenig zeitaufwendigen Handgriffe "vergessen", wie oft ich vor dem Spiegel einer öffentlichen Toilette stehe, die Hände unter einen Wasserhahn haltend, wenn plötzlich ein Mann vom Pissoir oder aus einer Kabine kommt, desinteressiert an mir und den Waschbecken vorbeiläuft, die Tür aufklinkt und aus dem WC verschwindet, als würde es dort an Handreinigungsmöglichkeiten fehlen, ja, als wäre derlei mit größter Unnötigkeit bestückt.
Angewidert schüttle ich Kopf und Hände, finde kein papiernes Handtuch und frage mich, wie ich die WC-Tür aufbekommen soll, ohne der Türklinke zu nahe zu kommen. Denn der Gedanke, dass die Hand, die zuletzt Türklinkenkontakt hatte, zuvor ein vorderes oder hinteres Stoffwechselendprodukt-Ausscheidungsorgang berührt hatte, stößt mich ab. Und der Gedanke, dass der eben Erlebte nicht der Einzige seiner Art war, umso mehr.
morast - 9. Jan, 14:46 - Rubrik:
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Haha, lache ich dem Herbst in sein trübes Antlitz, du musst wahrlich der Verzweiflung anheim gefallen sein. Sind dir die Menschen trotz zeitigem Abenddunkel, trotz straff reduzierter Tageslichtmengen, trotz gesenkter Temperaturen, trotz windigem Wetter noch immer zu fröhlich gesonnen, noch immer zu glücklich? Oder warum sonst musst du den nächsten Schritt einleiten, den Kältomaten ein wenig aufdrehen, während diesiger Sprühregen die Welt vernebelt? Von romantischem Winter findet sich keine Spur, denn die Kälte ist nass und kaum ertragbar. Schnee weilt weit oben in höchsten Himmelssphären und scheint noch nicht einmal davon zu träumen, irgendwann dem Boden entgegenzuschweben. Der Winter ist fern, und du, lieber Trübherbst, bist es, der seine Kräfte spielen lassen darf. Längst hast du alles Laub von den Bäumen geschüttelt, hast die Freuden der Kinder vernommen, die sich raschelnd und lachend durch das trocknende Blattwerk wühlen, hast Pilze sprießen lassen, die von sammelnden Genießern beglückt gesucht und entdeckt wurden, hast uns den nahenden Winter spüren lassen mit Tagen voller Nullgradnähe, hast uns Kastanien und Eicheln im Überfluss geschenkt, hattest dich hübsch gemacht für uns mit buntem Laub und letzten Sommersonnenstrahlen. Doch nun, da der Winter naht, an die Pforte klopft, dir das Zeitzepter zu entreißen sucht, grummelst du, bescherst uns Übellaunigkeit und lichtfremde Tage. Versuchst du tatsächlich aufzubegehren, ein letztes Mal zu zeigen, welch Kräfte in dir wallen, dass es ein Leichtes für dich ist, die Launen der Menschen deinen eigenen zu unterwerfen? Versuchst du tatsächlich mit der Macht zu spielen, die dir eigen ist, uns mit deinem, vom baldigen Weichen getrübtem Gemüt zu infizieren? Glaubst du wirklich, dass ein wenig Nieselregen, ein wenig Sonnenraub, ein wenig Nebeldunst, ein wenig Windeskühle ausreicht, um den Frohsinn aus unseren Herzen zu reißen, um uns die Vorfreude auf wintrige Ereignisse, die Nachfreude über Frühling, Sommer und auch Herbst aus den Gedanken zu stehlen? Glaubst du wirklich, dass uns kümmert, ob Tage grau sind und Nächte nicht zu enden scheinen? Nun, vielleicht hast du recht, vielleicht gibt es tatsächlich jene, die mit sich spielen lassen, die äußere Trübnis zu ihrer inneren machen; doch wisse: Ich gehöre nicht zu ihnen. Ich lache dem Regen ins Gesicht, lache dir meine Worte entgegen, küsse den eisigen Wind mit Winter ersehnendem Lächeln, begrüße die allgegenwärtige Dunkelheit mit dem Wissen, dass auch sie ein Ende finden wird. Ich mag dich, Herbst, selbst wenn du alt und bitter geworden bist, selbst wenn du nicht sehen willst, dass noch immer Freude in meinem Herzen glimmt, Freude über die Pfützen auf den Wegen, Freude über die Kälte, die von heißem Tee vertrieben werden kann, Freude über die Nacktheit der Wälder, die zu schlafen beginnen, um alsbald zu neuem Leben zu erwachen. Gräme dich nicht über mein Lachen, lieber Herbst, gräme dich nicht mit Regen und Nebel, gräme dich nicht ob deines Schwindens. Denn ich mag dich, mag die Tropfen, die dem Himmel entfliehen, mag auch das kalte Eis der Hagelkörner, mag die viel zu früh notwendigen Lichter in den Fenstern und Straßen. Ich mag dich und freue mich, gleich in die Kälte eilen zu können und mich vom nieselnden Nass umarmen zu lassen, im abendlichen Dunkel umherzulaufen und in den Mienen der Passierenden deinen Gram kopiert zu finden. Und vielleicht finde ich irgendwo ein Lächeln, eines, das meines spiegelt, eines, das dich liebevoll verabschiedet und den Winter begrüßt, eines, das sich auf das nächste Jahr freut, wenn die Wälder buntes Laub rascheln lassen und warmes Licht auf fleißige Pilz- und Kastaniensammler fällt, wenn die Wärme des Sonnenlichts schwindet, doch jene in meinem Herzen verbleibt. Vielleicht.
morast - 12. Dez, 10:13 - Rubrik:
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Zu meinen Unarten gehört es, im ersten Satz oder gar bereits in der Überschrift eines Textes eine Behauptung aufzustellen, die ich dann umgehend und sofort ändere, verbessere, schlimmstmöglich sogar ins Gegenteil kehre. Dieser Tradition will ich folgen, indem ich erwähne, dass ich das Geräusch der Laubsauger keineswegs vermisse, schenke ich doch solchem Gerät zu jeder Zeit die ihm gebührende Verachtung.
Laubsauger stellen eine Erfindung dar, die ich auf die - sicherlich erstaunlich lange - Liste unnützer Erfindungen setzen würde, sollte ich je mit der Aufgabe betraut werden, eine solche Listezu kreieren. Es liegt nahe zu vermuten, dass es Unterschiede zwischen Laubsaugern und Laubgebläsen geben muss, doch in meinem - mit unzureichender Rechercheinformation bestücktem - Schädel vermengen sich beide Geräte zu einem einzigen; doch ich bin gewillt, selbiges auch mehrfach auf die genannte Liste zu setzen.
Laufe ich durch die Straßen Magdeburgs, stelle ich fest, dass die Gehwege erstaunlich blattfrei sind, dass sich zwar hier und dort verdorrtes, einigermaßen buntes Herbstlaub ansammelte, jedoch von einer Basisreinheit Magdeburger Gehwege durchaus die Rede sein darf. Das verwundert mich, habe ich doch in diesem Jahr weder Laubblasende noch noch Laubsaugende erblicken können, die mit ihren lärmenden Maschinen rund um die Uhr damit beschäftigt sind, Fußgänger vor potentiell glitschen Ausrutschstellen und Stadtbäume vor sich in Laubbergen vermehrendem Feindgetier zu bewahren.
Back to the roots!, könnte ich da frohlockend ausrufen und Harke und Rechen als wieder in die Mode kommendes Blattbeseitigungsgerät feiern, doch wagten es auch weder fleißige Harker noch eifrige Recher, mein Sichtfeld zu kreuzen um lobende Blicke zu ernten. Die Wege wurden also befreit, als ich nicht hinsah, und allein der Umstand, dass mir kein Blas- und Sauglärm an die Ohren drang, lässt mich vermuten, dass in diesem Jahre eine Rückkehr zu technikfernen Wurzeln zelebriert werden könnte.
Doch ich zelebriere nicht. Denn neben dem Geräusch der Laubsauger vermisse ich einen weiteren Laut, der jedoch im Gegensatz zu ersterem durchaus meine Sympathie geschenkt bekommt: Das Rascheln.
Laufe ich durch die Straßen Magdeburgs finde ich nicht nur laubblattarme Gehwege, sondern auch, in Häuserecken und auf einst grünenden Flächen, Ansammlungen trockenen Blattwerks, die mich zu locken pflegen: "Komm, spiel mit uns! Laufe durch uns hindurch, doch hebe dein Schuhwerk nicht in allzu große Höhen! Lass uns gemeinsam rascheln und den Herbst mit fröhlicher Klangkulisse untermalen!"
Nicht selten gebe ich nach und raschle so gut ich kann, laufe gar denselben Weg mehrmals vor und zurück, nur um ein wiederkehrendes Raschelerlebnis zu erfahren. Und gerne dränge ich mich Begleitende zu gleichem, ziehe die Widerstrebenden durch das Laub, bis sie sich in Wonnen wissen, die nur der kennt, der in seiner Kindheit die sorgsam zusammengefegten Laubhaufen auf Schulhöfen und Parkwegen zum Sich-Hineinfallenlassen und Darin-Herumrascheln nutzte.
Ich nutzte und suche heute auf meinen Wegen durch die Stadt ähnliche Laubhaufen, suche Zusammengekehrtes, Zusammengefegtes, Zusammengeharktes, von mir aus auch Zusammengeblasenes, doch finde nichts, finde keine Haufen raschelnden Glücks, nur hier und dort erwähnte Ansammlung, die ihr Bestes gibt, mich zu erfreuen, auch wenn ich tief in mir ahne, das das Beste noch immer nicht gut genug ist.
Und während ich suche, vermisse ich ein Drittes: Kinder, die - wie ich - durch Laub rascheln. Laubansammlungen scheinen nicht mehr ausreichend Attraktivität zu besitzen, vermute ich, doch warne vor voreiligen Schlüssen, vor "Die Jugend von heute..."-Verallgemeinerungen und der übertriebenen Beweihräucherung der eigenen Kindheit. Schließlich bezweifle ich, dass alle Kinder auf Erden plötzlich dem Vergnügen abgeneigt sind, sich mit mehr oder minder trockenem Laub zu umgeben. Außerdem liegt die Vermutung nahe, dass das Fehlen sorgfältig zusammengedingster Laubhaufen direkte Auswirkungen auf die Laubbegeistertungsfähigkeit junger Menschen hat. Zudem halte ich es für nicht unmöglich, dass Kinder von ihren sorgsam wachenden Eltern oder weniger sorgsam wachenden Freunden den wenig appetitlichen Hinweis dargeboten bekamen, den auch ich neulich hören musste: Unter dem Laub verstecken sich Hundeexkremente besonders gut.
Das erscheint logisch und ist so leicht nicht von der Hand zu weisen, auch wenn ich mich nicht daran erinnern kann, als Kind jemals bei der Laubraschelei mit hündischen Stoffwechselendprodukten in Kontakt gekommen zu sein. Dennoch werden die Raschelfreuden auf diese Weise gedämpft, und unangenehme Bilder bemächtigen sich meiner, wenn mal wieder eine Laubansammlung mit güldenherbstlicher Verlockung nach mir loreleit.
Und vielleicht muss ich mich korrigieren, wenn ich oben schrieb, dass ich das Geräusch laubblasender Maschinen vermisse und diese Geräte für sinnfrei halte. Denn möglicherweise gelingt es modernen Laubblasgeräten durch exakt geregelte Stärke der Blasluftabgabe das wunderbar raschelnde Laub vom igittigen Hundekot zu trennen und ersteres zu ansehnlichen Haufen zusammenzuführen, auf dass mein raschelsüchtiger Leib in einem solchen unbefleckt versinken möge...
morast - 24. Okt, 08:36 - Rubrik:
Wortwelten
Warum ist es eigentlich nötig, dass die Bauarbeiter, die sich mit der Renovierung eines Universtätsgebäudes auf dem Campus beschäftigen und - ebenso wie alle anderen umstehenden Gebäude - über mehrere verhältnismäßig gut gepflegte Toiletten verfügt, ein eigenes Dixi-Klo benutzen müssen [das zudem jeden Passanten mit unliebsamen Düften besudelt]?
Und warum waren die Schmierfinken, welche die Straßenbahnhaltestelle namens "Universität" mit dem Initialen ihres Lieblingsfussbaldvereins FC Magdeburg verzieren wollten, so dämlich, in blauen, vierzig Zentimeter großen Lettern zunächst "FCC" zu krakeln, bevor sie sich ihres Fehlers bewusst wurden und das letzte C in ein stümperhaftes M umwandelten?
Und warum gehören zu den Opfern von Magdeburger Großbaumaßnahmen stets die öffentlichen, mit langsam rotierender Werbung bestückten Uhren, die zunächst auf ein dauerhaftes 12 Uhr gestellt und schließlich ersatzlos entfernt werden, so dass Armbanduhrvermeider wie ich gezwungen sind, erst das Mobiltelefon aus den Tiefen ihres Gepäcks zu kramen, wenn sie gewillt sind, Genaueres über die Zeit zu erfahren?
Und warum hat bestand die Veränderung bei der Straßenbahngleisaustauschaktion in der Nähe des Magdeburger Alten Markts nicht nur in der Erneuerung der jahrezentealten Gleise und in der Deportation erwähnter Uhr, sondern auch in der Terminierung des zweiten Haltestellenhäuschen - und somit einer zusätzlicher Sitzmöglichkeit für Renter, Behinderte, Schwangere und Gernesitzer?
morast - 10. Jul, 11:35 - Rubrik:
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Das universitäre Rechenzentrum erwies sich längst als unendlicher Quell unnützer Menschbeobachtungen, nutzloser Erfahrungen im Umgang mit Menschen, denen man voraussichtlich – und zum Teil hoffentlich – niemals wieder begegnen wird. Doch ich bin hier, um zu arbeiten, um das zu schaffen, was ich auch zu Hause schaffen könnte – wenn ich es könnte. Denn darin liegt das Problem: Mein eigener Rechner ist schneller, die Internetanbindung nicht wesentlich langsamer, die Störfaktoren geringer an Zahl – und dennoch misslingt mir heimatliches Arbeiten immer wieder.
Da sind Zeichnungen, die ich anzufertigen gedenke, Dinge, die das weltweite Netz mir preiszugeben wünscht, nach denen ich „nur mal kurz“ suchen muss, Musikstücke und Videos, deren Konsum ausgerechnet auf jene Zeitfetzen fällt, die ich eigentlich sinnvoll zu befüllen dachte. Dort befinden sich Bücher, groß an Zahl und thematischer Vielfalt, Langeweilevernichter verschiedenster Art, unaufgeräumte Fußböden, ungewaschenes Geschirr, unreparierte Fahrräder, Menschen, mit denen sich ablenkenderweise unterhalten werden kann – und mein eigener Kopf, der Kopf, der sich immer wieder neue Varianten ausdenkt, um mich von dem zu entfernen, weswegen ich mich eigentlich an meinem Schreibtisch platzierte. Es bedarf nur eines Augenblicks des Nichtdenkens, des Sich-Nicht-Konzentrierens, und das All der Möglichkeiten stürzt auf mich ein. Langeweile ist mir fremd; immer gibt es zu tun, zu handeln – und dennoch weiß ich am Abend nicht mehr, womit ich den Tag befüllte.
Also schwinge ich mich auf mein Rad, setze mich in die Straßenbahn, fahre dorthin, wo Wissen produziert und ausgeliefert wird. Und weil sich Schwierigkeiten ergaben, die mich immer wieder zurückzuwerfen vermögen, Schwierigkeiten, denen zu trotzen ich nicht täglich die Kraft finde, werde ich mir selbst erst bewusst, als ich orientierungslos auf dem Campus stehe und nicht weiß, wohin mit meinem Drang, endlich der eigenen Faulheit, der ewigen Ablenkung zu entfliehen, wohin mit meinem Wunsch voranzukommen, endlich weiterzumachen, was viel zu lange unberührt in Dateien und schlechten Kopien auf mich wartete.
Die Universitätsbibliothek, voll gestopft mit Rechnern, wäre der optimale Ort des Lernens und Schöpfens, wäre der Platz, an den ich mich zurückziehen, an dem ich meine Ohren mit eigenem Lärm gegen den fremden versiegeln und endlich produktiv sein könnte – doch es funktioniert nicht. Das bibliothekseigene Betriebsystem weigert sich, über ein annehmbare Schreibprogramm oder Installierbarkeit eines solchen zu verfügen; zudem missfällt mir die auf jenes Betriebssystem zugeschnittene Tastatur mir den mir fremden Sonderfunktionen und vorprogrammierten Fehldrücken. Ich fühle mich unwohl, an jenen Rechnern zu sitzen, irgendwie grau, als wäre die Farbe der Monitore, die unansehnliche Bedienoberfläche auf mein Empfinden übergeschwappt.
Also auf!, sage ich mir, begebe mich ins URZ, ins Universitätsrechenzentrum, genauer: in eines der vier verfügbaren RTLs, Rechentechnische Labore. Ich ignoriere, dass mir die unglückliche Namenswahl des zweiten Labors, RTL II, missfällt [Überhaupt scheinen Namen nicht gerade die Stärke dieser Universität zu sein: Das Mensa-Café nennt sich „Latte“ – was nicht nur Vorpubertären ein Kichern oder eine Hand-an-Stirn-Bewegung entlocken dürfte.], begebe mich in einen der beiden öffentlichen Räume und begutachte die Warteschlange. Denn eine Warteschlange gibt es nahezu immer. Sind es weniger als vier Leute, die warten, bin ich bereit, mich einzureihen und all die fleißig Tippenden zu betrachten, wegen deren Aktivitäten mir ein sinnvolles Arbeiten vorerst verwehrt bleibt.
Säße ich an einem Rechner und wäre mit Unsinn beschäftigt, überlege ich, bekäme ich ein schlechtes Gewissen und würde versuchen, mein nutzloses Tun alsbald zu beenden und meinem Platz den Stehenden, die sich vermutlich mit Dringenderem beschäftigen werden, zur Verfügung zu stellen. Nicht so jene, die hier sitzen. Youtube grüßt und schenkt Kopfhörerbesitzern amüsierte Minuten voller Zeitvertreib. StudiVZ avanciert zur meistgenutzten Seite, inklusive stundenlanger Fremdprofilbesucherei und Partyfotobegutachtung. Ich stehe, betrachte Barbara Schöneberger und Guido Westerwelle, die kurze Statements zu etwas geben, das zu vernehmen ich nicht imstande bin, mich jedoch allein aufgrund dieser beiden Interviewten nicht länger interessiert. Automobilangebote werden ebenso durchblättert wie diverse myspace-Profile, die glücklicherweise zu weiteren verlinken. Überhaupt: Die Endlosigkeit des weltweiten Netzes lässt leicht vergessen, dass ich im Eingangsbereich stehe und warte, leitet Link für Link in weitere, unbekannte Welten, die womöglich hässlich und unspannend sind, doch alsbald in neue, das Interesse mehr fesselnde Seiten münden können. Ich warte und störe mich nicht an dem Treiben durch die Buntwelt Internet, wünsche mir nur die Möglichkeit, mein Buch aus dem Rucksack kramen und weiterlesen zu können. Doch ich darf nicht lesen, muss meine Blicke schweifen lassen über jene, die arbeiten oder nicht-arbeiten, über jene, die die Rechner belegen – und jeden Augenblick aufstehen und ihren Arbeitsplatz entleeren könnten. Ich muss wachsam sein, denn die nach mir Anstehenden warten auch, wachen auch, verzeihen keine Verzögerung, sind bereit, sich Freiwerdendes selbst unter den Nagel zu reißen oder zumindest meine Unaufmerksamkeit mit entsprechendem Hohn zu kommentieren.
Als ich fündig werde, seufze ich lautlos. Ohne mich meines Rucksacks oder meines Jacketts zu entledigen, melde ich mich an. Der Nutzername meines Vorgängers ist noch sichtbar, und ich versuche, daraus Rückschlüsse auf seinen Nachnamen zu ziehen, ein albernes Spiel, von dem ich hoffe, dass es niemals von meinem Nachfolger praktiziert werden wird. Mein Seufzen galt dem mir zugewiesenen Rechner, denn er ist einer von der langsameren Sorte, einer von denen, die mir bereits während des Anmeldeprozess genug Zeit lässt, mich unnötiger Kleidung und Taschen zu entledigen und benötigte Material zurechtzulegen. Die Startprozedur dauert an, und als ich den Browser in Betrieb nehme, seufze ich ein weiteres Mal, denn auch das dauert, müssen doch irgendwo aus dem universitären Serverwirrwarr meine persönlichen Browserprofildaten geladen werden, obgleich ich mich stetig darum bemühe, diesen Daten nicht allzu viel Inhalt zurückzulassen.
Ich arbeite mit Windows XP, was mich nicht stört, doch sorge als erste echte Tätigkeit dafür, dass die Schnellstartleiste innerhalb der Taskleiste angezeigt wird – ich werde nie begreifen, wie man auf das sehr hilfreiche „Desktop anzeigen“-Symbol verzichten kann. Die zweite Tätigkeit besteht darin, innerhalb des automatisch gestarteten ICQ-Programms eine Möglichkeit zu suchen, dieses aus dem Autostart zu vertreiben. Meiner Ansicht nach muss ein Chatprogramm – etwas, das vor ein paar Jahren auf den Rechenzentrumscomputern noch verboten gewesen war – die ohnehin langwierige Anmeldeprozedur nicht unnötig verzögern. Die dritte Tätigkeit umfasst den Versuch, meinen USB-Stick an den Tower zu klemmen - ein Versuch, der mit dauerhaftem Scheitern bestückt ist. Zuweilen habe ich Glück, und das System ist bereit, den Stick oder den integrierten Wechseldatenträger für wenige Sekunden zu erkennen; dann handle ich schnell, kopiere, was zu kopieren ist, und freue mich, wenn es sogar gelingt, Musikdateien zu übertragen. Doch meistens missglückt dieser Versuch, so dass ich mich ablenke, bevor ich nach einer Lösung zu suchen beginne.
Emails. Blogs. Kommentare. Nachrichten. Unnützes Zeug.
Dann entsinne ich mich, dass ich mir ein paar erforderliche Arbeitsdateien per Mail selbst zugesendet hatte. Begeistert lade ich herunter, was ich brauche und öffne das installierte Office-Programm. Und jedes Mal stellt sich die gleiche Frage: Benutzt hier niemand außer mir ein Schreibprogramm? Schließlich muss ich bei jedem Rechenzentrumsrechner, den ich nutze, die Vorinstallation erst vollenden, um meine Arbeit fortsetzen zu können – von einer Neuinstallation eines Musikabspielprogramms ganz zu schweigen. Vermutlich setze ich einfach die falschen Prioritäten.
Als ich, endlich, zu arbeiten beginne, tippt mich das Mädel zu meiner Rechten an. Ob ich ihr helfen könne. Sie wolle eine Mail an unzählige Adressen versenden, doch gmx liefere immer wieder eine Fehlermeldung. Ich weiß nicht, was an meinem Äußeren sie dazu bewog, mich um Rat zu bitten, doch ich finde den Fehler auf den ersten Blick. In der ersten Mailadresse fehlt ein Zeichen, und gmx ist nicht bereit, dies als ordentliche Mailadresse zu akzeptieren. Mein Rat, bei mehreren Empfängern das BCC–Feld zu benutzen, da sonst jeder Empfänger alle Adressen sehen könne, stößt auf taube Ohren. Doch immerhin ernte ich ein „Danke.“
Dann arbeite ich. Tatsächlich. Ich überrasche mich selber und arbeite. „Herumfleißigen“ nenne ich dergleichen normalerweise – das Fleißigsein ohne tatsächliches Ergebnis – aber immerhin.
Der neben mir Sitzende tippt mich an. Er hat gerade sein Vordiplomszeugnis eingescannt und wagt nicht, selber zu beurteilen, ob dieses tatsächlich gerade ist. Mein Urteilungsvermögen bei solchen Dingen ist trüb, doch weiß ich Rat. Im Bildbearbeitungsprogramm ziehe ich einen Rechteckrahmen um eine eingescannte Linie. Ich vergleiche Scan und Computergeneriertes – und stelle Parallelität fest. „Gerade.“, sage ich, schmunzle und arbeite weiter.
morast - 4. Jul, 15:33 - Rubrik:
Wortwelten
Sicherlich, ich verstehe dich, begreife, dass du nur etwas Geld verdienen möchtest, um dein Studium zu finanzieren, um dein knappes BaföG aufzubessern, um in Zeiten allgemeiner Arbeitslosigkeit wenigstens irgendwie beschäftigt zu sein, um dir endlich ein neues Mobilfunkgerät, einen neuen iPod, leisten zu können, verstehe, dass dies für dich nur ein Job ist, irgendetwas, mit dem du dich eher unfreiwilligerweise beschäftigst, etwas, das du, wärest du in meiner Position, vermutlich als ebenso unschön erachten würdest wie ich es tue, doch es muss sein, selbst wenn es keinen Spaß macht, selbst wenn es niemandem Spaß macht, weder dir, noch deinen "Kunden", noch deinem Arbeitgeber, selbst wenn du heimkehrst, diesen Job verfluchst und jeden weiteren Morgen, an dem du wegen dieser Scheiße aufzustehen hast.
Es ist nur ein Job, sagst du dir, sagst du mir, der ich dich mit grimmigen Blicken bedecke, wenn du mich ansprichst, der wortlos mit dem Kopf schüttelt oder andere, oft unwahre, Ausflüchte ersinnt, um dich loszuwerden, es ist nur ein Job, und wenn du ihn nicht machen würdest, käme jemand anderes daher und würde ihn machen, ich solle doch verstehen, begreifen, dass dir keine andere Wahl bleibt, dass du nur etwas Geld verdienen willst, dass du mich nicht belästigen, anpöbeln, möchtest, dass dieses Ansprechen keine Strafe, keine Belastung, ist, sondern vielleicht sogar eine Chance, dass es ja sogar etwas zu gewinnen gibt und dass, selbst wenn mich der Gewinn nicht interessiere, ich von unzähligen Vorteilen profitieren würde, die du mir gerne, nur ganz kurz, mal aufzählen würdest, nur kurz erläutern, was ich sparen könnte, wie genial dieses Angebot ist, wenn ich nur kurz warten, innehalten, kurz zuhören würde, meinen Namen, meine Kontaktdaten, auf einem logobedruckten A5-Kärtchen hinterließe, damit ich später über meinen Gewinn benachrichtigt werden, alle Vorteile vollends genießen kann.
Ich weiß, es ist nur ein Job, und du würdest vermutlich lieber etwas anderes machen, hast aber keine Wahl gehabt, stehst nun hier, vor der Bibliothek, in der Fußgängerzone, im Mensafoyer, im Einkaufszentrum, wartest auf mich und solche wie mich, um sie anzusprechen, zu überzeugen von Dingen, die dich selbst nicht überzeugten, um gute Quoten zu erzielen, deinen Umsatz zu erhöhen und Namen, Adressen, Daten zu sammeln, Willige, die bereit sind, sich in ein Gespräch, in absurde Verträge, ziehen zu lassen, wartest darauf, dass die Leute nicht an dir vorbeigehen, nicht wegsehen, wenn sie mit dir konfrontiert werden, dich nicht ignorieren, sondern dir zulächeln, neugierig sind, Interesse zeigen, wissen wollen, so dass du deinen Monolog, den du stundenlang probtest, herunterrasseln kannst, alle Vorteile und Gewinnmöglichkeiten nennen kannst, mich oder irgendwen überzeugen kannst und am Ende alle glücklich sein werden.
Ich bin nicht glücklich, nicht in diesem Augenblick, fühle mich belästigt von dir, von deinesgleichen, kann dich verstehen, doch will es nicht, es ist nur ein Job, such dir doch einen anderen, wenn das so einfach wäre, halt mich nicht auf, lass mich weitergehen, sprich mich nicht an, ich kenne dein Produkt, bin nicht an vermeintlichen Vorteilen, an Gewinnmöglichkeiten interessiert, will nichts mit dir zu tun haben, nicht, wenn du an diesem Stand stehst und Unnützes vertickst, nicht, wenn es nur ein Job ist, irgendetwas, das du machst, um ein wenig Geld zu verdienen, will mein sauerstes, bösestes Gesicht aufsetzen, um dich zu vertreiben, um dich nicht zu Wort kommen zu lassen, um mich vorbeizuschleichen, ohne von dir angesprochen, mit falschem Lächeln bestückt, aufgefordert zu werden, empfinde es als Eindringen, als Verletzen meiner privaten Sphäre, wenn du mich ansprichst, obwohl ich nicht mit dir reden willst, wenn du mir Fragen stellst, ob ich schon 18 sei, ob ich Student sei, ob ich dieses Produkt kenne, jene Eintrittskarte gewinnen, soundsoviel Euro sparen möchte, empfinde dich als Störenfried, als Unhold, der meine Laune verschlechtert, mein Leben eine winzige Nuance verdunkelt, als unnötiger Kraftaufwand, den ich betreiben muss, um dich loszuwerden oder zu ignorieren, als Mühe, die mir erspart werden könnte, wäre da nicht dieser Job, den du machst, machen mußt, der dir Geld bringt, diese alberne Idee deines Arbeitgebers, dich unter Leute zu schicken, um den Umsatz zu steigern, dich auf Fremde zu hetzen, sie, mit denen du vielleicht selbst nichts zu tun haben möchtest, zu belästigen, nur um ein paar Euro zu machen, um dein Leben ein wenig zu verbessern.
Ich verstehe dich, doch mag ich dich nicht, will dich anschreien, anbrüllen, du mögest mich in Ruhe lassen mit deiner lächerlichen Fragerei, mit deinen plumpen Versuchen, Aufmerksamkeit zu erheischen, wünsche, dich als nichtexistent, in Luft aufgelöst, betrachten zu können, verstehe dich und deine Motivation, doch kann und will es nicht gutheißen, dass du mich hier ansprichst, hier, in diesem Augenblick, wo ich Ruhe haben möchte, mit mir allein sein will, jetzt und hier, wo ich in Gedanken verloren durch die Straßen streife, wo ich mich mit anderen Dingen beschäftige als dem Gewinn irgendwelcher Eintrittskarten, mag dich nicht, weil du dich in mein Leben einmischst, dort eingreifst, wo du nichts zu suchen hast, weil du mich fragst, wieder und wieder fragst, und ich mich schäme, weil ich versuche vorbeizueilen, nicht zu sehen, nicht gesehen zu werden, weil ich versuche, dich zu boykottieren und darüber ein schlechtes Gewissen bekomme, weil ich dich nicht mag, obwohl ich dich nicht kenne, obwohl du privat, außerhalb des Jobs, vielleicht ganz nett bist, weil ich dich anschreien möchte, obwohl du nur das tust, was dir aufgetragen wurde, weil ich dich verstehe und gleichzeitig nicht verstehen kann, weil ich dich nicht bitten kann, mich in Ruhe zu lassen, weil das weitere Diskussionen, weitere Verteidigung meinerseits, weitere Aufzählungen von Gründen, weitere Beschäftigung mit der unliebsamen, eigentlich zu vermeidenden Thematik mit sich bringen würde, kann dich nicht bitten, mich jetzt und immer zu ignorieren, weil du immer irgendwer anders bist, weil du immer irgendein anderes Produkt bewirbst, weil du mich vielleicht verstehst, aber nicht verstehen darfst, denn dies ist ein Job, dein Job, nicht mehr, aber doch genug, um erledigt zu werden, und wenn du Leute dafür belästigen musst, tust du es eben, und wenn du ihnen ein wenig Lebensqualität rauben musst, tust du es eben, schließlich willst du ein bisschen Geld verdienen, nur ein bisschen, um deine eigene Lebensqualität zu steigern, nur ein bisschen, schliesslich ist das, was du tust, ja eigentlich nicht so schlimm, nur ein Job, nur eine kurze Frage, ein paar Daten, die man auf eine Pappkarte schreibt, nur ein kurzer Augenblick, der gleich vorüber ist.
Es ist nur ein Job, gebe ich dir recht, doch setze meine finsterste Miene auf, mein unfreundlichstes Gesicht, sprich mich nicht an, flüstere ich, mantraartig, und eile an dir vorüber, sehe dich nicht an, gebe dir keinen Grund, mich anzusprechen, sage "Nein!", als du irgendetwas Unverständliches fragst, renne weiter und schäme mich dabei, schließlich ist es nur ein Job, mehr nicht.
morast - 26. Jun, 13:40 - Rubrik:
Wortwelten