Wortwelten

Dienstag, 4. Juli 2006

Eine Vorbeetgeschichte

Ich berichtete ja bereits über die verwelkenden Pflanzen vor unserer Haustür. Erstaunlich ist, daß immer noch welche von ihnen leben. Nun ja, "welche" ist vielleicht übertrieben; schließlich ergeben die kläglich dahinexistierenden pflanzenähnlichen Gebilde zusammen vielleicht gerade mal ein echtes Exemplar. Aber sie leben. Zumindest fast.

Es muß allerdings erwähnt werden, daß unsere Hausnummer mehrere Eingänge und somit auch mehrere Vorbeete umfaßt. Die anderen Beete hatten aber nicht das zweifelhafte Glück, mit dahinsiechenden Pflanzen, an denen noch immer die Preisschilder hängen, bestückt zu werden. In vorhandener, aber nicht bemerkbarer Regelmäßigkeit [alle viereinhalb Monate oder so] werden diese Beete durch den Hausmeister von Unkraut befreit und dann liebevoll geharkt.
Daß zehn Minuten später sowohl Hunde als auch deren Besitzer, uanchtsame Kinder und desinteressierte Jugendliche sämtliche Harkbemühungen zerstört haben werden, ist absehbar, aber für den Hausmeister ohne Belang. Er hat schließlich sein Werk vollbracht.

Immer wenn ich bemerke, daß mal wieder geharkt wurde, rauscht ein winziger Quell der Vorfreude in mir, hoffe ich doch darauf, daß nun endlich glückliches gedeihendes Blattwerk oder zumindest saftiger Rasen den Hausvorbereich verschönern wird. Doch spätestens wenn Hundebesitzer, Kinder und Jugendliche ihr unachtsames Stampfwerk verrichtet und die Sonne die hervorgeharkte feuchte Erde ausgetrocknet hat, gebe ich jede grün sprießende Hoffnung auf.

Gestern warf ich mal wieder einen Blick auf die Vorbeete. Lange hatte die Hausmeisterharke keinen Dienst mehr verrichet und mein Augenmerk auf die karg-graue Erde gerichtet. Doch gestern bemerkte ich Leben. Auf dem trockenen Grund gedieh Gras.
Sicher, es war durchsetzt mit Unkraut und hätte niemals einen Schönheitspreis gewonnen. Doch es wohnte mehr Leben in ihm, als ich zu glauben bereit war.

Hatte der Hausmeister oder gar der Vermieter es tatschlich geschafft, die Beete mit Grün zu beseelen, Pflanzen, wenn auch kümmerliche, wachsen zu lassen?
Besimmt nicht. Auf keinen Fall.

Sicherlich hatte der Wind ein paar Grassamen herübergeweht und dafür gesorgt, daß die widerspenstigsten, anspruchlosesten Keime in der trockenen, ungenutzten Erde verharrten und wuchsen. Das Ergebnis war ein grüner Teppich - allerdings nur, wenn man unter Teppich ein mottenzerfressenes, staubiges Loch-an-Loch-Gebilde verstand, das nur durch spärliche Stoffreste zusammengehalten wird.

Doch gerade diese Spärlichkeit, die überschaubare Zahl an Grasbüscheln ließ mich aufmerken. Obgleich in bebauter Innenstadt verweilend hätte Mutter Natur doch sicherlich nicht solch lumpiges Werk verrichtet, sondern ein Beet geschaffen, in dem Gras und Unkraut nur so wimmeln und das niemals die Bezeichnung "Rasen" verdient hätte.

Die Spärlichkeit des Grüns war so offensichtlich, drängte sich so sehr auf, daß sie nie und nimmer ein Zufallsprodukt sein konnte. Bedachte ich des Hausmeisters bisheriges Vorbeetbepflanzungsgeschick, so war das, was ich gedanklich als mißglücktes Rasenimitat bezeichnete, eindeutig und mit Gewißheit das Ergebnis absichtlicher Saat.

Es war beabsichtigt worden, die leere Fläche mit Gras zu begrünen, und das Resultat bildete das Rasenäquivalent zu den eher sterbenden als lebenden Pflanzen auf dem anderen Beet: Ein löchrig-grüner Teppich auf ödgrauem Grund.

Ich überlegte kurz und stellte fest, daß es wohl kaum etwas Einfachereres geben kann, als eine unordentliche Grasfläche zu erwirken - und daß dem Hausmeister auch dies mißlungen war.

Grinsend gratulierte ich ihm in Gedanken und lief über das Vorbeet.

Mittwoch, 14. Juni 2006

Extremitäten

Ich liebe es, in Springerstiefeln durch die Gegend zu laufen. Sie müssen nicht sichtbar sein, denn auch gut unter den Hosenbeinen versteckt erfreuen sie mein Gemüt. Die Schnallen klingeln eine monoton-fröhliche Melodie bei jedem Schritt, den ich zu gehen wage, und der immer wieder auftauchenden Frage anderer, warum am rechten Stiefel Nieten befestigt seien, begegne ich mit schmunzelnder Ignoranz.

Es ist heiß, und ich trage meine Springerstiefel, auch wenn ich in ihnen zu ertrinken drohe. Den Vorschlag, mir normaes Schuhwerk, beispielsweise Sportschuhe, zuzulegen, überhöre ich. Daß mir ausreichend Barvermögen dafür fehlt, wäre ein Grund, der akzeptiert würde. Doch ich schweige, enthalte den Fragenden vor, daß ich gar kein Interesse daran habe, das Schuhwerk zu wechseln. Mir gefällt, was ist.

Noch mehr gefällt mir jedoch, barfuß zu laufen. Vom Wechsel des Schuhwerks kann keine Rede sein, denn nur das komplette Entfernen birgt Wonnen. Ich liebe es, jeden Kieselstein, jede Unebenheit zu spüre, nackten Fußes über Wiesen zu laufen, in eleganten Manövern Hundekot oder Glasscherben auszuweichen. Ja, ich liebe es sogar, heimgekehrt die geschwärzten Fußsohlen zu betrachten und mich über selbige zu amüsieren.

Ich besitze FlipFlops, die in meinen Augen eine ausreichende, aber trotzdem ungenügende Vorstufe zur Barfüßigkeit darstellen, und nutze sie auch. Nicht jeder Laden, nicht jde Bibliothek ist erbaut von nacktem Dreckfuß, und ich akzeptiere das.

Doch wenn es kein Ziel, kein Geschäft, nur mich und die Straße gibt, nur mich und den Park, nur mich und irgendeinen Weg, dann entledige ich mich ihrer, gebe meinen FüßEN DAS Gefühl zurück, befreie sie von der Sinnestaubheit, die ihnen all die Zeit auferlegt ist.

Meine Füße sind nicht mit sonderlich berauschender Schönheit oder anderen Gründen gesegnet, sie der Welt zu präsentieren. Doch ich begriff, daß mir ein Teil der Welt verlorengeht, bedecke ich sie mit schützendem Schuhwerk.

Springerstiefel und Barfüßigkeit - zwei gegensätzliche Extrema, die sich auszuschließen scheinen. Doch ich liebe sie beide. Und wenn mir jemand Sportschuhe als sommerliche Fußbedeckalternative vorschlägt, werde ich wieder schmunzeln:
Solange ich mit Barfüßigkeit und Bestiefelung mir größere Freude zu erwirken vermag, ist der Mittelweig niemals der meine.

[Im Hintergrund: Tool - "10.000 Days"]

Montag, 15. Mai 2006

Ein letzter Blick

Als ich auf der fernen Insel Kreta verweilte und mich ein Anruf meines Bruders erreichte, erfuhr ich, daß unser Vater verstorben war. Mir blieben zwei Optionen: Ich konnte den Urlaub abbrechen und heimkehren, um das Antlitz meines Vaters ein letztes Mal betrachten zu können. Oder ich konnte bleiben, auf den letzten Blick verzichten und versuchen, meine Trauer über den Tod mit griechischer Sonne zu dämpfen.

Mein Vater sollte eingeäschert werden, und aus irgendeinem Grund war es dem Bestattungsunternehmen oder dem Krankenhaus nicht gestattet, seinen Leichnam [Es ist unglaublich, wie unpassend dieses Wort in Kombination mit dem Wort "Vater" klingt.] länger als eine Woche aufzubewahren. Mir blieb, als mein Bruder anrief, eine Frist von wenigen Tagen, um heimzukehren und zu schauen. Schließlich hatte mein Bruder eine Weile gezögert, ob ich überhaupt im Urlaub mit dieser schrecklichen Nachricht bedacht werden sollte.

Ich überlegte lange, erkundigte mich gar, wie einfach oder kompliziert es sein würde, alsbald nach Hause zu reisen, doch kam zu keiner Lösung. Mein Bruder und meine Mutter rieten mir von der Heimreise ab, weil der Anblick meines Vaters nach seinem Tod nicht erbaulich war, hatte doch intensive Krankheit zuvor die letzte Kraft geraubt und nicht viel von dem übrig gelassen, was mein vater gewesen war.
Mir wurde abgeraten, doch gleichzeitig befürchtete ich, später in Vorwürfen zu ertrinken, warum mir ein paar zusätzliche Strandtage wichtiger gewesen waren als ein letzter Gruß, ein letzter Blick.

Ich entschied mich zu bleiben. Es war keine Entscheidung im eigentlichen Sinne, denn selbst nach einem Gespräch mit meinem Freund, nach mehreren Telefonaten und vielen Tränen wußte ich nicht, was zu tun, was "richtig" war. Also wählte ich das Einfachste: ich beließ alles so, wie es war.

Es fiel mir nicht leicht, so zu handeln, kam ich mir doch wie ein Verräter an meinem Vater vor. Doch eigentlich handelte ich auch nicht. Hin- und hergerissen zwischen zweierlei Unliebsamen wählte ich die Stagnation. Wäre ich in eine Situation geraten, in der Nicht-Handeln eine vorzeitige Heimfahrt ausgelöst hätte, so hätte ich mich dieser Variante nicht erwehrt, sondern mit gleicher Unsicherheit die andere Möglichkeit akzeptiert.

Bis heute bin ich frei von Selbstvorwürfen. Die letzten Tage auf Kreta waren überschattet gewesen, doch bereiteten sie mich auch vor, auf das, was mich in Deutschland erwarten würde, brachten sie mir doch den Verlust, dessen Unbegreiflichkeit, mit schonender Langsamkeit nahe. Im Urlaub ist man schließlich stets von den anderen abgeschnitten, verzichtet weitestgehend auf Kontakt. Daß der Kontakt zu meinem vater ab sofort dauerhaft fehlen würde, begann ich zu ahnen. Doch es traf mich nicht so, als hätte ich zu Hause verweilt und den Tod aus nächster Nähe erleben müssen.

Mein Vater, das begriff ich schon auf Kreta, war nicht das Wesen, auf das mir ein letzter Blick gewährt worden war, nicht der von Krnakheit gezeichnete Leichnam, der irgendwo gekühlt auf Einäscherung wartete. Mein Vater war zu einem Bild in meinem Kopf geworden, das mit der sterblichen Hülle längst nichts mehr gemein hatte. Der letzte Blick war nicht vonnöten gewesen.

Ein letzter Gruß, ein letztes Wort, hätte ich gerne an ihn gerichtet. Doch war es bereits, als mein Bruder mich anrief, zu spät dafür. Denn nicht der Tote war es, dem diese Worte hätten gelten sollen, sondern der Lebende, mich Hörende, mich verstehende.

Erst heute begriff ich, daß die beiden mir damals zur Verfügung stehenden Optionen falsch waren, daß ich lieber die dritte, leider inexistente Variante gewählt hätte: Mit meinem Vater vor dessen Tod noch einmal reden, ihm meine Liebe, ein Lächeln mitgeben zu können.
Vielleicht ist das ein Wunsch, den jeder verspürt, der einen Nahestehenden verliert: Das Ungesagte sagen, bevor es zu spät ist.

Was mir bleibt, ist die Hoffnung, daß er ohnehin wußte, was ich ihm hätte sagen wollen, daß meine niemals gesprochenen Worte eigentlich überflüssig waren...

[Im Hintergrund: Muse - "Absolution"]

Freitag, 12. Mai 2006

Musik im Ohr

Ich sehe euch auf den Straßen, in den Bahnen, in Geschäften und Cafés. Überall verweilt ihr, eins mit euren kleinen elektronischen Begleitern.

Durch eure Ohren dringen harmonische Gesänge, feinste Melodien, wummernde Bässe und kreischende Gitarrensoli - doch ihr rührt euch nicht.
Die Kopfhörer schenken euch jeden einzelnen geliebten Klang, mühevoll auserwählt und auf dem mobilen Abspielgerät plaziert - doch ihr rührt euch nicht.
Eure Lieblingslieder, Lieblingsarien, Lieblingskünstler umschwärmen euch, betören, betönen, euch - doch ihr rührt euch nicht.

Wie könnt ihr mit grimmigen Gesichtern durch die Straßen wandeln, wenn das schönste Lied der Welt durch euren Kopf wirbelt?
Wie könnt ihr reglos auf dem Cafésessel sitzen, wenn die mitreißendste Stimme zum Eigengesang einlädt?
Wie könnt ihr arglos nach Klamotten stöbern, wenn ein treibender Takt euren Körper heimlich zucken läßt?

Ihr, mit den iPods, Walkmen, Discmen, mp3-Playern!
Ihr, mit den High-End- oder Aldi-Kopfhörern!
Ihr mit der Lieblingsmusik im Ohr:

Warum tanzt ihr nicht!?!

[Im Hintergrund: Samsas Traum - "Endstation.Eden"]

Dienstag, 9. Mai 2006

Petersilie

Als ich in der Mensaschlange stehe und kurz vor Erhalt meiner Mahlzeit unnötigerweise daran gehindert werde, gerät ein Schmunzeln auf meine Lippen und ein Satz rutscht zwischen diesen hindurch, ohne daß ich ihn aufzuhalten imstande bin.

Der vor mir Befindliche hat mit prüfendem Kennerblick die Salzkartoffeln ausgemacht und der Mensafrau die wenig respektvoll klingende Frage an den Kopf geknallt, ob es denn die gekochten kartoffeln auch mit Petersilie gäbe.
"Immer.", antwortet diese, kramt unter dem Tresen eine grüngefüllte Schüssel hervor, entnimmt dieser eine reichliche Handvoll krümeligen Petersiliengehäcksels und verteilt dieses in majestätisdchem Schwung über den vorher blanken Kartoffeln. Mit geeignetem Schaufelwerkzeug rührt sie das Grünzeug unter, so daß die Kartoffeln nun mit der gewohnten Sprenkelei versehen und imstande sind, den Petersilienhunger meines Vordermanns zu befriedigen.
Dennnoch entgeht mir nicht, daß die daraufhin auf seinen Teller geschaufelte Portion Kartoffeln besonders wenige der Grünsprenkel aufweist, als wolle sich die Mensafrau für die durch verzögernde Fragerei zusätzlich bereiteten Mühen bedanken und seinem Gaumen die ohnehin nicht geringen Mühen, das Petersilienarome zwischen in [mit allerlei Geschmacksverstärker optimierte] Soße getauchten Kartoffeln wahrzunehmen, erschweren.
Mein Blick gleitet über die eigens für meinen Vordermann petersilisierten Kartoffeln, und ich finde ein Schmunzeln in meinem Gesicht. Bevor ich mich zurückhalten kann, entweicht die Frage:
"Gibt es denn die Salzkartoffeln auch ohne Petersilie?"

[Ich mußte die gute Mensafrau, die nicht leider erfaßte, daß ein kleiner Scherz den Weg zu ihr gefunden hatte, davon abhalten, die Petersiliensprenkel von den Kartoffeln abzukratzen und nahm mit Pommes Frites - ohne Petersilie - vorlieb.]

Montag, 10. April 2006

Cleverness begreifen

Das Magdeburger Allee-Center vediente sich heute meinen ausdrücklichen Respekt. Das ist ungewöhnlich, neige ich doch nicht dazu, Einkaufzentren Respekt zu zollen, insbesondere wenn diese nur einen minimalen Prozentanteil an für mich Bedeutsamen beinhalten.

Unlängst jedoch eröffnete das Allee-Center neu. Es war nie geschlossen gewesen, doch hatte sich mit einer zusätzlichen Etage bestückt, deren Einweihung am 30.03. zelebriert werden mußte - inklusive der üblichen Gewinnspiele und Luftballonverteilerei. Der 30.03. war ein Donnerstag, und ich begriff, daß es vermutlich keinen besseren Wopchentag gab, um eine Einkaufscentereinweihung zu planen, als den Donnerstag.

Denn wer Zeit und ausreichend Interesse hatte, zwängte sich zu den ebenfalls mit Zeit und Interesse gesegneten Massen und erfreute sich daran, daß eine ganze Etage mehr zur Verfügung stand, um sich auf den schmalen gängen gegenseitig im Weg zu stehen.

Freitag dann kamen all jene Neugierigen, die den Donnerstagstrubel gemieden hatten oder innerhalb der Woche prinzipiell nicht viel Freizeit erübrigen konnten. Das Wochenende stand bevor, und was gibt es Schöneres, als das Eintreffen freier Tage mit einem Einkaufsbummel zu zelebrieren?
Während es Donnerstag also innerhalb des Einkaufpalastes voll gewesen war, schien es am Freitag nicht möglich, sich überhaupt voranzubewegen. Bis heute weiß ich nicht, was es beim Weltbild-Glücksrad so Ergreifendes zu gewinnen gegeben haben muß, daß sich das Warten in einer zwanzig Meter langen Schlange lohnte.

Samstag ist traditionell ein guter Tag zum Einkaufen. Inbesondere sonnige Samstagnachmittage laden dazu ein, innenstädtische Neuerungen zu bewundern und sich in Menschenmassen zu stürzen, um dort das eigene Geld endlich loswerden zu können. Wieder waren die Gänge angefüllt mit zahlungsfähiger Kundschaft, und die Das-Einweihungsdatum-Auf-Den-Donnerstag-Leger rieben sich vergnügt die Hände.

Moment, schaltete sich mein Denken ein, wenn aus den bisherigen zwei Etagen drei wurden, dann verteilt sich die bisherige Besucherschaft, was also bewirkt, daß die Menschenkonzentration bei gleichbleibender Besucheranzahl abnimmt und somit für ein Gefühl von Leere in den Gängen des Einkaufscenters sorgt. Es müßte also, um eine gleichbleibende Konzetration aus Einkaufwilligen zu erwirken, die Anzahl der täglichen, stündlichen, minütlichen Schlenderer auf 150 Prozent erhöht werden.
Ich bezweifelte, daß sich plötzlich, nur wegen einer zusätzliche Etage mit Geschäften, die den bisher vorhandenen teilweise erschreckend ähnlich sahen, zusätzliche Massen finden würden, um die den Menschen-pro-Fläche-Faktor konstant zu halten. Zumindest nicht auf Dauer.

Der 30.03. war ein Donnerstag. Zugleich jedoch befand sich dieser Tag zwei Wochen vor dem Osterwochende, so daß die Einweihung der zusätzlichen Etage gerade recht kam, um den größten Anteil des osterlichen Shopping-Wahns abzugreifen.
Zufall? Niemals!

Als ich vorhin durch das Allee-Center eilte, um meinen freitäglichen Plattenladenbesuch nachzuholen, begriff ich noch eine weitere Sache. Die cleveren Allee-Center-Eröffnungsdatum-Planer beließen es nicht dabei, die Einweihung einer neuen Etage strategisch günstig zu legen, sondern fuhren in bereits altbekannter Weise fort, auch Shoppingsdesinteressenten in ihr Gebäude zu locken, in dem sie für wiederkehrende, ja traditionelle, Attraktionen sorgten.

So wird es mich zu Weihnachten nicht verwundern, wenn der jährliche Bühnentrubel nun eine Etage tiefer staffinden, aber mit größerer, weil dreietagiger, Intensität betrieben werden wird. Und mich wunderte auch nicht, als ich die niedlichen Hoppelhäschen wiederfand, die in jeder Vor-Osterzeit ihr eigenes Allee-Center-Riesenterrarium bekommen.

Denn in der obersten Etage befand sich ein riesiger Glaskasten, auf dessen - komplett mit Streu ausgelegtem, mit Häuschen und Ästen, mit Nahrung und Spielzeug bestücktem - Boden sich eine nicht geringe Anzahl knuffiger Kaninchen tummelten und - natürlich - die Blicke aller Vorbeigehenden auf sich zog. Wer findet denn nicht niedlich, wenn kleine, plüschige Fellwesen lustig umherhoppeln oder an einem Brotkanten knabbern? Und wer wird bezweifeln, daß es Kinder geben wird, die allein um dieser Attrakltion willen ihre Eltern mit nervender Fragerei plagen und zu einem Allee-Center-Besuch bewegen werden?

Selbst nicht unberührt vom Anblick der alljährlichen Niedlichkeit, die um so vieles schlichter und besser ist als der protzig-kitschig-klebrige Weihnachtstrubel, verharrte auch ich ein paar Sekunden, um einem putzigen Langohrtierchen beim Hüpfen zuzusehen und den Allee-Center-Planern innerlich zu ihrer beindruckenden Kundenfang-Cleverness zu gratulieren.

Minuten später verließ ich das Allee-Center, ohne auch nur einen Cent ausgegeben zu haben.

"Magdbeurg"

Würde man mich auffordern, eine Sache zu nennen, die mir an Magdeburg mißfällt, so antwortete ich ohne zu überlegen:
Der Name.
Der Name?, wunderte sich dann mein gegenüber, und ich müßte erläutern:

Es geschieht nicht selten, daß ich das Wort "Magdeburg" tippe. Die Seite der Uni beispielsweise läßt sich, so man sie nicht als Favoriten gespeichert hat, am schnellsten über "www.uni-magdeburg.de" erreichen.
Oder wenn ich bei nasa.de, der Fahrplanauskunft des Nahverkehrsservices Sachsen-Anhalts, Straßenbahnabfahrtszeitien erfrage. Oder wenn ich irgendwen oder Mail frage, wann er wieder mal in seine Heimatstadt zurückkehrt. Oder ...
Ich vertippe mich immer.

"aMgdeburg", "Magdebrug" und vor allem "Magdbeurg" sind die wenig annehmbaren Ergebnisse meiner Tipperei. Und selbst wenn ich das Glück habe, ausnahmsweise mal "Magdeburg" getippt zu haben, so bleiben meine Blicke überdurchschnittlich lange ungläubig an diesem Wort hängen, erwartend, doch irgendwo einen Fehler zu finden.

Mein fragendes Gegenüber würde sich wundern: Und das war alles?
Ja, das war alles.

Sonntag, 9. April 2006

Fluttourismus

Ich bin mir unschlüssig darüber, ob meine Wahrnehmung abstumpfte oder die Berichterstattung weniger dringlich, weniger offensiv, ist als vor vier Jahren. Natürlich - ich besitze keinen Fernseher, kann nicht am Bildschirm die steigenden Pegel verfolgen, die Bewohner aus ihren Häusern verjagen und Zeichen der Zivilisation im Wasser versinken lassen. Doch bereits 2002 besaß ich keinen Fernseher - und war mir dennoch der Gefährlichkeit der Lage bewußt.

Ganz im Gegensatz zu heute. Die Flut streift mich nur peripher, und obwohl irgendeine Studentenparty aufgrund von Hochwasser ausfallen mußte, bleibt mein Flutdesinteresse bestehen. 'Die Party wollte ich sowieso nicht besuchen. Mich betrifft das nicht.', stelle ich fest und widme mich anderen Sorgen.

Vielleicht liegt es an den Medien, daran, daß vor vier Jahren die Flut zu einer deutschlandweiten Bedrohung aufgewertet wurde, jeder Bewohner in Flußnähe sich von Panik getrieben gezwungen sah, die Pegelstände mit der Höhe des eigenen Wohnraums abzugleichen. 2002 sprach man von einer Jahrhundertflut, und schon damals wunderte ich mich, wie man so tolldreist sein konnte, diesen Superlativ in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts bereits zu verbraten. "Jahrhundertflut" kann man schwerlich überbieten - und allein die Wiederholung des Wortes läßt mein Desinteresse wachsen. Die Flut steigt höher als vor vier Jahren - doch das Wort "Jahrtausendflut" läßt auf sich warten.

Im Jahre 2002 wohnte ich noch in relativer Elbnähe. zwischen meiner Erdgeschoßbehausung und der steigenden Elbe lagen nur ein See und ein nicht einschätzbarer Höhenunterschied. Da meine damalige Mitbewohnerin im Urlaub verweilte und auch ich zu meinen Eltern fahren wollte, traf ich Vorsichtsmaßnahmen, schleppte in mehreren Fuhren wichtiges Gerät und bedeutsame Unterlagen in eine befreundete WG. Selbiger, im Dachgeschoß befindlich, drohte keinerlei Flutwassergefahr, und die Wohnung war groß genug, um meinen Kram aufnehmen zu können. Tatsächlich hatte ich ohnehin vor, alsbald hier einzuziehen und freute mich, die Hälfte des Umzugs bereits erledigen zu können.

In der elbnahen Wohnung achtete ich sorgsam darauf, alles in Bodennähe Befindliche nach oben zu verlagern. Möbel und Tapete würden Schaden nehmen; doch ich hatte mein Bestes getan und konnte beruhigt die Heimreise antreten. Die Beruhigung hielt allerdings nicht lange an, denn am Ziel meiner kleinen Reise befand sich ein Fernseher, der mich minütlich über die gefährlichen Hochwassersituationen, über die Jahrhundertflut, informierte. Die Seiten der Magdeburger Feuerwehr gaben mir bereitwillig Auskunft über die aktuellen Pegelstände, lieferten mir Zahlen und Differenzbeträge - doch teilten mir nicht mit, ob meine alte Wohnung bereits unter Wasser lag oder nicht.
Um mich abzulenken, ging ich hinaus und bewunderte den Pegelstand der Saale, der keinen Zentimeter gestiegen war. Die Jahrhundertflut mitsamt ihren Bildern saß fest in meinem Kopf.

Irgendwann war alles vorbei; Magdeburg war - abgesehen von wenigen Gebäuden in Elbnähe - verschont geblieben, nicht zuletzt dank der Hilfe fleißiger Sandsackschlepper, die mir, dem in die Ferne Geflohenen, ein schlechtes Gewissen vermachten. Nach ein paar Wochen kehrte ich nach Magdeburg zurück, erledigte den Rest des Umzugs und war froh, daß die Jahrhundertflut vorüber und ich fortan in höherem Stockwerk wohnte.

Die diesjährige Flut berührte mich kaum. Die alten Bilder erschienen erneut, doch zu sehr war ich darauf versteift, daß eine Jahrhundertflut nicht bereits nach vier Jahren wiederholt werden dürfte, um der medialen Übertreibung Glauben schenken zu wollen. Erst, als ich von Dresden hörte, von Pegelständen [Dieses Wort stellt einen guten Anwärter zum Wort des Jahres dar, nachdem "Jahrhunderthochwasser" bereits ausgelutscht ist.], die die alten Rekordmarken übertrafen, wurde ich nachdenklich. Aber nur kurz. 'So schlimm wird es schon nicht sein.', dachte ich, hoffte ich.

Gestern beschloß ich, den Magdeburger Stadtpark aufzusuchen. Selbiger, von zwei Elbarmen eingeschlossen, sollte - Erzählungen anderer zufolge - wohl partiell unter Wasser stehen, doch Fluttourismus war nur mein sekundäres Ziel. Primär wünschte ich mir, einen trockenen und menschenfernen Platz zu finden, an dem ich kontrolliert Dinge in der Luft umherwirbeln konnte. Ich packte also meine Keulen und Bälle ein, doch verzichtete nicht auf einen Fotoapparat. "Grüße aus Magdeburg", wollte ich in meine Heimat senden, begleitet von einem beeindruckenden Hochwasserfoto.

Schon bevor ich am Stadtpark ankam, sah ich elbnahe Überflutungsbereiche. Eine Skulptur, ein paar Bänke und säuberlich geschnittene Hecken waren im Wasser versunken. Aus einem Papierkorb war eine gelbe Plastiktüte herausgeschwemmt worden und trieb nun auf dem Wasser dahin.
Ich lief weiter und begriff schnell: Hochwasser ist vollkommen unspektakulär - solange nicht Zeichen menschlicher Zivilisation davon betroffen sind. Käme ich als Nicht-Magdeburger zum Stadtpark und sähe die überfluteten Flächen, so hielte ich es für die Elbe oder einen der Parkseen, wüßte nicht, wo das echte Wasser aufhörte und das falsche begann. Ich wäre wenig beeindruckt.

Doch als Magdeburger kannte ich die Wege, kannte ich die Rasenflächen, die nun nicht mehr zugänglich waren, kannte ich die Stellen, an denen ich sonst verweilte, die nun vom Wasser verschluckt waren. Ich sah Schilder, die aus den Fluten ragten, sah Schaukeln auf einem Kinderspielplatz, die wohl nur die allgegenwärtigen Enten nutzen konnten. Mit einem ironischen Lächeln bedachte ich die Entdeckung, daß das Spielplatzschiff nahezu gekentert war.
Ich lief durch den Park, war mir nicht zu schade, mit durchweichenden Schuhen unwegsame Stellen zu betreten, um mich von allen Seiten vom Wasser eingeschlossen zu sehen. Ich fand keinen Platz, der nicht durchweicht war, auf der ich mich hätte ausbreiten und der Jonglage widmen können. Alles Rasengrün war nun von trübem Wasser bedeckt, in dem sich das Frühlingssonnenlicht spiegelte. 'Romantisch.', dachte ich und lächelte.

Zum ersten Mal hatte mich die Flut bewegt, wirklich berührt. Die Bilder von vor vier Jahren waren letztendlich nur Fernsehen gewesen, nur zuammengeschnittenes Material ohne Leben. Aber hier konnte ich die Kraft der Fluten spüren. Reglos lag das Wasser auf dem, was Mensch sein Eigen nannte und verwehrte ihm den Zutritt. Mensch konnte nur betrachten, nur staunen und glotzen.

Denn die Stadtpark-Flut war ergreifend schön. Bäume ragten aus dem Wasser, bildeten mystische Dschungelwälder. Wege endeten in den Fluten, Rehe sammelten sich auf den wenigen trockenen Plätzen. Unter dem hellblauen Himmel und der strahlenden Sonne schien vom Wasser keine Gefahr auszugehen. Es war groß, gewaltig, majestätisch, aber friedlich, schlummernd. Eine Urgewalt, doch gewaltlos.

Ich hielt inne, wo ich konnte, und starrte auf das reglose Wasser. Und mit mir Hunderte anderer.

Ich war nicht allein. Den sonnigen Nachmittag hatten sich unzählige Fluttouristen auserkoren, um zu staunen und sich feuchte Füße zu holen. Fotoapparate wurden gezückt, Familien zeigten kreischend auf die panisch Schutz suchenden Rehe, liefen in großen Gruppen auf den unversehrten Wegen.
Derer gab es genug, um einen Rundgang zu ermöglichen, Die asphaltierte Straße lag höher als der Rest des Parks und lud zum Schlendern und Bewundern ein. Hier ragte ein Berg aus dem Wasser, dort ein Schild. Eine Ente, wo sonst keine hätte sein dürfen, erfreute sich großer Beliebtheit.

Ich fand keinen ruhigen Ort, und nachdem ich der vielen Schaulustigen überdrüssig geworden war, die gewaltige Kraft des Wassers ansatzweise erfaßt hatte, war ich froh, auch ohne jongliert zu haben, nach Hause zu laufen, den Park zu verlassen, der mich zum ersten Mal erahnen ließ, was "Jahrhundertflut" überhaupt bedeutete.

Mittwoch, 5. April 2006

Besuch

Ich hatte erwartet, gehofft, diesmal würde es anders sein.
Als du dich verabschiedetest, blieb ich nicht zurück. Meine Wege warteten, begangen zu werden, Menschen umschwirrten mich mit ablenkenden Worten und Gesten, mit Lachen und Lebendigkeit. Ich konnte mich vor mir verstecken, irgendwo, wo man mich aufnahm und glauben ließ, diesmal würde es anders sein. Als du gingst, hinterließest du mich in einem selbstgestrickten Wirrwarr, das mich kleidete, wie ich meinte, das mich auffing und mein Lächeln bewahrte.

Ich begann, die Vergangenheit in Frage zu stellen. Nicht vorstellbar war es, daß ich früher nach deinen Besuchen mehrere Tage lang unfähig gewesen war, mich zu rühren, mich von der Allgegenwart der Gedanken zu lösen. Nicht vorstellbar war es, daß ich einst stundenlang alles aus deinem Mund Ertönte noch einmal belauscht hatte, als könnte ich darin tiefere Weisheit, Erkenntnis, finden, als führten die verklungenen Laute Spuren dessen mit, was mich in deiner Gegenwart so glücklich gemacht hatte.

Das war nicht ich, der dort bei dröhnendem Lärm Stille suchte, Stille vor sich selbst, Stille vor dem Wissen um die ewige Vergeblichkeit seines Fühlens, Stille vor den Ruinen, die ein einziges Lächeln in seinem Schädel freigelegt hatte. Das war nicht ich.

Ich war das Wesen, das sich nun lachend unter Menschen mischte, sich amüsierte und Wohlbefinden aufsaugte, als könnte es dein Fehlen ersetzen. Ich war das Wesen, das erwartete, diesmal würde es anders sein.

Nur wenige Zentimeter vor meinen Augen hattest du in unberührbarer Ferne geschlummert - ein zerknittertes Shirt und ein zerzaustes Büschel Haare waren alles, was die Decke nicht verbarg. Mir war es genug, genug, um zu wissen, was ich immer wußte. Dein Atem, von Schnupfen mit Schwere belegt, zeugte von deiner Gegenwart, und ich lächelte, dankbar dafür.

Dich nun, in diesen Augenblicken, zu berühren, meinen Schlafsackraupenkörper in die Nähe deines zu rücken, wäre ein Frevel gewesen, ein Gewaltakt an der Wehrlosigkeit der Schlafenden. Ich verharrte still, zu keiner Bewegung, zu keinem Laut imstande, dich nicht stören wollend in deiner Knitter-T-Shirt-Wirrhaar-Pracht. Dich zu wecken hätte bedeutet aufzustehen, das hauchdünne Band wieder zu zerreißen, das meine Sehnsucht zwischen uns gesponnen hatte.

Am Abend zuvor hatten wir uns in samtroten Sofakissen gekuschelt und geredet, und endlich war es mir geglückt, Fragen zu stellen, deren Antworten mich interessierten, am Dasein eines Mitmenschen teilhaben zu wollen. Wir redeten, und ich badete in dem, was sich aus deinem Herzen ergoß.

Die Intensität, meinte ich schließlich, sei mir abhanden gekommen. Es gebe das Gute und das Schlechte, das Schöne und das Unangenehme, doch nichts davon berühre mich wirklich, nichts davon risse mich auf, nichts davon erreiche mich im Innersten. Es gebe Menschen, denen Sympathien zuteil wurden; und doch fehlte der letzte Schritt, der letzte Schliff. Es gebe Ereignisse, die mein Lachen fanden; und doch vermißte ich das "mehr", die Grundsubstanz, irgendetwas, fernab meiner schimmernden Oberfläche.

Die Intensität sei mir abhanden gekommen, behauptete ich, doch ich ahnte, daß ich gelogen hatte. Allein das Wissen um deinen Besuch hatte das Fehlende zurückgeholt. Und doch glaubte ich, daß diesmal alles anders sein würde.

Der Tag danach war angefüllt mit mir. In der Stille der Dinge, die ihrer Erledigung harrten, fand ich das Altbekannte. Nichts war anders.

Mit Trägheit befüllt versuche ich mich, durch die Zeit zu schlagen, Notwendiges über mich ergehen zu lassen, meinen Schädel mit Leere zu füllen.
Doch meine Finger zittern, und Tränen lauern in meinen Augen.

Ich kreise um dich, und nichts ist anders.

[Im Hintergrund: Stillste Stund]

Freitag, 24. März 2006

Massenmord gegen Politikverdrossenheit

Am Sonntag ist Wahl.

Das Deutsch des obigen Satzes ist wahrlich kein gutes, doch an seinem Inhalt ist nicht zu rütteln, zumindest wenn man in Sachsen-Anhalt wohnhaft ist, in jenem Sachsen-Anhalt, daß in sämtlichen Kategorien den letzten Platz, die viel zitierte rote Laterne, sein Eigen nennt - außer natürlich in Negativdisziplinen. Da sind wir plötzlich ganz weit vorne. Grund genug, alles besser machen zu wollen.

Ich lasse die Frage außen vor, ob es nicht immer einen letzten Platz, ein Bundesland, geben muß, das im Vergleich zu allen anderen den Schwarzen Peter zieht [paßt farblich ganz gut zur Laterne] und erkläre lauthals, von Politik keine Ahnung zu haben. Selbiges behauptet jeder, der sich dafür entschuldigt, soeben lauthals mit unsinnigen Stammtischparolen gegen das "System" gewettert zu haben und sollte eigentlich nicht auch für mich als Ausrede dienen, mich vor meiner Verantwortung als Wähler zu drücken.

Gut, dann formuliere ich es anders: Mein politisches Interesse ist minimal.
In politischen Brisanzzeiten, beispielsweise wenn ein Irakkrieg beginnt oder zum ersten mal eine Frau für den Bundeskanzler[innen]posten kandiert, neige ich dazu, die Medienberichte zu verfolgen und Meinungen zuzustimmen oder sie mit kritischen Worten niederzumachen. Jedoch merke ich selbst dann, keine Ahnung zu haben, nur die Oberfläche zu kennen, unter der ein dickes Geschwulst an Informationen pulsiert, das kein Spiegelbild in meinem Schädel findet - und sich auch verwehrt, in mein Wissen einzudringen.

Denn befasse ich mich eine Weile mit einer mich interessierenden Thematik, so stelle ich schnell fest, daß in zahllosen Texten und Sendungen dieselben oberflächlichen Informationen wiedergekäut werden, ohne daß wirklich Neues oder gar Tiefergehendes hervorgebracht wird.
Es gibt das Internet; ich kann mich informieren. Und das tue ich - anfangs. Irgendwann glaube ich genug zu wissen und werde alsbald eines Besseren belehrt. Oder entdecke die zwanzigste abwegige Spekulation über Dinge, die erst entschieden werden müssen und wende mich genervt ab.

Ich interessiere mich nicht für Politik. Wenn ich jemals ein Gespräch in diese thematische Richtung lenke, fühle ich mich wie auf einem Minenfeld, wie im Treibsand, wie auf einem Bürgersteig Magdeburgs. Jeder weitere Schritt, jede weitere Aussage, wird offenbaren, daß ich nichts weiß, wird mich schmachvoll untergehen lassen. Also schweige ich lieber präventiv und versuche zuzuhören. Manchmal frage ich auch nach, um mir Zusammenhänge zu erarbeiten. Doch blicke ich zwei Tage später auf das Gespräch zurück, kann ich mich keines Wissens erinnern, das bei mir verweilte.

Trotzdem wähle ich. Ich bin fähig zu lesen und zu verstehen. Es ist ein Leichtes für mich, die Wahlprogramme der Parteien zu durchstöbern, und auch wenn ich nicht alles erfasse, bin ich doch in der Lage, bestimmten Thesen mit Zustimmung oder Ablehnung zu begegnen.
Ich bin auch nicht denkfern, kann Dummenfang und Stammtischparolen erkennen, den Namen des jetzigen Ministerpräsidenten [und zufälligerweise auch des sachsen-anhaltinischen Finanzministers] nennen und ihren Parteien zuordnen.

Doch wenn man mich fragen würde, was die CDU in den letzten vier Jahren in Sachsen-Anhalt bewegt hat, würde ich schweigen. Wenn man mich fragte, wer außer dem Ministerpräsidenten und dem Finanzminister im Landestag herumsitzt, würde ich schweigen.

Oder ausweichen. Ich könnte erzählen, daß ich einstmals mit Freundin C und Freund M vor dem Landtagsgebäude in Magdeburg parkte. Eigentlich wollten wir weiterfahren, doch das frischgekaufte Speiseeis sollte zunächst verzehrt werden. Wir parkten also, stiegen aus und nahmen auch einen handflächengroßen Ball mit ins Freie, um ihn uns gegenseitig zuzuwerfen. Wir hatten keine Minute unserem arglosen Spiel gefrönt, als ein Sicherheitsmann an uns herantrat und darauf verwies, daß sich schon Abgeordnete beschwert und die Befürchtung geäußert hätten, wir könnten mit unserem gefährlichen Bällchen ihre Autos zerschmettern.
Ich war erstaunt ob der Disziplin, die uns nur aufgrund des Verweilens in der Nähe von Politikern auferlegt wurde.
Wie die hießen, wußte ich trotzdem nicht.

Käme ein Antipolitikverdrossenheitsmassenmörder [Ich sollte wohl Bindestriche setzen: Anti-Politikverdrossenheits-Massenmörder] daher und zwänge mich mit vorgehaltener, geladener und entsicherter Armbrust unter Androhung meines Todes, die wichtigsten Punkte des SPD-Wahlprogramms wiederzugeben. würde ich stotternd abzulenken versuchen und darauf verweisen, daß ich argwöhnte, ein radikaler CDU-Politiker triebe in Magdeburg sein Unwesen.

Der Massenmörder fiele auf meine Finte herein und fragte "Wieso das denn?" und zwänge mich mit vorgehaltener, geladener und entsicherter Armbrust zum Berichten folgender Worte:

Aufgrund der derzeit stattfindenden Wahlwerbungskampagnen, wird insbesondere der Magdeburger Innenstadtbereich mit unzähligen überdimensionalen Gesichtern bepflastert, die mit unsinnigen, nichtssagenden oder schlichtweg durchschaubar-dummen Sprüchen für ihre Partei und um meine kostbaren Stimmen werden. Heimlich hat sich an den meisten dieser Plakate ein Sprühender versucht, der mit roter Farbe allen Politikern rote, runde Clownsnasen verpaßte und somit ein oder zwei Sympathiepunkte meinerseits einheimste. Nicht, weil ich am Liebsten stammtischgerecht ausrufen würde: "Recht so! Politiker - das sind eh alles Betrüger! Mafia!", sondern weil durch diese Aktion die ausufernde Wahlplakat-Überallpräsenz ins Lächerliche gezogen wird, wo sie auch hingehört.
Der heimliche Sprayer verschonte jedoch das wohl lächerlichste Plakat von allen, auf dem vier CDU-Politiker behaupten, sie würden sich "ins Zeug legen" - und das durch eine leichte Abschrägung ihrer Körpersenkrechten untermauern.
"Die CDU wurde verschont?", wunderte ich mich und argwöhnte, daß es einen radikalen CDU-Sympathisanten gäbe. Allerdings ging die Vorstellung einer solchen Person mir nicht in den Schädel, weswegen ich erleichtert aufatmete, als ich gestern auch rotnasiger CDU-Plakate gewahr wurde.

Der Massenmörder und seine Armbrust jedoch fänden die Geschichte nicht komisch, denn schließlich enthielt sie kein Wort vom SPD-Wahlprogramm. Auch mein Bericht über die Einzelbewerberin Christine HabdenNamenvergessen, die täglich ihr mit Sprüchen bemaltes Bettlagen aufspannt, indem sie das eine Ende an einer Laterne , das andere an sich selbst befestigt, würden den Massenmörder nicht von meiner Politikweisheit überzeugen, und so bliebe ihm nichts weiter übrig, als mir den Armbrustpfeil durchs Auge zu schießen.
Doch die Armbrust klemmt, und bevor ich unvorsichtigerweise Häme ob der Benutzung mittelalterlicher Waffen äußern kann, resigniert der Antipolitikverdrossenheitsmassenmörder seufzend und rät mir, zumindest einmal den Wahlomaten aufzusuchen und mich dort testen zu lassen.

"Hab ich doch längst!", töne ich frohlockend, doch der Armbrustmörder ist schon auf dem Weg zu seinem nächsten Opfer.
Allerdings muß ich gestehen, daß der Wahlomat für mich keine große Hilfe darstellt. Bisher hatte ich immer Glück, das das gezeigte Ergebnis mit meinem ohnehin gefaßten Wahlwunsch zusammenfiel. Doch wäre dies nicht der Fall, so würde ich den Wahlomaten in eine virtuelle Ecke kicken und mit meiner Mißachtung strafen. Nicht, weil ich die Idee dieser Spielerei nicht zu würdigen weiß, sondern weil ich mir von einer Webseite nicht vorschreiben lassen möchte, welche Meinung ich zu vertreten habe - egal wie recht sie hat.

Theoretisch müßte ich wohl FDP wählen, denn unser derzeitiger Finanzminister und seine - bei regionalen Wahlen kandidierende - Frau habe die Großzügigkeit besessen, mehrere Hundekotcontainer zu spenden, auf daß in unserem Viertel die Besitzer vierbeiniger Schwanzwedler die Stoffwechselendprodukte ihrer Liebsten fachgerecht entsorgen können. Natürlich beeinflußt mich der Edelmut dieser Spende nicht im Geringsten, was mehrere Gründe hat - und ich zähle nur die unpolitischen auf:
- Wenn man etwas spendet, sollte man darauf verzichten, seinen Namen auf das gespendete Objekt gravieren zu lassen, weil sonst die Spende nämliche keine mehr ist, sondern einzig und allein manifestierte Eigenwerbung - bestenfalls zur Erhöhung des eigenen Gutmenschkontostands. Übrigens erachte ich es auch nicht als unbedingt sinnvoll, Hundekotcontainer mit dem eigenen Namen zu bestücken, weil die Assoziation zwischen Aufschrift und Inhalt zu naheliegend ist.
- Die Spende von irgendwas bewegt mich überhaupt nicht. Erst recht nicht zu einer veränderten Kreuzchensetzerei. Erst, wenn jemand so viel Spendet, daß es ihn selbst zu einem Spendenabhängigen machen würde, verdient er mein Respekt. Für den Spender entbehrliche Spenden sind mittlerweile zu alltäglich geworden, als daß sie mich noch berühren.
- Die Hundekotcontainer funtkionieren nicht. Ich habe auch nirgendwo bisher - wie das in meiner Heimatstadt eine Zeitlang üblich - war einen Plastiktütenspender gesehen, der Hundebesitzer eventuell davon überzeugt hätte, die Hinterlassenschaften ihrer Haustiere ohne direkte Berührung entsorgen zu können. Ehrlich gesagt habe ich bisher in meinem ganzen Leben niemals irgendwo vor meiner Nase sich bücken und die verdauten Nahrungsmittel seines Hundes wegräumen sehen. Ich gebe zu, Hunderückseiten und den daraus hervorkriechenden Abscheulichkeiten nicht unbedingt überdimensional großes Interesse zuzuwenden, doch allein meine häufig unachtsamerweise in Hundekot stapfenden Stiefel können ein ekliges Liedchen davon singen.

Erst neulich wich ich auf dem wirklich breiten Fußweg einer Familie aus, die natürlich nebeneinander gehen mußte. Das allein störte mich nicht, doch daß ich meine Aufmerksamkeit der Familie zuwendete, sorgte für fehlende Bodenbeobachtung und für eine weichbraune Sohlenfärbung. Meine Begeisterung war minimal, und ich find sogleich an, die noch herumliegenden Schneereste niederzutreten, auf daß das Feuchte das Eklige beseitigen möge. Ich sah reichlich albern aus, wie ich auf einer Strecke von dreihundert Metern Länge jeden einzelnen Schneerest mit Fußtritten bearbeite, aber letztendlich war ich erfolgreich und ging fröhlichen Gemüts an den unbefüllten Hundekotcontainern vorbei.

In den letzten Jahren war ich immer einigermaßen fester Überzeugung, daß ich diese oder jene Partei wählen sollte. Als ich 18 war und das erste Mal auf einem Stimmzettel meine Meinung äußern durfte, wählte ich die PDS, die die damals noch so hieß und war anschließend erstaunt, daß ich das getan hatte. Schließlich konnte ich meine Eltern und Großeltern dafür verantwortlich machen, die mich und meinen Bruder kurz nach der Wende überall im Stadtviertel PDS-Aufkleber verteilen ließen. Kinder lassen es sich nicht nehmen, auf einigermaßen legale Weise unzählige Laternenpfähle, Hauseingänge und Briefkästen mit Aufklebern zu bepflastern - und seien es welche politischer Natur. So etwas prägt und führte mein erstes Kreuz direkt in den Kreis neben den drei Buchstaben P-D-S.

Heute wähle ich keine PDS mehr. Käme der Antipolitikverdrossenheitsmassenmörder daher und fragte mich "Warum?", so könnte ich wohl wieder keine eindeutige Antwort geben, müßte mich meiner Unwissenheit schämen und auf einen Metallpfeil in meinem Auge gefaßt machen.
"Das sind doch alles Kommunisten.", würde ich vielleicht flüstern, und der Antipolitikverdrossenheitsmassenmörder würde traurig den Kopf schütteln ob solch lächerlicher Stammtischparolen.

Nicht minder lächerlich ist die DVU, deren Plakate nicht nur Stammtischdummheiten, sondern auch noch faschistoides Gedankengut als wählenswert deklarieren.
Das vermutlich beste Wahlplakat ist klein und von der PDS [deren Spitzenkandidat übrigens aufgrund seines Äußeren abwegige Parallelen zu einem einstmals großen Führer aufkommen läßt] und lautet:
"Sozialer Protest buchstabiert sich ohne d,v,u"
Das ist innovativ und aussagekräftig und erwirbt sich diverse Pluspunkte auf meiner Gutfindskala.
Allerdings wähle ich trotzdem keine PDS [das zeigt wieder einmal, wie funktionstüchtig Wahlwerbeplakate sind], nicht zuletzt, weil ich bereits wählte.

Bei jeder einzelnen Wahl bin ich beeindruckt, wie einfach es ist, bereits vor der Wahl die eigene Stimme abzugeben. Zahlreiche Wahlhelfer stehen im Wahlbüro bereit, jeden Ankömmling bienengleich zu umsummen und jede aufkommende Frage sofort aus der Welt zu schaffen. Es ist sogar möglich, seine Fernwahlunterlagen per Fax oder gar Email anzufordern - nur telefonisch funktioniert es nicht. Ein Leichtes wäre es also, sich die Emailadresse WAHLBETRUEGER@beliebigedomain.de zu sichern und die Wahlunterlagen anzufordern.

Ich wählte, und nach Verlassen des Wahlbüros begriff ich, was es heißt, in einer Demokratie zu leben. Nämlich nicht, sich mit unzähligen unsinnigen Sprüchen und Gesichtern zupflastern oder von Hundekotcontainern verführen zu lassen, sondern alle möglichen Maßnahmen auszuschöpfen, um jedem Wählenden seine Kreuzchenvergabe zu vereinfachen. Jede Stimme hat eine Bedeutung, und nirgendwo wurde mir das so deutlich gemacht wie im geordneten Wirrwarr des Wahlbüros.

Käme jetzt der Antipolitikverdrossenheitsmassenmörder zu mir und wiese mich darauf hin, daß ich am Sonntag gefälligst zur Wahl gehen möge, würde ich ihm in die geladenen Armbrust lachen und darauf verweisen, daß ich bereits gestern meine Stimmen vergab. Der Massenmörder würde zufrieden lächeln, mir auf die Schulter klopfen und mich verabschieden.

Aus dem Augenwinkeln kann ich noch beobachten, wie er seine Armbrust neu lädt, ein paar Schritte geht und sie dann einem Hundebesitzer an die Schläfe hält, dessen knuffiges Pelzwesen soeben den Bürgersteig mit seinen Hinterlassenschaften bestückte...

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