Wortwelten

Sonntag, 23. Oktober 2005

Beschaffungsmaßnahmen

Als ich einst schier unendliche Unmengen frei verfügbaren finanziellen Potentials mein Eigen nannte [Am liebsten hätte ich die Überschrift so wie den Satzanfang genannt...], stellte ich fest, daß es an der Zeit sei, exklusivem Musikgenuß in zweierlei Weise frönen zu wollen: Zum einen als ausschließlicher Konsument der tönenden Klänge, zum anderen aber auch in herausragender Qualität. Nah lag also die Entscheidung, einen nicht unbedeutenden Anteil des vielen Geldes in qualitativ hochwertige Kopfhörer umzutauschen.

Nachdem ich zunächst mit kabellosen Vertretern der Kopfhörergattung ungute Erfahrungen sammelte, entschied ich mich für ein ansprechendes Produkt der Firma Sennheiser, das mich nicht zuletzt mit austauschbarem Kopfhörerkabel beeindrucken konnte. In heimischen Gefilden war es mir von nun an also möglich, von meiner Umgebung abgekapselt Musiken in meinen Schädel strömen zu lassen, ohne andere damit zu belästigen. Schwere Gitarren dröhnten auf mich ein, Schlagzeugsoli entlockten mir ein begeistertes Lächeln - und immer wieder mußte ich mich zurückhalten, nicht mitzusingen, mitzugrölen. Anrufende waren verärgert ob meiner scheinbaren, eigentlich nur partiellen Abwesenheit, meine damalige Mitbewohnerin aber erfreut, nicht länger das Gekreisch und Gelärm ertragen zu müssen.

Irgendwann beschloß dann aber ihr knabberfreudiges Kaninchen, den Geschmack von Kopfhörerkabeln ausprobieren zu wollen und durchtrennte mit einem einzigen Haps das kostbare Kabel. Meine Freude darüber war gering, und alsbald störte mich die Lüsterklemme, die als Notbehelf durchaus funktionierte, aber aus ästhetischen Gründen keine Langzeitlösung darstellen konnte. Ich erfreute mich der damals beim Kauf beachteten Kabelaustauschbarkeit und ging frohen Mutes zum Elektronikfachmarkt meines Vertrauens. Umgehend wurde der Artikel bestellt, und wenige Tage später tauschte ich 30 DM gegen 3 Meter.

Als ich unlängst eine unerträgliche Hörgenußeinschränkung wahrnahm, mußte ich feststellen, daß das teure Kabel abermals beschädigt worden war - diesmal jedoch offensichtlich nicht durch jetzt inexistente Vierfüßer, sondern wohl durch meine Unaufmerksamkeit. '30 DM.', entsann ich mich und gewahrte die unfröhliche Leere in den Tiefen meines Geldbeutels. 'Das muß auch billiger gehen.', hoffte ich und begann das weltweite Netz nach einem Sennheiser-Kopfhörerkabel zu durchforsten.

Auf den Herstellerseiten wurde ich schnell fündig: Erstaunlicherweise verlangte der Ersatzteilshop die gleichen, teuren 15 Euro. Nebenbei allerdings auch noch unverschämt 8,90 Euro für den Versand. Das zu akzeptieren war ich nicht bereit. Leider hielten jedoch die nahezu unerschöpflichen Tiefen des Internets keine weiteren Optionen bereit - und das, obwohl ich ein Kabel mit 2,5 mm und 3,5 Klinkenstecker durchaus als nicht sonderlich ungewöhnlich einstufte.

Auf ging es also erneut zu dem mir längst vertrauten Elektronikfachmarkt, zur Reparaturannahmestelle, dorthin, wo man fröhlich meine Daten aufnahm und versprach, sich bei mir zu melden - wenn ich denn bereit war, mich von anzahlenden 5 Euro zu trennen. Ich war, und erhielt am selben Tag noch eine SMS.

'Das ging ja schnell.' dachte ich erfreut, doch mußte feststellen, daß nur weitere Informationen erbeten wurden. Ich hatte einen falschen Kopfhörertyp genannt, ein Zahlendreher, nicht Weltbewegendes, aber Grund genug für eine erinnernde SMS - und für die Postkarte, die am nächsten Morgen eintrudelte und denselben Informationsbedarf kundtat. Nachdem mich die moderne Kurznachricht, dieser Vertreter des digitalen Zeitalters, angenehm überrascht hatte, stellte die altmodische und überflüssige Postkarte eine neuerliche, aber diesmal unangenehme Überraschung dar.
Kurzerhand stiefelte ich wieder zum Elektronikfachmarkt und korrigierte freundlich lächelnd meine unrichtigen Angaben, darauf gefaßt, noch am selben Tag eine bestätigende Kurznachricht auf meinem Handy entdecken zu können.

Doch nichts dergleichen geschah. Die Wochen zogen ins Land, und der Kopfhörer verstaubte ungenutzt zwischen hölzernen Balken. Mehrmals ertappte ich meine Hand, die willig nach ihm griff, doch dann setzte stets meine Erinnerung ein, die mir verbot, mich mit den unschönen, vom defekten Kopfhörerkabel lädierten Klängen zu widmen.

Irgendwann nutzte ich mein Verweilen in der Nähe des beauftragten Elektronikfachgeschäftes für eine interessierte Nachfrage. Leider hatte ich meinen Anzahlungs-/Auftragseinreichungsschein nicht dabei, was ich bedauerte, aber nicht zu bedauern brauchte, denn der emsige Mitarbeiter unterbrach sogar ein persönliches Gespräch, um meinen Nachnamen in den Computer zu hacken und anhand meiner Kartei möglicherweise neue Informationen hervorzuzaubern. Doch die gab es nicht. "Das kann noch dauern.", wurde ich getröstet, so daß ich ohne jegliche Kopfhörerkabelbeschaffungserfolge verdrossen heimwärts zog.

Wieder verflogen die Wochen, und wieder drängte es mich, nachzuhaken, was aus meinem sehnlichen Wunsch nach einem intakten Kabel geworden war. Wieder suchte ich den in meiner Erinnerung netten Mitarbeiter auf. Wieder hatte ich keinen Anzahlungs-/Auftragseinreichungsschein dabei. Doch diesmal war er vonnöten, enorm wichtig, ja eigentlich sogar die Bedingung dafür, daß ich überhaupt Worte an den Mitarbeiter richten durfte.

Ich lächelte verlegen, wies eingeschüchtert auf den mit Daten vollgestopften Rechner, unter denen ja womöglich auch meine eigenen sein würden, gab meinen Namen kund, buchstabierte mich, begegnete der unwilligen "Na-gut-wenn's-denn-sein-muß"-Miene des Bearbeitenden mit einem morastschen "Es-tut-mir-leid-daß-ich-Sie-nerve"-Gesichtsausdruck und wartete geduldig ab, was das Ergebnis seiner schier endlosen Augenstreifzüge über den für mich nicht erkennbaren Bildschirminhalt sein würde.

'Das ist doch Absicht.', vermutete ich, 'Damit niemand merkt, was für unfähige, Stumpfsinn produzierende Mitarbeiter beschäftigt werden, dreht man die Monitore so, daß wissende Kunden keinen Blick darauf zu werfen vermögen. Vermutlich arbeitet der Elektronikfachgeschäftangestellte jeden zweiten Auftrag ab, indem er scheinbar motiviert auf der Tastatur herumklimpert, aber tatsächlich nur den paßwortgeschützten Bildschirmschoner beackert. Und wahrscheinlich hat der Kerl genau das bei meinem letzten Besuch praktiziert.'

"Wir haben Ihnen eine Postkarte geschickt.", unterbrach der wohl doch agierende Angestellte meine Gedankengänge.
"Ja, aber das ist doch schon ewig her.", reagierte ich flink. "Außerdem stattete ich Ihnen noch am selben Tag einen Besuch ab, um die vorher falschen Informationen zu korrigieren."
Mein Gegenüber sieht nicht auf, starrt suchend auf den Monitor.
'Herrscht wirklich ein solches Datenchaos in den Datenbanken?', wunderte ich mich. 'Oder ist die Bildschirmaufteilung so unübersichtlich, daß jegliche Informationen unauffindbar verschütt gehen?'

"Ach ja, hier steht's ja." Der Elektronikfachmann jubelte fast, bestätigte somit jedoch nicht nur meine Aussagen, sondern auch meine Datenbank-Chaostheorie.
"Das haben Sie sogar bei mir gemacht.", stellte er fest, "Informationen abgeändert. Auftrag nochmals abgesendet."
'Soweit waren wir schon.', seufzte ich innerlich. 'Doch ist mit meinem Kopfhörerkabel?'
"Nee, da ist noch nichts da.", zerstörte der noch immer verwirrt wirkende Angestellte meine Hoffnungen.
"Sieht schlecht aus.", setzte er noch einen drauf.

"Und nun?", wollte ich fragen, doch ich war längst am Boden zerschellt, brachte keinen Ton mehr hervor.
"Ich schick's nochmal los.", meinte der Fachmann eifrig, klickte einmal ['Einmal?', dachte ich beeindruckt und wunderte mich, warum es angesichts solcher Leichtigkeit ein solches Problem darstellte, meine Daten zu überblicken.] und schaute mich zum ersten Mal seit Äonen wieder an.

"Wir melden uns dann.", ergänzte er unpräzise, aber freundlich und verabschiedete mich.
"Tschüß.", brachte ich noch raus, und schlich enttäuscht zum Ausgang.

[Im Hintergrund: Minas Morgul - "Schwertzeit"]

Samstag, 22. Oktober 2005

Innenstadtausrottungsmaßnahmen

Befremdlich, daß diese wenig nutzvolle Strategie zur Innenstadtbelebung noch niemanden störte:

Während größere Geschäfte tatsächlich die komplette Ladenöffnungszeitenspannweite ausnutzen und bis 20 Uhr Kunden willkommen heißen, erdreisten sich die Magdeburger Verkehrbetriebe ihre Fahrzeuge schon 19 Uhr von normaler Haltestellenanfahrhäufigkeit auf reduzierten Abendbetrieb umzustellen und somit dafür zu sorgen, daß Einkaufende nach 19 Uhr verstört und ungeduldig an den Innenstadthaltestellen warten und sich für den nächsten abendlichen Shoppingbummel vornehmen, nach 19 Uhr nicht mehr unterwegs sein zu wollen.

Daß demnach, sobald die magische 7 erreicht worden ist, das Magdeburger Zentrum aussieht, als hätten außerirdische Sonarpanzer sämtliche Lebewesen ausgelöscht und nur die vom hereinbrechenden Dunkel eingehüllten Gebäude übrig gelassen, verwundert mich nicht und läßt mich - in zunehmender Kälte auf eine nicht eintreffende Straßenbahn wartend - regelmäßig verzweifeln...

[Im Hintergrund: Otep - "Jihad"]

Alltagsweisheiten bezweifelnd

Der ewige Zweifler in mir meldet sich zu Wort, bekommt Stimme und Klang, als könnte er Neues berichten, Altes hinterfragend.

"Alles, was schiefgehen kann, geht schief."
In dieser Weise wird Murphys Gesetz genannt und interpretiert, ja hingenommen, als gäbe es keine treffendere Alltagswahrheit. Und doch findet der Zweifler in den wenigen Worten genug Grund zur Skepsis, um dieser Ausdruck verleihen zu wollen.

Meine Fantasiepotential ist begrenzt, kann sich sicherlich nicht mit den kreativen Hochgeistern unserer Zeit [oder vergangener Zeiten] messen, und doch fällt es mir leicht, jeder einzelnen Situation meines Daseins unzählige Möglichkeiten zuzuordnen, unzählige Dinge, die mißglücken, schiefgehen können. In jeder Sekunde stürmt eine Flut von Entscheidungen, von Alternativen, von Wegeskreuzungen auf uns ein, nur selten überhaupt wahrgenommen, doch voller falscher Richtungen, angefüllt mit potentiellen Katastrophen.

Mensch wäre erstaunt, was tatsächlich alles "schiefgehen" kann, beginnt er erst einmal darüber nachzudenken. Vorzugsweise jedoch stellt man nach einer Ansammlung unglücklicher Umstände fälschlicherweise fest, daß tatsächlich alles mißlang, was mißlingen konnte.

Allein die Tatsache, daß man zu einer solchen Feststellung fähig ist, daß also weder Gehirn noch Herz den Dienst verweigerten [von dem Rest des ganzen organischen und anorganischen Körperinhaltes ganz abgesehen], beweist, daß die goldene Regel keine solche sein kann.

Ein Satz ist mir im Gedächtnis, der mit Murphy oft in gleichem Atemzug genannt wird:
"Der Schlüssel ist stets dort, wo du zuletzt suchst." - Der Schlüssel dient nur als Beispiel für Allgemeineres, und doch neige ich dazu, ihn aufgreifen zu wollen.

Wenn man Minuten, Stunden, Tage mit verzweifelter Schlüsselsuche verbracht hat, wird man nicht mit seiner Suche fortfahren, sondern diese - erleichtert über den geglückten Fund - abbrechen.
Die letzte, zur Suche gehörige Tätigkeit war demnach das Auffinden. Der Schlüssel lag in der Schublade, in der Nische, in welcher man ihn am Ende seiner Suche entdeckte, befand sich demnach dort, wo zuletzt gesucht wurde.
Der obige Satz ist wahr, doch keinesfalls ein Murphy-Mysterium oder ähnliches, nur eine Folge des natürlichen Prozesses vom Suchen und Finden.

Ein letztes Beispiel, das ich schon zu oft beobachtete, um es nicht erwähnt haben zu wollen.
Der böse Lehrer droht damit, einen mündlichen Test an der Tafel zu vollziehen, aus der vielköpfigen Schülermasse ein Individuum herauszuzerren und vor den Augen aller nach Wissen und Nichtwissen zu beurteilen. Die Thematik ist eine komplizierte, niemand bereite sich vor. Dementsprechend unwillig ist die zitternde Schülerschar, von der jeder einzelne verzweifelt darauf hofft, daß er nicht der Auserwählte sein muß.

'Ich will nicht.', pulsiert es panisch in den wissensfernen Köpfen der Lernenden.
'Ich will nicht. Aber der nimmt bestimmt mich.'
Und dann erfindet die Schülerfantasie noch einen halbwegs plausiblen Grund, warum der böse, böse Lehrer ausgerechnet ihn bloßstellen wird, bekräftigt also sich selbst gegenüber, daß das bitter Los auf einen selbst fallen wird - und hofft gleichzeitig das Gegenteil.

Und dann ist es soweit. Der Lehrer ruft einen Namen auf. Erleichterung durchströmt alle, denen der Name nicht eigen ist. Jeder vergißt glücklich, daß er bis vor wenigen Augenblicken festen Glaubens war, selber an die Tafel zu müssen.

Nur der eine, der Auserwählte, vermag sich nicht zu freuen, schlurft vor zur Tafel und sagt sich immer wieder verbittert: "Ich hab’s doch gewußt, daß er mich dran nimmt."
Und er hat es wirklich gewußt - genau wie seine nun wieder ausgelassen grinsenden Mitschüler.

[Im Hintergrund: Arch Enemy - "Doomsday Machine"]

Donnerstag, 20. Oktober 2005

"Brief" - Eine Kurzgeschichte

Einst rief eine Zeitschrift zu einem Wettbewerb aus, bei dem eine in Hundert Jahren spielende Handlung verlangt war - allerdings in 200 Wörtern ausgedrückt. Das rang mir einiges an Wortkürzungsmühen ab - und führte letztendlich zu keinem Erfolg.
Das ist weniger schade, weil ich nichts gewann, sondern weil ich eine eigentlich gar nicht so schlechte Idee zu einem 200-Wort-Krüppel verstümmelte, um an dem Wettbewerb teilzunehmen.
Bevor ich aber diese Verstümmelung wieder umkehre [Keine Ahnung, ob das jemals geschehen wird.], gibt es den erfolglosen Beitrag zu lesen.


Der Versuch, die Gefahr abzuwenden, scheiterte längst. Die Evolution verwelkte auf ihrem Höhepunkt. Der Menschheit droht die Degeneration, der geistige und körperliche Zerfall.

Jahrelang suchte ich nach einem Ausweg, studierte, forschte - doch fand nichts. Nichts, außer dem Pfad, den ich nun beschreite.

Technik erleichtert jede Tat, plant voraus, spart Zeit, Mühe. Die Allgegenwart der Informationen erübrigt Wissen. Menschliches Denken setzt nur noch Impulse, machte sich selbst längst überflüssig. Kein Gedanke, kein Schritt, ohne unterstützende Maschinen. Selbstgenerierend, selbstoptmimierend, perfekt.

Als die AirBots die Atmosphäre renaturisierten, atembare Luft produzierten, schien auch die letzte Überlebenssorge der Menschheit getilgt.
Doch die Menschheit kränkelt. Ihr Dasein hat längst keine Berechtigung mehr. Was wäre ein Mensch ohne Maschinen?

Den OmniVirus zu programmieren, war simpel, ihn in das WorldNet einzuschleusen, nicht minder.

Warten.
Die ersten AirBots sind bereits befallen. Mit ihnen beginnt die Seuche, die digitale Sintflut. Der Rest wird folgen.
Bin ich Gott?

Das Maschinensterben setzt ein. Eine große Stille wird kommen. Ich weiß es, genieße die Vorahnung, suche Überlebende in ihr, Überlebende, die sich besinnen, die neu beginnen, einen richtigeren Weg einschlagen werden.

Ich bedaure, daß mir dieser Anblick verwehrt bleiben wird.

Grundsatz jedes Maschinenwesens: Diene dem Menschen.
Ich diene. Ich helfe.


ZX-VZ-114

[Im Hintergrund: The Dresden Dolls - "Coin-Operated Boy"]

Die Zukunftsferne der Gegenwart

Fortschritt und Entwicklung bestimmen unser Weltbild. Stagnation ist nicht erwünscht, ja verschrien als ungut, als gefährlich. Der stete Wunsch, sich weiterzuentwickeln, alles neu und neuer zu machen, jede Kleinigkeit zu verbessern, zu steigern, jede Minute Produkte von beeindruckender Zukunftsnähe auf den Markt zu werfen, beherrscht uns, unser Denken und Handeln. Die Technik siegt und mit ihr der Wunsch, deren Fehler und Unzulänglichkeiten zu kompensieren, auf daß alsbald ein schickeres, handlicheres Gerät mit größerem Funktionsspektrum das aktuelle ablösen möge.

Und dann wache ich auf. Eine Kreissäge kreischt auf dem Hof ihr wildes Lied. Ich erinnere mich, am Vortag die Ladung Steine gesehen zu haben, die auf der bisher brach liegenden Fläche verlegt werden soll. M hofft auf einen akzeptablen Fahrradunterschlupf; ich selbst wage nicht zu hoffen, lausche nur dem penetranten Gesang der Säge. Ein Innenhof, in dem leiseste Handy-Klingeltöne, geflüsterte Worte und sporadisches Mülltonnendeckelklappen durch mehrfach gebrochene, reflektierte Echos in jedes offene Fenster gelangen, mit penetranter Präsenz die Eigenstille stören, erscheint in meinen Augen wenig geeignet zur Position einer Stein zersägenden Maschine. Doch was wäre die Alternative?
Straßensägen mit anschließendem Steineschleppen - eine unzumutbare Bauarbeiter-Zusatzbelastung, die besser durch Mieter-Zusatzbelastung minimiert werden sollte.

Der Fortschritt durchzieht die Gefilde unseres Daseins, technisiert jeden Schritt auf unserem Lebensweg. Doch es gibt Bereiche, die ausgespart werden, Bereiche, in denen der Versuch, zukunftsoptimierende Maßnahmen einzuleiten, nur begrenzt möglich ist. Auf dem Hof arbeitet der Bauarbeiter, und ich finde in ihm das beste Beispiel, in ihm und seinem Versuch, eine leere Fläche zu pflastern.

Ja, ich gebe zu, daß die Industrie ihr Scherflein dazu beitrug, die Gegenwart einkehren zu lassen, indem sie genormte Pflastersteine erfand, die allesamt gleich groß, gleich schwer und vor allem ineinander passend produziert werden. Ich gebe zu, daß vor Unzeiten mangels Strom auch die kreisende Säge ihren schrecklichen Gesang nicht verbreiten, ihre pflastersteinschneidendes Tun nicht praktizieren konnte. Doch damals, ich präzisiere meine Zeitangabe nicht näher, nutzte man einfach kleinere Steine - oder verzichtete schlichtweg darauf, Linienpräzision walten zu lassen.

Heute funktioniert das nicht mehr. Die genormten Standardsteine müssen verwendet werden, und sei es durch nervtötendes Zusägen. Doch betrachte ich die Arbeit des Bauarbeiters, so frage ich mich, inwieweit sie Gegenwartbezug gewonnen und ihre klassischen Vorfahren ersetzt hat. Denn nachdem ein modernes Fuhrwerk eine Ladung Steine vor die Haustür brachte, mußte der Bauarbeiter diese zunächst verlagernd auf den Innenhof kutschieren, um dann zu pausieren und anschließend damit zu beginnen, die Steine einzeln und paßgenau zu verlegen. Jeder Stein mußte angehoben getragen, vorsichtig niedergelassen, und präzise eingepaßt werden. Der Abschluß bildete stets - wie vielleicht schon unter Herrn Cäsar - eine vorsichtige Hammerbenutzung, um den Stein an seiner Position zu verfestigen.
Und schon wartete der nächste Stein und mit ihm der gleiche monotone Ablauf darauf, unzählige Male wiederholt zu werden.

Ich bin jedesmal beeindruckt, wenn ich Straßenpflasterer beobachten darf, wenn ich sehe, welche Straßenstücke sie nach stundenlanger Arbeit mit ihrem Werk versehen haben, wenn ich begreife, daß die römische Sklaven wohl ähnlichen Diensten, mit ähnlichen Werkzeugen agiert haben müssen [allerdings ohne deren heutige, ergonomisch geformte Griffe].

Das Asphaltieren und Teeren, das flächendeckende Betonieren, stellt in der Gegenwart insbesondere für Gehwege keine annehmbare Alternative dar - und selbst diese Arbeit ist bereits Jahrzehnte alt und längst nicht in der Gegenwart angekommen, obgleich stylisch designte Maschinen das Gegenteil zu behaupten versuchen.

Und immer wieder entdecke ich andere Bereiche unserer Existenz, deren Vergangenheitsähnlichkeiten mich überraschen, mich fragen lassen, ob die an dieser Stelle fehlende oder nur lückenhaft vorhandene, zukunftsnahe Gegenwart nun ein gutes oder schlechtes Zeichen darstellt, ob ich mich darüber freuen sollte, Altes bewahrt zu finden oder angesichts der fehlenden Neuerungen traurig mit dem Kopf schütteln sollte...

[Im Hintergrund: My Dying Bride - "The Forever People"]

Samstag, 15. Oktober 2005

Ansteckungsgefahr

Ich muß es zugeben, auch wenn die Gefahr besteht, mich als un-individuell darzustellen [was eigentlich nicht funktionieren dürfte, da wir ja bekanntlich alle Individuen sind...], daß ich es liebe, Musik-Kritiken zu lesen, die sich auf kürzlich erschienene Alben beziehen.

Das Genre ist dabei - erstaunlicherweise - relativ egal, denn was ich suche, geht tiefer. Mich durch Wortschwülste wühlend sehne ich mich nach dem Feuer der Begeisterung, sehne ich mich danach zu spüren, daß der Rezensionsautor dem erscheinenden oder erschienenen Werk huldigt, es nicht nur schlicht gutheißt, sondern liebt, verehrt, Elemente daraus aufzählt, die ihn fesseln - und die womöglich imstande sind, auch mich zu fesseln.

Denn ich bin mir nicht zu schade, auch in mir eigentlich unlieben Genres nach Interpreten und Stücken zu kramen, die irgendwen mit Begeisterung bestückt haben, folge schnüffelnd der Spur innerer Euphorie, bis ich zu dem Punkt gelange, an dem ich diese bestätigen kann oder schulterzuckend als fremde, unerreichbar abhaken muß.

Doch leider gibt es viel zu viele unglaublich schlechte Musikkritiker, viel zu viele unglaublich schlechte Musikkritiken, angefangen von den fünfzeiligen Beurteilungen im regionalen Veranstaltungsmagazin über die musikalisch oft eingleisig berichtenden Spiegel-Online-Redakteure bis hin zu speziellen, eigentlich für meinen Geschmack ausgelegten Zeitschriften, in denen nicht nahegebracht werden kann, inwieweit das Album oder die Band zu bewerten ist.

Ich mag es nicht, wenn Menschen, denen bestimmte Musikrichtungen fremd sind, sich hinsetzen und Erscheinungen in dieser Kategorie mit einem Verriß bestücken. Noch weniger mag ich es allerdings, wenn die Schreibenden so tief in der Materie stecken, daß ich als Nahezu-Außenstehender nicht zu begreifen vermag, wovon die Rede ist.

Dergleichen finde ich häufig bei SpOn: Jan Wigger und seine Helfer beurteilen "Die wichtigsten CDs der Woche", und ich freue mich jedesmal, wenn ich immerhin eine oder zwei Bandnamen schon einmal in meiner Gegenwart erwähnt hörte.

Doch die Spezialisierung könnte ich noch akzeptieren, wäre da nicht der schreckliche, verallgemeinernde Schreibstil, der mich stets mit Verdruß füllt. Das "man" ist überall anzutreffen, als wären alle Lesenden eine große, ausschließlich guter [natürlich: "gut" auf SpOn-Weise] Musik lauschende Einheit. Dergleichen findet sich wieder, wenn von "wir" die Rede ist, von einer gemeinsamen Vergangenheit, die wir ja alle teilen - die allerdings Jahre vor meiner eigenen, persönlichen liegt -, von gemeinsamen Erfahrungen, die ich - vielleicht aufgrund meiner Ostblockwohnhaftigkeit, vielleicht wegen meines Alters, vielleicht aufgrund meiner "Szene"-Unkenntnis - niemals erlebte.

Ich mag es nicht, von mir unbekannten Bands zu lesen und Vergleiche zu zahlreichen anderen mir Unbekannten zu finden - ohne daß auch nur mit einem Wort erwähnt wird, um welchen Musikstil es sich dreht. Derlei verfährt auch gerne das Projekt 7, eine Magdeburger "Independent"-Tanz- und Konzertlokalität in ihren ankündigenden Flyertexten.

Ja, man könnte google bemühen oder sich mit dem räudigen realmedia-Format rumärgern, das amazon als Musik-Vorschau nutzt. Doch einfacher wäre es, zumindest zu erwähnen, in welche Richtung das Musikalische einzuordnen ist.

Derlei erlebe ich auch in mich interessierenden Musikmagazinen. Bei Bands, deren Diskographie mehr als drei Alben umfaßt, wird kaum noch auf die Musik und Inhalte Bezug genommen [weil das ja in der von mir nicht erlebten Vergangenheit genug getan wurde], sondern lieber Vergleichendes aufgeführt, um abzuschätzen, ob sich das neue Werk mit den Vorgängern messen kann.

Und doch verfalle ich immer wieder meiner Sucht: Entdecke ich eine begeisterte Bewertung, beschäftige ich mich mit dem Text und baue zugleich in mir den Wunsch auf, zumindest mal hineingehört zu haben in das, was jemandem anderes so viel Begeisterung vermacht hatte.

Zuweilen bin ich gefesselt, gefangen von der fremden Freude, lasse mich von ihr anstecken, lausche den Klängen, beeinflußt durch uneigenes Denken, und vermag Ähnliches zu empfinden, vielleicht sogar kurzschlußartig meinen CD-Bestand durch einen Spontankauf zu erweitern.

Allerdings sei eingestanden, daß es nicht einfach ist, mich in diesen Maßen zu begeistern. Zumeist verebbt der Fanatismus beim Reinhören, und enttäuscht stelle ich die CD ins Regal zurück. Enttäuscht nicht, weil ich schlechten Klängen lauschte, die nicht weil ich einer falschen Hoffnung aufsaß, sondern einzig und allein, weil ich nicht imstande bin, die fremde Begeisterung zu meiner eigenen zu wandeln.

Doch es geschah bereits, und es befinden sich einige Stücke in meiner Sammlung, die ich fremden Worten verdanke und die noch heute ein Flackern in meinen Augen entfesseln.
Und so lese ich weiter, lausche fremden Mündern, versuche mich zu öffnen, sauge Wissen in mich auf, vernehme neue Namen, die vielleicht alsbald auch aus meinem Munde begeistert erklingen werden.

[Im Hintergrund: Dimmu Borgir - "Blessings Upon The Throne Of Tyranny"]

Die Theorie von der nötigen Voraussetzung

Immer wieder erstaunlich für mich ist festzustellen, daß das Herunterfahren meines Rechners exakt so viel Zeit benötigt, wie ich brauche, um
- Monitor und Anlage auszuschalten
- aufzustehen
- einen Schritt ins Zimmer zu machen
- zurückzublicken
- mich zu wundern, warum der Rechner immer noch Arbeitsgeräusche von sich gibt
- den Monitor wieder anzuschalten
- darauf zu warten, daß sich allmählich das Bild einstellt
- und in dem Moment, in dem die Monitorschwärze einem sichtbaren Bild weicht, zu vernehmen, daß der Rechner aufgehört hat rumzulärmen und nun endgültig aus ist.

Das läßt die Theorie aufkommen, daß der Rechner erst dann komplett herunterfährt, wenn ich mich dazu bequeme nachzuschauen, warum er noch immer läuft.

Diese Theorie bestätigt sich durch ein anderes Erlebnis, bei dem mein Mitbewohner und ich vor der Mensa auf seine Freundin warteten. 13 Uhr sollte sie eintreffen, und mittlerweile war es zehn Minuten danach.
"Normalerweise würde ich jetzt reingehen.", meinte mein Mitbewohner. "Jedoch kann ich drauf wetten, daß sie genau dann hier eintrifft, wenn wir in der Mensa verschwunden sind. Also warten wir noch zwei Minuten."

Das erschien mir logisch, und ich willigte ein. Wir blickten aus dem Fenster, so daß wir den Mensavorplatz gut überschauen und ihre Ankunft frühzeitig bemerken konnten.
Doch sie kam nicht. Die zwei Minuten verstrichen, und auch in der Ferne war nichts von ihr auszumachen.

"Sie kommt erst, wenn wir in die Mensa gehen.", überlegte ich laut."Wahrscheinlich ist unser Betreten der Mensa sogar Voraussetzung für ihr Erscheinen."

Mein Mitbewohner schaute mich erstaunt an, als wäre ich fremden Welten entsprungen, blickte noch einmal kurz und ergebnislos nach draußen, zuckte mit den Shcultern und deutete mir, die Mensa zu betreten.

Es war voll, die Warteschlange lang. Und in dem Moment, da wir uns einreihten, stieß die Freundin meines Mitbewohners zu uns, begrüßte uns freudig. Die Augen meines Mitbewohners wurden groß vor Verwunderung.

"Sag ich ja.", grinste ich ihn an.

[Im Hintergrund: Janus - "Die Welt Steht Kopf"]

Samstag, 8. Oktober 2005

Blütentische und ein lesender Käfer

Dieser Raum blüht.

Als ich ihn betrete, umschwirren mich Menschen wie Bienen, Tausend kleine Flügelwesen, mich bemerkend, ignorierend, ihrer Wege ziehend, mit sanftem Gebrumm die Stille füllend. Summend verharren sie an der einzigen Quelle, hocken hektisch wuselnd auf reinen, weißen Blütenblättern, andere berührend, flüchtigen Kontakt zu ihnen suchend, als müßten sie sich der gegenseitigen Anwesenheit versichern. Doch sie sind hier, agieren majestätisch, königlich, als gehörte ihnen jede Blüte, jeder freie Platz in diesem Raum, als wüßten sie, was geschehen wird.

Ihr Brummen wirkt vertraut und fremd zugleich, wirkt so sicher, sich ihrer selbst, ihres Wollens bewußt, und einen fragenschweren Augenblick später wird mir klar, warum. Sie sind nicht allein, niemals ist eine von ihnen allein. In Gruppen schwirren sie zwischen den Blüten hindurch, nehmen auf ihnen Platz, unzertrennliche Einheiten bildend, durch eigene Brummlaute, eigenartiges Gebaren, eigens besetzte Blüten, abgesteckte Territorien, bestätigt und von anderen emsig umherhuschenden Bienengrüppchen abgesondert.

Ich bin allein, ein träger Käfer, dessen durchscheinendes Flügelkleid nach hektischem Flug, nach dem wahnwitzigen Versuch, die verstrichene, hinfort eilende Zeit zu überholen, noch immer zittert, nicht zur Ruhe kommt, ein Flatterbrummen verursacht, das mir die Fühler, die winzigen Gliedmaßen beben läßt. Für einen Moment verharre ich im dämmrigen Eingangsbereich, überschaue mit Facettenblicken die wimmelnde Bienenmasse auf der Blütenwiese, ihr Hocken und Starren, ihr Summen, das zuweilen einem Lachen gleicht, das perfekte Goldschwarz ihrer abendlichen Gewandung, das mich schwarzen Käfer grinsen läßt. Mein schwarzer Chitinpanzer glänzt gülden im matten Kunstlicht und erweckt immer wieder den zarten Eindruck, ich wäre ein passender Teil, zumindest jedoch nicht verkehrt, kein wirklich Fremder im hellen Blütenmeer.

In klitzekleinen Trappelschritten bewege ich mich zur Quelle, finde einen Tropfen klaren Wassers, trage ihn zu einer freien Blüte am unbeleuchteten Rand, erklimme den Stengel und lasse mich auf dem weißen Blütenblatt nieder. Der Tisch ist leer, und ich bemühe mich, meinen starren Leib - eine angemessene Bequemlichkeit suchend - auf dem Blütenblatt zu verteilen, ohne jedoch allzu sehr aus der Rolle des Bienenfreunds zu fallen, ohne die innere Fremdheit allzu sehr nach außen zu kehren. Ich lächle, freue mich über die Sicht, von den restlichen Blütentischen unbeeindruckt, auf das knorrige Stück Holz, das in nicht allzu großer Ferne darauf wartet, mit einem Lesenden bepflanzt zu werden.

Noch immer flirrt mein Flügelkleid, vermochte nicht völlig, die eigentlich zurückgelassene Ankunftshektik abzustreifen, am garderobierten Eingang abzugeben, surrt leise, als wünschte es Ablenkung, einen stillen Moment im Inneren meiner Gedanken. Ich suche, doch das stiftlose Sortieren alter Kassenzettel vermag die stille Unerträglichkeit des auf die Hektik folgenden Wartens nicht zu besänftigen.

Die Bienen schwirren weiter, ihre reservierten Blütenblätter findend, die fetten und weniger fetten Wänste darauf niederlassend, als wäre es das ihnen angeborene Recht. Ein Bienenwesen kommt herbeigesurrt, blickt mir aus Tausend Facetten eine Frage in den Kopf, die ich mit einem gemütlichem Zangenklappern beantworte, als hätte ich eine andere Wahl. Die Biene dankt - und entreißt meiner Blüte ein glitzerweißes Blatt, trägt es behende zu einer anderen Blüte, wo es wenig kunstvoll hinzugefügt wird. Sie will bei den ihren hocken, läßt sich nieder, die gesellige Rune mit imposant wackelnden Fühlern begrüßend. Ich beobachte das Schauspiel, bemerke beeindruckt wie das eigentlich weibliche Wesen mit übermännlichem Verhalten, mit Bier, Zigarette und rauhem Gebrumm dem Blütenmittelpunkt zu erheischen sucht, wende mich ab, meinem Wassertropfen zu, der in der Blütenmitte, im Kelch, schwebt, als wäre er köstlichster Nektar, harrend des mir zu bereitenden Genusses. Ich lächle, vergesse die Bienen, die fehlende Beschäftigung, die leise zitternden Flügelchen, und beobachte voll Wonne das Perlen winzigster Bläschen, die in seinem Inneren gefangen ein winziges Eigenleben zu entfalten versuchen.

Wieder und wieder rüttelt mich das aufdringliche Gebrumm einer Biene aus meinen faszinierten Träumereien, wuselt um mich, um alle Tische herum, zupft Blütenblätter, um sie an anderer Stelle einzufügen, befühlt unzählige Bekannte und Freunde mit absurd langen Fühlern, flitzt mit auf dürren Gliedmaßen durch den Raum, als wäre sie von besonderer Wichtigkeit, als wäre sie der ungekrönte König des Schwarms. Und mit jedem Vorbeigleiten sinkt mein Wille, mein Wunsch, sinkt die Bereitschaft, auf dieser Wiese, auf diesem Blütenblatt, verweilen zu wollen, befürchte ich doch für einen Moment, in ihm, dem ruhelosen Unsympath, den künftig Lesenden entdeckt zu haben. Doch der Eintritt ist gezahlt, riß ein kleines, aber bemerkbares Loch in meinen Panzer, dem zugute ich abzuwarten bereit, dem Lesenden eine Chance zu geben gewillt bin.

Noch zwei weitere Male kreist eine Fremdbiene in meine Nähe, um mit dem typischen Fragenblick ihren Facettenwunsch in meinem Schädel zu drängen, um ein bestätigendes Zangenklappern zu erhalten und voll Wonne meiner nur noch karg bestückten Blüte ein weiteres Blütenblatt auszureißen. Letztlich bin ich allein - ich freue mich heimlich darüber, hatte ich doch an diesem Abend nichts anderes ersehnt, sitzend auf dem letzten Blütenblatt, mit verblassender Ungeduld das Kommende erwartend.

Die Wichtig-Biene hockt sich vor das Holz, lenkt mit lautem Summen die ungeteilte Aufmerksamkeit auf sich, läßt das allgemeinen Gesummbrummsel verstummen, leitet den Abend ein. Ich atme auf, koste erleichtert vom köstlichen Naß meines Tropfens, lasse die lebenslaufigen Leierworte des Einleiters über mich ergehen wie einen nicht ersehnten Regentag und erwarte - wieder einmal unmerkbar lächelnd - freudig die Ankunft des eigentlichen Lesers.

Und tatsächlich, dort sitzt er schon, Bernd Lichtenberg, ein kuschliger Käfer, der sich auf dem morschen Holz, im Mittelpunkt Tausender Augen, nicht recht wohl zu fühlen scheint, der sich leise bedankt und zu lesen beginnt.

Ich lausche, bin entzückt. Kleine Geschichte dringen an mein Ohr, liebevoll erzählt, zugleich ein inneres Lachen und tieferes Hinterhersinnen fordernd, Geschichten, die nach weitern fordern, das Lauschen zu einem leisen Genuß ausarten lassen. Selbst die Bienen verstummten, schweigen, hören zu. Nur hin und wieder kehrt eine von ihnen das innere Lachen nach außen, stört meine empfindlichen Sinne. Doch ich beruhige mich wieder, lasse mich auch vom Ärger über störende Forteilende nicht erfassen und versinke in kleinen Welten, die heil und beschädigt zugleich sind, die mir gefallen und mich feststellen lassen, daß diese Art und Weise, den Abend zu füllen, die richtige war.

Als der Käfer endet, knattern wir erfreut mit den Flügeln. Abwartend, fast bescheiden, sitzt der Lesende auf seinem Holz, will fliehen, sobald das Geräusch verklang, sobald der wichtige Ein- und Ausleiter wieder zum Vorschein tritt. Doch dieser läßt ihn nicht, schickt ihn auf sein Holz zurück, fordert ein Gespräch, einen Autor-Leser/Hörer-Dialog, den keine Biene - und auch ich nicht - mit Begeisterung zu beginnen bereit ist. Und so stellt die Wichtig-Biene die erste Frage, die Motivation betreffend, Hintergrunde erfragend, die mich nicht interessieren, befürchten lassen, die kleinen Geschichtchen in meinem Käferkopf mit unangenehmem Nachgeschmack zu bekleistern. Ich sauge den letzten Tropfenrest auf dem Blütenkelch und sirre vergnügt von dannen, argwöhnisch glotzende Bienen hinter mich lassend, hinaus in die kühlschwarze Nachtluft, in die ich mich erhebe, zwischen Blättern und Ästen hindurch fliege, als wäre der Himmel allein mein.

Und Fragen drängen sich in meinen Kopf, quellen vielleicht aus dem Gehörten, vielleicht aber auch aus der inneren Ruhe, der Gewißheit, gesellschaftslos angenehme Stunden verbracht zu haben, Fragen, mich und meine Wollen, mein Streben betreffend, Fragen, die ich mir nie zu stellen, nie zu beantworten wagte, Fragen, die zu formulieren ich nicht länger aufschieben sollte, Fragen, die mich begreifen lassen, an einem Wendepunkt zu stehen, mitten in der Luft, Fragen, die mich bewegen und in mir den Wunsch entfachen, öfter innezuhalten und genau solche Fragen in meinen eigenen Schädel zu werfen.

Ich lächle, als ich heimkehre und unter trockenen Birkenblättern meine Träume begrüße.

Freitag, 7. Oktober 2005

Ja.

Tokio Hotel [und das schreibe ich nicht, um unzählige Klicks auf meinen Weblog zu bekommen, sondern um Umständlichkeiten {Nein, ich stottee nicht.} wie "Ich-nenn-sie-jetztmal-gewitzt-'Peking-Jugendherberge'." zu vermeiden] sollen in irgendeinem albernen Blatt [Es soll ein Sonderheft der Bravo gewesen sein. Aber eigentlich ist es mir egal.] sich unfreundlich über Magdeburg und speziell dessen [deren? ihre? seine? meine?] Innenstadt geäußert haben, unter anderem mal wieder erwähnend, daß hier "nichts los" sei. Das schlug natürlich Wellen in regionalen Wurstblättern und lokalen Foren, berührte mich allerdings überhaupt nicht.

Mir fällt diese Aussage eigentlich nur ein, weil mir heute eindeutig zu viel los ist. Leider hat man spätestens in der Oberstufe eingetrichtert bekommen, daß frei- und samstägliche Abende gefälligst mit Amüsement zu füllen seien und keineswegsunterkeinenUmständenaufgarkeinenFall allein zu Hause verbracht werden dürfen.

Allerdings ist mir gerade durchaus nach Allein-zu-Hause-verweilen und Gedanken-treiben-lassen, nach Ab-und-an-ein-gutes-Buch-vor-die-Nase-führen, nach Leckere-Kleinigkeiten-in-mein-Gesicht-stopfen und nach Mich-darüber-freuen-daß-die-hintergründliche-[Hat nichts mit "gründlich" zu tun, soll aber auch nichts mit "hintergründig" zu tun haben, weil man das falsch verstehen könnte aber nicht soll.]-Beschallung-so-wundertoll-ist.

Doch meiner guten Erziehung entsprechend wurmt es mich, daß ich den heutigen, freitäglichen Abend zu Hause verbringen soll/muß/will, weil es doch angeblich nichts Öderes, Unspannenderes, Unspektakuläteres, Langweiligeres, ... [tbc. {Das soll "to be continued", nicht "Tuberkulose" heißen.}] gibt, als das zu tun, was ich zu tun gedenke.

Also suche ich nach Alternativen, erinnere mich an die alberne Aussage der nicht minder albernen Musikgruppe mit dem noch alberneren Asien-Bezug und würde ihr [der Aussage, nicht der Sängerin, die keine ist] am liebsten recht geben, wäre da nicht die Wahrheit, die anders aussieht und mir ohne nachzudenken eine Handvoll Möglichkeiten in den Kopf spült, von denen ich am liebsten keine wahrnehmen würde und glücklicherweise auch schon ein paar verpaßte.

Leider existieren in dieser wunderschönen Stadt [aus der übrigens die Musikformation stammt, die nicht sich nicht Peking-Jugendherberge nennt] Opportunitäten [was für ein bescheuertes "Möglichkeit"-Synonym] in großer Zahl, und leider gefallen mir auch einige davon, was insofern mit "leider" betitelt werden muß, als daß mir heute ausnahmsweise homophob zumute ist, weswegen ich also für humanoide Gesellschaft oder für mich umwirbelnde Menschenmassen nur wenig Freude aufzubringen bereit bin.

Was nun? frage ich mich und zeige dem Spiegelbild das ausweglose Dilemma. Das gemeinschaftliche Bowlen habe ich genauso verpaßt [absichtlich] wie das sicherlich amüsante Improvisationstheaterfestivalchen [ebenfalls absichtlich]. Spätabendliche Gestaltungsmöglichkeiten bieten sich auch an, liegen aber in zeitlicher Ferne [und stoßen auf erwähntes Menschenmißfallen].

Doch eine Lesung findet statt, beginnt erst in 45 Minuten, lädt mich förmlich zur Anteilnahme ein, insbesondere weil mir durchaus der Sinn nach einer solchen steht.

Vielleicht sollte ich also Tokio Hotel ebenso vergessen wie mein Vorhaben, allein heimatlichen Gefilden zu frönen und mich statt dessen auf die Socken, bei denen es sich allerdings um Strümpfe handelt, machen.

Ja.

Mittwoch, 5. Oktober 2005

Das Brillengeheimnis

Musikfestivals bringen es für gewöhnlich mit sich, daß nicht nur die hygienischen Grundbedürfnisse leiden müssen, sondern auch die eigene, äußere Ästhetik. In einer Gruppe hunderter, tausender Leute, die allesamt mit mehrtägiger Duschwasserknappheit und Spiegelabwesenheit bepflastert sind, bildet man jedoch derart keine Ausnahme, darf sich also ungepflegt, unrasiert, ungeschminkt, ungekämmt und mit verdreckten Klamotten noch immer wohl und als Teil der Gesellschaft fühlen.

Sicherlich gibt es jene, die sich bemühen, die wenigen zur Verfügung stehenden Dusch- und Waschmöglichkeiten nach bester Verfügbarkeit zu prüfen und dementsprechend zu nutzen; sicherlich gibt es auch - insbesondere auf gothisch angehauchten Veranstaltungen - zahlreiche Spiegelmitnehmer, Frisurherrichter und Schminkköfferchen-Nutzer, doch gehöre ich nicht wirklich zu ihnen, versuche, bei Festivals aufwandsminimal gut auszusehen. Das fällt nicht weiter schwer, sorgt doch schon ein täglicher Wäschewechsel in Kombination mit einem nicht vernachlässigbaren Waschbeckenminimalkontakt für annehmbares Eigen- und Fremdwohlbefinden.

Was jedoch in Abwesenheit von fließendem, Hände reinigendem Wasser und selbstbildreflektierenden Oberflächen zur Schwierigkeit ausartet, ist der Versuch, normalerweise durch Gläser beseitigte Blindheit mittels Kontaktlinsen auszugleichen, also die Brille durch unsichtbare Plastikscheibchen zu ersetzen. Tatsächlich bin ich mir, Handspiegelmitnahme und eigentlich unnötige, da nur äußerlich bemerkbare Mühen vermeidend, dazu übergegangen, auf Festivals meine durchaus liebgewonnene Brille auf meiner Nase belassen zu wollen und die Existenz von Kontaktlinsen weitestgehend zu ignorieren.


Das ist insofern von Vorteil, als daß ich dadurch mich mehr wie ich selbst fühle und auch keine Rücksicht auf verstrichene Stundenfristen, nach denen die Augeneinsätze zu entfernen sind, oder auf deren möglichen Verlust durch müdigkeitsbedingtes Augenreiben nehmen muß. Mit der Brille auf der Nase besuche ich also Konzert für Konzert, lausche beglückt, begeistert oder desinteressiert den von der Bühne erschallenden Klängen und freue mich über die gute Sicht, die mir mein Sehfehlerkompensator [den ich niemals als "Nasenfahrrad" bezeichnen würde] ermöglicht.

Und dann vernehme ich Gitarren, laut und heftig, zu heftigstem Haareschütteln, zu zwanglosem Ausrasten verleitend. My Dying Bride befüllen die Bühne und werten das Wave-Gotik-Treffen für mich merklich auf. Die Gitarre ruckt und zuckt und mit ihr, im Takt, mein Fuß, mein Leib, mein Haupt.

Doch wohin, frage ich mich nicht zum ersten Mal, mit der Brille, wohin mit dem albernem, lästigen Drahtgestell? Meine Taschen sind zu klein, zu eng, als daß ich nicht befürchten müßte, die in ihnen verwahrte Brille bei der nächsten Bewegung deformierenden Drücken auszusetzen und so nachhaltige, plastische Schäden zu erwirken.

Aber der Schädel will geschüttelt werden, weigert sich, zu derart mitreißenden Klängen starr in der Luft zu verharren. Schon beginnt ein neuer Song, ein Wahnsinnstück vom aktuellen Album, das ich längst zu meiner derzeitigen Lieblingskomposition dieser Band deklariert hatte. 'So soll es sein', rüttle ich mich auf, reiße mir die Brille aus dem Gesicht, falte deren Bügel zusammen, halte sie fest, doch nicht zu sehr, in meiner Hand, schützend vor Äußerem, das zum Sehen Notwendige stetig befühlend, mit Eigenschweiß verschmutzend, doch nahe wissend, unversehrt.

'Ja!', kreischen meine Gedanken freudig erregt, kennen den Text, legen ihn mir auf die Lippen, während sich mein Kopf schon eingeschwungen hat zum fordernden Takt der metallischen Klänge. Meine Haare schweben an mir vorbei, rechts, links, rechts, links, die Musik dröhnt in meinen Ohren, und euphorisch widme ich mich meinen Bewegungen, lege alle Wucht, alle Kraft hinein, die ich zu geben bereit bin, lasse mich fallen, lasse mich los, vergesse alles, die Menschen um mich herum, die Enge inmitten der Masse, die Unfähigkeit, ohne Brille die Bühne zu erkennen, treibe zuckend hinfort, löse mich auf in der hämmernden Gitarrenwucht.

Das Lied klingt aus, und ich sehe auf, platziere die Brille wieder in meinem Gesicht, um erkennen zu können, was vorn geschieht, dort, wo meine Helden des Augenblicks ihre Instrumente [und auch die Stimme des Sängers zähle ich als ein solches] zu Besserem, lautrerem, Schönerem, Bewegenderem treiben. Der Sänger umkrallt das Mikrophon, flüstert einige Zeilen in die gespannte Stille des Publikums, schließt die Augen, läßt sich gehen. Und dann setzen die Gitarren wieder ein, der Baß gesellt sich dazu, vom Schlagzeug nach vorn gejagt. Die Stimme wird zum Gekreisch, preßt sich wütend, schmerzvoll durch den Äther findet mich, der längst schon wieder die Brille abnahm und sich den Takten hingibt.

Neben mir bewegt sich ein Mädel, schüttelt ebenso wie ich ihr Haupthaar, läßt sich gefallen, was auch mir gefällt. Ich kann sie kaum erkennen, meine eigene Blindheit versperrt mir die Sicht, lähmt meine Augen, doch schürt die Neugier, läßt mich aufrichten, hinüberblicken, die Brille auf die Nase kleben, wie ein Ertrinkender, den es nach festen Formen, klaren Konturen, dürstet. Ich sehe sie an und lächle, denn mir gefällt, was ich sehe, wie sich ihr langes Haar im Takt verliert, wie geschmeidig sich ihr Leib im Einklang mit den dröhnenden Klängen bewegt.

Als auch sie sich aufrichtet, lächle ich weiter, denn plötzlich zaubert sie eine Brille hervor, setzt sie vorsichtig in ihr Antlitz, lächelt mir zurück, als hätten wir uns gefunden unter all jenen, die diese kleine Sorge nicht teilen, als wüßten nur wir, was es bedeutet, zwischen Stillstand und Blindheit entscheiden zu müssen, als formte das gemeinsame Geheimnis ein glitzerndes Band, das zaghaft in den schwermütigen Klängen zu wehen beginnt.

Das Lächeln nicht loslassend raube ich mir die Sicht, senke meinen Kopf erneut, um My Dying Bride mit wehendem Haar zu begegnen, um mich darin zu verlieben, wie das eigene Haar wirre, taktgeformte Zeichen in die klangschwere Luft malt.

Und wieder und wieder halte ich inne, um verstohlen zu ihr hinüberzusehen, um mich des Bandes zu vergewissern, das zwischen uns bebte, um sie die Brille ab- und aufsetzen zu sehen, sie in ihrer Hingabe zu beobachten, ihr zuzulächeln, als bedürfe es keiner Worte. Sie lächelt zurück, sobald sie mich sieht, steigert den musikalischen Genuß mit der ungesagten Verlockung greifbaren Möglichkeiten.

Al die letzten Takte verstummen, die Musiker nach wiederholten Zugaben die Bühne verlassen, als die wuchtgeschwängerte Publikumseuphorie sich in ein blindes Wuseln verwandelt, jeder einen Weg, einen Freund, ein Gesicht oder nur einen Platz zum Sitzen sucht, schenke ich mir das Sehen zurück, bleibe stehen, als könnte ich die Zeit anhalten, und blicke zu ihr.

'Was nun?', frage ich, doch zwei Mädel entreißen mir eine Antwort, finden ihre Freundin, die bis eben anmutig ihre Haare wirbeln ließ, reißen sie mit sich in die Menge. Die Brille wieder im Gesicht wissend dreht sie sich noch einmal um, sieht zurück, schenkt mir einen letzten Blick, bevor sie von den schwarzgewandeten Massen verschluckt wird.

Ich bleibe zurück, lausche dem Nachhall des Erlebten in meinen Ohren, finde das Lächeln auf meinem Gesicht und vermag nicht zwischen Wonne und Bedauern zu entscheiden.

[Im Hintergrund: My Dying Bride - "Like Gods of the Sun"]

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