Wortwelten

Donnerstag, 14. April 2005

Deutsch ist...

... als Fußgänger an einer roten Ampel zu warten, obgleich weit und breit weder ein Auto noch ein Kind [dem man ein schlechtes Vorbild sein könnte] zu sehen ist.
Das zumindest behauptet das übliche Klischee.

Gestern jedoch erlebte ich etwas, das in die gleiche staubige Schublade paßt und mir gewisse Verwunderung verschaffte:

Ich saß mit zwei Freundinnen im Kino. 15-Uhr-Vorstellungen haben die Angewohnheit, nicht unbedingt mit unüberschaubaren Scharen filmfreudigem Publikums vollgestopft zu sein. Kurz: Der Saal war verhältnismäßig leer, außer uns befanden sich in ihm vielleicht zehn, fünfzehn Leute, die meisten davon Kinder. Es hätten aber noch bestimmt zwehundert reingepaßt. Oder mehr.
Wir waren zu früh, lümmelten uns in den rotplüschigen Kinosesseln herum, futterten Popcorn und unterhielten uns unpassenderweise über riesengroße Männerpuller. Nebenbei beobachteten wir die Umgebung.

Die meisten Hereinkommenden agierten ähnlich wie wir, bemerkten den Kinosaal und dessen Leere und plazierten sich irgendwo, von wo sie glaubten, gut sehen zu können - ohne die riesengroßen Goldletter "LOGE" auf den Lehnen überhaupt eines Blickes zu würdigen.

Dann jedoch trat eine Omi ein, ihr Enkelkind wie ein an der Leine geführtes Spielzeug hinter sich her ziehend, ja fast schleifend. Sie ging nach oben, und wieder hinab, holte ihre Eintrittskarte heraus, warf einen unsicheren Blick darauf [Brille vergessen?], wählte eine Reihe im Logenbereich aus, suchte die Sitzplatznumerierungen ab, entfernte sich wieder aus der Reihe, nahm die nächste.

So ging das eine Weile. Der kleine Junge ließ sich das Herumgezerre wortlos gefallen. Die Omi jedoch wollte sich partout nicht setzen, gab sich nicht zufrieden, schaute immer wieder auf die Sitzplatzbezeichnung ihrer Eintrittskarten, suchte, doch fand nicht.

"Setzen Sie sich doch einfach irgendwohin.", sagte A freundlich.
Sie schaute auf, antworte nicht, suchte weiter, betrat irgendeine Reihe hinter uns.

Das Lichtg ging aus, und während die lästigen und kinderuntauglichen Werbespots auf der Leinwand herumflimmerten, fragte ich mich, ob die Omi und ihr Engkelkind denn mittlerweile säßen und wie normal es ist, in einem leeren Kinosaal eintrittskartenorientiert nach dem "richtigen" Sitzplatz zu suchen.

Ist das typisch deutsch?, wunderte ich mich.
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89

Der gestrige Vormittag gehörte der 89.

Besser: Dem Jahr 1989. Schließlich versuchte ständig das bereits 16 Jahre Zurückliegende mit schwacher Stimme seine Existenz in meinem Kopf zu behaupten, mit diversen Zeichen auf sich aufmerksam zu machen. Was war 1989? Ja, sicherlich, die Wende. Doch ich war acht und wenig am politischen Geschehen interessiert.

1989 war ich in der zweiten Klasse und wechselte in die dritte. Das war ein enormer Einschnitt in meinem Dasein, hatte ich mich doch dazu entschlossen, eine Russischschule zu besuchen, in der ab der dritten Klasse Russisch gelehrt werden würde. Tatsächlich waren derartige Russischschüler damals etwas Besonderes, und ich war stolz darauf, die Schule wechseln zu dürfen.
Naja, der Wechsel war nicht immens; schließlich befand sich die Russischschule N.K. Krupskaja direkt neben meiner alten. Trotzdem kam ich in eine neue Klasse, kannte nur ein einziges Mädchen und konnte dieses noch nicht einmal sonderlich leiden.

Wesentlich bedeutsamer aber ist vielleicht das Ereignis am letzten bzw vorletzten Schultag der zweiten Klasse. Denn am Nachmittag des vorletzten Schultages war es endlich soweit, auch wenn ich nicht sagen konnte, davon begeistert gewesen zu sein: Ich sollte eine Brille bekommen.
Das klingt wenig bedeutsam, war es aber. Zum einen, weil ich an jenem vorletzten Tag die Brille, ein nicht unbedingt außergewöhnlich hübsches Modell, erhielt und verpflichtet war, sie ständig zu tragen. Also auch am nächsten Tag. Also auch vor meinen Noch-Mitschülern.

Mich ärgerte das ein bißchen. Hätte ich nicht noch einen Tag warten können? Meine Mitschüler hätten mich dann nur ohne Brille gekannt und keine Gelegenheit erhalten, sich über mich lustig zu machen. Und meine neuen Mitschüler an der neuen Schule würden gar nicht wissen, daß ich vorher keine Brille trug.

Aber so sollte es nicht sein. Ich ging zur Schule, war auf das Schlimmste gefaßt. Doch das kam nicht. Ein paar nette Bemerkungen; das wars. Die Zeugnisse wurden verteilt, und ich war nicht länger Schüler dieser Schule, nicht länger Bestandteil dieser Klasse.

Bedeutsam war das Brillenereignis auch aus einem anderen Grund: Bis heute trage ich eine Brille; meine Augen haben sich stetig verschlechtert (auch wenn sie in den letzten Jahren einigerma0en konstant schlecht blieben). Meine erste Handbewegung nach dem Aufwachen geht zur Brille. Ohne sie wäre alles schwammig und verwaschen. Ohne sie wäre ich blind. Ohne sie könnte ich problemlos headbangen. Ohne sie sähe ich nicht halb so intelligent aus.
Das war 1989.

Gestern, am Vormittag des 13. April 2005, wurde ich daran erinnert.
Es fing harmlos an. Ich las. "Herr Lehmann" von Sven Regener. Ein schönes Werk. Spielt im Jahr 1989. Plötzlich lauschte ich der zufällig ausgewählten Musik genauer: Janus. "Neunundachtzig". Ich wunderte mich. Und dann, als ich eine Überweisung tätigte, bestand die TAN aus einer Zahl, die gut und gerne ein Datum hätte sein können: 29.08.1989.

Was war an diesem Tag?, überlegte ich. Ich weiß es nicht, weiß es wirklich nicht.
Doch die Erinnerung an das Jahr, in dem ich meine Brille bekam, ließ mich nicht los.

Vielleicht sollte ich mal wieder zum Augenarzt gehen, dachte ich.
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Dienstag, 12. April 2005

Ferienlagererlebnisse, Teil 5

Nachdem ich mich 1999 erstmalig als Betreuer in einem wahrlich unspektakulären Kinderferienlager unweit Dessau betätigt und erstaunliche brave und freundliche Jungs im Alter von 8 bis 14 Jahren beaufsichtigt und unterhalten hatte, hielt ich mich 2003 für bereit, zusammen mit meinem Freund M eine Spanienreise anzutreten: als Betreuer und Entertainer von insgesamt 15 Jugendlichen.

Das vorbereitende und einweisende Treffen hielt nur wenig Nützliches bereit; wir ahnten kaum, was auf uns zukam: Zehn Mädchen und fünf Jungen, allesamt im wenig kontrollierbaren Alter von 15 oder 16 Jahren, die mit der, vom Reiseveranstalter bewußt angedeuteten Absicht nach Spanien gefahren waren, sich täglich besinnungslos zu trinken und zwischendurch in sämtlichen verfügbaren Diskotheken bis in die Morgenstunden rumzuzappeln und zu treibenden Beats und poppigem Liedgut abzuhängen.

Ständig mußten wir verbieten, erlauben, Diskoeintritte erwirken, kreativ die Abende und Nachmittage füllen, die Kinder beschäftigen, auf ihr Geld achten, trösten, heilen, retten, helfen, unterhalten usw.

Am Ende der zehn Tage, denn viel mehr waren es wirklich nicht, obgleich wir anderes hätten beschwören können, initiierten wir ein Neptunfest. Ich hatte in meinem Ferienlagerleben genug Erfahrungen gesammelt, um kluge und weniger kluge Ratschläge geben zu können, und auch M wußte Bescheid, was zu tun war.

Wir wählten drei Kinder aus, die getauft werden sollten, zwei Mädels und einen Jungen, ein mathematisch exakt ausgewogenes Verhältnis. Mit der mir eigenen Liebe zu detaillierter Feinarbeit erstellte ich Taufurkunden, die ich niemals hätte weggeben sollen - so toll fand ich sie. Wir erfanden amüsante Taufnamen, zwei böse, einen netteren, erdachten uns den Ablaufplan.
Es fehlte an allem. Wir hatten kein Geld, kein Boot, keine Leute. Zuerst rekrutierten wir also den stärksten und größten der Jungs als zweiten Häscher. Auf Nixen wurde verzichtet, M sollte der erste Häscher sein. Und ich - ich war Neptun.
Als das feststand, war das Grinsen auf meinem Gesicht nicht mehr zu entfernen.

Das Grinsen wuchs, als wir die Zutaten für den Ekeltrank einkauften. Kakao, Brause und Wasser für die Flüssigkeit, Mehl für das ekelhafte Aussehen, Ketchup, Zahnpasta und Marmelade für den perversen Geschmack, ... M hatte extra einen riesigen Metalleimer und eine nicht minder riesige, eindrucksvolle Metallkelle besorgt, die uns gute Dienste leisten sollten.
Die Brühe stank erbärmlich. Wir hatten sie nach der Zubereitung im Bad aufzubewahren. Ich wagte es, sie zu kosten: Erträglich - aber nur anfangs. Der Nachgeschmack war nahezu tödlich.

Ich hatte mir eine Art Fischernetz geknüpft, das ich mir um die Hüften band. In ihm zappelten ein Fisch und eine Krake - aus Pappe natürlich. Mein grünes Badehandtuch sollte als Umhang dienen. Wir fanden noch Kreppapier, das uns als Stirn- und Armbänder nützte. Ich trug zusätzlich, um meiner Bösartigkeit Ausdruck zu verleihen, ein Nietenarmband und meine Sonnenbrille. Unsere Oberkörper waren nackt, doch abstruse Malereien verunstalteten, verzierten unsere Leiber. Ich wurde mit einem Dreizack bemalt, M und der andere Häscher erhielten finstere Totenkopfzeichnungen auf Bauch und Rücken. Gruselig.

In meiner rechten Hand hielt ich meinen Dreizack, aus Holz und Pappe angefertigt, mit Kreppapier bestückt. An meiner Hüfte baumelte eine kleine, ebenfalls bemalte Baumwolltasche, beinhaltete die wichtigen Urkunden - und meine Rede.
Alles war vorbereitet. Es konnte losgehen.

Zunächst begleitete M die Kinder zum Strand, brachte sie dorthin, befahl ihnen, sich nicht von der Stelle zu rühren, nicht baden zu gehen, nicht zu entweichen. Sie plazierten sich nahe dem Wasser, inmitten von Holländern. Underdessen verzierte ich den zweiten Häscher und verwandelte mich zum Neptun. M kam zurück, wurde bemalt, bekleidet. Nun sollte es sein.

Wir hatten kein Boot, konnten nicht vom Meer aus an den Strand gelangen, hatten also beschlossen, ein Stück an der Strandpromenade entlangzuwandern, dann zum Strand herüberzuschwenken und das Stück Weg zurückzugehen, direkt am Wasser, wo wir dann auf unsere Kinder stoßen würden.

Es war ein Bild für die (Meeres)Götter. Ich lief voraus, barfuß, mit stolz geschwellter, grünbemalter Hühnerbrust, mit grünem Gesicht, Dreizack und flatternden Haaren. Hinter mir gingen die beiden Häscher, nicht minder schrecklich anzusehen, mühsam den Brühe-Eimer tragend.

Ich grinste, grinste wie noch nie: Ich war Neptun, ich war der Gott des Wassers, der Meere, war der Herr. Die Passanten schauten verdutzt, belustigt, verständnislos. Doch niemand hielt uns auf.

Der Weg am Strand war mühsam und beschwerlich. Der Sand hinderte uns am Gehen. Ständig liefen Kinder und Badende in den Weg, blickten uns an, als hätten sie Geister gesehen. Ich sah nicht herab, meine Nase zeigte zum Himmel. Ich war Neptun.
Unsere Kinder entdeckten uns bald, erkannten uns nicht, erkannten uns doch, jubelten, wunderten sich. Westdeutschen Jugendlichen scheint Neptunfest kein Begriff zu sein.

Ich bezog Position. Das Gelände war leicht abschüssig, unter mir lagen und saßen die verdutzten Opfer, gespannt, unsicher. M und der andere Häscher setzten den Eimer ab, verschränkten die Arme, versuchten, bedrohlich zu wirken.

Ich spreizte die Beine, stand sicher, in machtvoller Pose, den Dreizack haltend, setzte an zu meiner Rede. Meine Stimme schallte über den Strand, war voller Wut, voller Herrlichkeit. Ich war Neptun, Gott, Herrscher, König, Erhabener, Richter, hatte den langen Weg vom Grund der Meere, aus den versunkenen Trümmern von Atlantis, gemacht, um Rache zu üben, um Recht zu sprechen, um Unheil auszumerzen, um zu bestrafen. Alle anderen waren Opfer, Sündige, Schuldige, waren niederes Gewürm, nichtig und klein, sollten vernichtet werden, zertreten.

Ich verkündete, was geschehen sollte: Stellvertretend für alle sollten einige besonders garstige Bösewicht die Strafe erhalten, die ich ihnen zugedacht hatte. Hinterhältig grinsend rührte M in der Ekelbrühe herum, ließ sie plätschernd von der Kelle in den Eimer träufeln.

Als ich den ersten Namen verlas, geschah nichts. Das Mädchen wußte nicht, daß es besser war für sie, zu rennen, zu fliehen, hinfortzueilen, wußte nicht, was ihr bevorstand. Die Häscher hatten keine Mühen, fingen sie, hielten sie fest, legten sie auf den Sand.

Ekelbrühe füllte eine Kelle, fand ihr Gesicht, ihre Lippen. Sie wehrte sich, doch vergebens. Der zweite Häscher hielt sie, M schüttete, immer wieder. Irgendwann erreichte die Ekelbrühe ihren Mund, ihre Zunge. Angewidert verzog sie das Gesicht, spuckte aus, schluckte noch mehr.
Ich zückte die Taufurkunde, verlas ihren Taufnamen, wies die Häscher an, sie ins Meer zu stürzen, auf daß sie sich dort ihrer Sünden bereinigte. Die Häscher legten sie vorsichtig ins Wasser, vermieden jede Verletzungsgefahr. Wütend, angeekelt verzog sie das Gesicht, nahm ihre Urkunde in Empfang, war sprachlos. Doch es mußte weitergehen.

Ein weiterer Name sollte verlesen werden. Die Jugendlichen starrten mich an, gespannt, ängstlich vielleicht. Ich konnte das Grinsen nicht unterdrücken. Der Nächste war der Junge, ein dicklicher, überheblicher Fratz, eigentlich sympathisch, aber stetig den Mittelpunkt suchend, ein stachliger Kugelfisch. Er hatte begriffen, was ihn erwartete, hatte begriffen, daß eine Flucht sinnvoll wäre - und sobald ich seinen Namen aufgerufen hatte, rannte er, rannte er zum Wasser, am Meer entlang.

Er kam nicht weit. Sein Kumpel, Häscher 2, war schneller, fing ihn, ergriff ihn, hielt ihn. M trat hinzu, und der Kugelfisch wurde zu seiner Taufe getragen. Das gleiche, schreckliche Spiel.

Das letzte Mädchen rannte auch, doch nur kurz, war nicht schnell genug, nicht wirklich willens zu fliehen, wußte bereits um die Vergeblichkeit ihre Bemühungen. Die Häscher hatten sie bald. Wir tauften auch sie.

Dann war es vorbei. Der vorletzte Tag ging zur Neige. M, der Häscher und ich, entledigten uns unserer Kostüme, gingen baden, versuchten vergeblich, die Farbe zu entfernen. Ich war erleichtert. Beglückt. Nicht alles war perfekt, doch es hätte tausendfach schlimmer werden können.
Die Jugendliche gesellten sich zu uns, stellten neugierige Fragen. Was war in der Brühe [wir verrieten nichts - außer "Rattenkadaver und Plumskloablagerungen"]? Warum war Häscher 2 gewählt worden? Warum war der-und-der nicht getauft worden? etc.

Die Stimmung schwenkte um - in unsere Richtung. Plötzlich waren wir nicht mehr die Bösewichte, sondern Helden, hatten ein Erlebnis verschafft, das einmalig war. Die Taufurkunden wurden gewürdigt; und schließlich wollte jeder getauft werden - ohne Ekelbrühe natürlich.

M und ich grinsten uns an.
Neptun und seine Mannen hatten Geschichte geschrieben.
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Montag, 11. April 2005

Der Orkan

Mit dem Fahrrad hektisch, eilig, angetrieben von der Wut auf die eigene Unfähigkeit, auf die Unfähigkeit aller, durch die Stadt rasend, düsend, rücksichtslos, riskant, mir alles abverlangend, kraftvoll in die Pedalen tretend, nicht sitzend, immer stehend, tretend, trampelnd, schneller, schneller. Menschen zischen vorbei, ihre Gesichter unförmige Schemen. Kein Ausdruck, keine Mienen. Knappe Gesten, ungesehen, unbemerkt. Ich höre empörte Worte, irgendwo hinter mir, weit hinter mir. Schneller, schneller, keinen Atem findend, keuchend, Ampeln ignorierend, durch Menschenmassen schlängelnd, im letzten Moment ausweichend, vorbeizischend, haltlos, entfesselt, jagend, ein Sturm auf Metall.
Irgendwo am Straßenrand stehen Polizisten, sehen mich zu spät, rufen mich zu spät, ich bin vorbei, längst vorbei, enteilt, dem Gesetz entflohen, meinem Stillstand entflohen, meiner Ruhe. Haltet mich nicht, fangt mich nicht, ich bin der Orkan...
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Phobophobie

Phobophobie - die Angst vor der Angst.
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Sonntag, 10. April 2005

Ferienlagererlebnisse, Teil 4

1996 war ich in Spanien, wieder in einem Kinder- und Jugendferienlager.
Ich war mit meinem besten Freund gereist, mit meinem Bruder und dessen bestem Freund. Das Zeltlager war toll, die Betreuer "cool", das Essen schmeckte, die Sonne schien. Das Zeltlager hatte uns große Freiheiten erlaubt; täglich konnte man sich entscheiden, ob man sich den Unternehmungen diverser Betreuer anschloß, ob man bei den Zelten blieb, an den Pool oder ans Meer ging. Ich war glücklich.

Am vorletzten Tag stand das unvermeidliche Neptunfest an. Ich hatte nichts zu befürchten, war ich doch weder besonders auffällig, noch besonders unauffällig gewesen. Ich setzte mich an den Strand, ohne mich zu entkleiden, harrte fröhlich der Dinge, die da kommen mochten.

Vom Meer her kam ein Schlauchboot mit Außenborder. Ich kannte das Boot; wir hatten selbst diverse Fahrten darauf unternommen. Ich kannte auch Neptun, die Nixen und die Häscher. Letztere waren diesmals allerdings keine Betreuer, sondern kräftige Jugendliche, die Ältesten von uns.

Alles lief ab wie gewohnt. Die Opfer waren schnell, doch die Häscher waren schneller. Jedesmal. Nur einer floh ins Meer, doch hatte keine Chance. Wohin wollte er auch schwimmen? Afrika?
Ein Nescafé-Wagen kam vorbei, verteilte Probedosen. Der Eiskaffee schmeckte mir nicht, doch war kostenlos - und kühl.

Dann hörte ich meinen Namen. Ich konnte es nicht glauben. Die konnten nicht mich meinen, meinten jemanden anderes mit ähnlichem Namen, hatten mich sicherlich verwechselt! Doch die Häscher rannten auf mich zu, ohne Rücksicht auf die Sitzenden, ohne Rücksicht auf Handtücher und Rucksäcke.

Ich sprang auf, rannte los, vom Meer weg, durch den Sand. Schnell, schneller. Noch immer trug ich meine Schuhe. Das war mein Vorteil. Bald war ich auf einem betonierten weg. Ich lief nach Norden parallel zu Meer. Immer weiter. Ich lief so schnell ich konnte. Die Häscher blieben zurück. Ihre nackten Füße klatschen auf den heißen Asphalt. Ich hatte Schuhe, ich rannte, gab alles. Kühler Wind wehte mir entgegen, Passanten schauten mich vberwundert an. Ich rannte.

Irgendwann hatte ich die Häscher abgehängt. Sie waren zurückgefallen, würden mich nicht mehr einholen. Ich triumphierte innerlich.
Doch was nun? Ich konnte zum Zeltlager zurückkehren, doch meine Sachen lagen noch am Strand. Ich konnte einfach im Zeltlager warten, bis alles vorbei war. Ich konnte in die Stadt fliehen. Ich hatte kein Geld, doch das machte nichts, würde mich nicht verlaufen. Die Häscher würden mich nie finden, nie fangen. Niemals.

Doch all das hielt ich für feige, für sinnlos. Ich hatte gewonnen. Das wußte ich. Das mußten auch die Häscher wissen. Ich hatte gewonnen, war entkommen, sah keinen Sinn mehr darin weiterzufliehen. Ich konnte mich nicht ewig verstecken, nicht ewig wegrennen.

Ich kehrte um. Langsam, die nackten Handflächen zeigend, ging ich auf die Häscher zu. Ich lächelte, hatte gewonnen. Nichts konnte mir noch schaden.
Als die Häscher sahen, daß ich mich ergab, sprinteten sie zu mir, faßen mich grob an Beinen und Armen, schleiften mich durch den Sand. Ich wehrte mich nicht. Mein Lächeln blieb. Sie packten mich härter, zerrten mich den langen Weg zurück. Ich wäre auch allein gelaufen, doch sie wollten nicht, glaubten mir nicht, befürchteten wohl, ich könnte wieder fliehen.
Ich wäre nicht geflohen. Wozu? Wohin? Ich hatte längst gesiegt.

Die Häscher brachten mich zu Neptun. Die Antrengung war auf ihren Gesichtern zu lesen. Sie hielten mich fest, dudelten keine Bewegung. Ich bat darum, daß mir die Brille abgenommen, meine Schuhe ausgezogen würden; mein letzter Wunsch wurde mir gewährt.

Neptun tat, als wäre er wütend; die Häscher waren wütend. Meine Welt war nur noch ein verschwommener Buntbrei. Geduldig lauschte ich den Worten Neptuns, sah die Kelle mit der Brühe auf mich zukommen, preßte die Lippen zusammen. Ich würde das Ekelzeug nicht trinken. Eine Hand umfaßte meinen Unterkiefer, Finger bohrten sich in meine Wangen. Der Schmerz riß mir den Mund auf; die ekelhafte Flüssigkeit schwappte hinein. Immer wieder. Ich konnte nicht mehr atmen, hustete, spuckte, versuchte, Luft zu holen, fiel auf die Knie, keuchte. Ein Hand klopfte mir auf den Rücken. Dann wurde ich gepackt und ins Meer geworfen.

Dort blieb ich, holte Luft, wusch mir das Gesicht, die Arme, spülte den unappetitlichen Geschmack in meiner Mundhöhle mit Salzwasser aus. Als ich das Wasser verlies, wurde mir eine Urkunde in die Hand gedrückt:
"Dr.h.c. Fisch"

Ich grinste. Ich war als einziger entkommen, war freiwillig zurückkehrt und bekam nun nichts Schlimmeres als einen fischigen Doktortitel, ehrenhalber?
Meine Augen brannten vom Salzwaser. Auf meiner Zunge schmeckte ich noch immer die ekelhafte Brühe. Ich zitterte vor Kälte; das nasse T-Shirt klebte an meinem Leib. Die Welt war noch immer verschwommen; und ich rang um Atem.
Doch ich grinste:

Ich hatte gesiegt.
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Ferienlagererlebnisse, Teil 3

Ein für mich bedeutsamer Bestandteil meines ersten Ferienlagers war das Neptunfest.

Diese Festivität war typisch für ostdeutsche Ferienlager: Am vorletzten Tag versammelten sich dabei alle Ferienlagerkinder am nahegelegenen Strand, vorsorglich mit Badesachen bekleidet. Sinnlos standen wir in der Gegend herum und harrten der Dinge, die kommen würden. Ich wußte nicht, was mich, was uns erwartete und war gespannt.

Dann vernahmen wir Motorenlärm, entdeckten auf dem See ein reichlich mit Keppapier bestücktes Boot, das langsam auf uns zukam. In ihm saßen Neptun, Nixen und Häscher - allesamt eigentlich Ferienlagerbetreuer, die mit Farbe, Kreppapier und allerhand Krimskram ausstaffiert worden waren. Sie boten einen durchaus beeindruckenden, ja beängstigenden Anblick. Die Häscher schleppten einen riesigen Kessel, in dem eine undefinierte Flüssigkeit hin- und herschwappte.

Das Meeresvolk plazierte sich am Strand. Neptun verlas mit lauter Stimme eine Rede, an deren Inhalt ich mich nicht mehr entsinne. Ich denke, es ging um unsere "Sünden", die bestraft werden müßten.

Dann wurde der erste Name verkündet. Inmitten der Kinder entdeckte ich ein erschrecktes Gesicht, das sofort verschwunden war. Der Junge floh, rannte wie der Wind.

Es gab nicht viele Möglichkeiten zu fliehen. Entweder man rannte links um den See, rechts um den See, zurück ins Bungalowlager oder man wagte es, sich in den See zu stürzen und schwimmend die Flucht zu ergreifen. Der Junge rannte nach rechts.

Die Häscher, allesamt groß, kräftig und wesentlich älter als wir, warteten gedudlig einen Augenblick, gaben dem Jungen Vorsprung. Dann spurteten sie los. Sie brauchten sich nicht anzustrengen. Der Junge hatte keine Chance zu entkommen. Im Nu hatten sie ihn erhascht, trugen ihn zurück zu Neptun.
Dieser beschuldigte den verängstigt blickenden Jungen diverser Tätigkeiten und Untätigkeiten und gab den Befehl zur Taufe. Ich weiß nicht genau, was in der ekelhaft aussehenden Flüssigkeit enthalten war, aber glaube, daß der übliche Tee und Zahnpasta entscheidende Anteile bildete. Mit einer großen Kelle wurde dem Jungen das Zeug ins Gesicht, in den Mund geschüttet. Er schluckte angewidert, während sein neuer Name verlesen wurde. Dann trugen die Häscher den besudelten Jungen zum See, warfen ihn hinein, damit er sich bereinigen konnte und die Taufe rechtskräftig wurde.

Zurückgekehrt nahm er eine Taufurkunde in Empfang - und hatte es überstanden.
Wir anderen jedoch warteten, aufgeregt und ängstlich. Wer würde der nächste sein?

Nacheinander wurden zwei weitere Namen verlesen, zwei weitere Kindern rannten weg, wurden gefangen, bekamen Brühe ins Gesicht, wurden ins Wasser geworfen, erhielten die Taufurkunde mt ihrem Namen. Ich war erstaunt, mit welcher Mühelosigkeit die Häscher die Kinder fingen, stellte fest, wie sinnlos jeder Fluchtversuch war.

Dann hörte ich meinen Namen. Ich begriff nicht, konnte es nicht glauben, war doch das erste Mal in einem Ferienlager. Mein Gedanke war: Renn weg! Renn weit weg! Doch ich wollte nicht rennen, wußte mittlerweile um die Vergeblichkeit solcher Bemühungen. Die Häscher jedoch rannten los, glaubten mich gesehen zu haben, rannten in verschiedenen Richtung um den See herum, unglaublich schnell und kräftig.

Ich stand in der Masse, unter all den anderen Kindern, und wartete. Sie würden mich fangen, das wußte ich, doch ich selbst entschied, wann. Nach einer Weile trat ich in die Mitte des Kreises, trat ich zu Neptun. Erstaunt blickte er mich an, erkannte mich, rief seine Häscher zurück.

Sie packten mich, grob, wohl verärgert, weil sie sinnloserweise losgerannt waren, weil sie mich nicht erhascht hatten, weil sie noch nie so lange gebraucht hatten, um jemanden zu fangen. Während Neptun seine Worte sprach schütteten sie mir die Ekelbrühe ins Gesicht. Eine Kelle, zwei Kellen. Doch mein Grinsen verschwand nicht. Irgendwie hatte ich gewonnen.
Als ich aus dem See wieder herauskam, las ich meinen Taufnamen:
"Schleichender Wasserfloh" - weil ich ständig zu spät kam.

Bis heute frage ich mich, ob die Neptunfigur nicht vielleicht doch ein bißchen Göttlichkeit in sich gehabt hatte, ob sie wußte, daß der Taufname bestimmend für mein späteres Leben sein würde, ob ich schon damals Züge meines heutigen Ichs zeigte.

Denn noch immer komme ich zu spät. Ständig.
Wie ein schleichender Wasserfloh.
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Ferienlagererlebnisse, Teil 2

Ich war gerade 8 oder 9 Jahre alt, als mich meine Eltern in mein erstes Ferienlager schickten. Das war nichts Ungewöhnliches, denn die schulischen Sommerferien reichten aus, um sowohl ins Ferienlager zu fahren als auch zusammen mit meinen Eltern ihren schwer verdienten Urlaub zu genießen.
Mein Bruder, der mich in späteren Ferienlagern stets begleitete, war noch zu jung, um mitzukommen. Mein erstes Ferienlager. Unzählige unbekannte Menschen. Und ich war allein.

Ich kann mich an einen schlichten, dunkelbraun gestrichenen Holzbungalow erinnern, den ich mit sechs oder acht anderen Jungs teilte. Die für uns zuständige Betreuerin schlief mit uns in einem Raum. Immer blieben ein paar von uns auf, um zu warten, bis sie sich auszog und ins Bett legte. Man sah nichts; es war zappenduster, aber allein die Vorstellung einer unbekleideten Frau schien einige meiner Kumpanen irre zu machen.

Einen wesentlichen Bestandteil dieses Ferienlagers bilden in meiner Erinnerung Pfirsiche. Jeden Tag gab es Pfirsiche, zum Mittagessen, zum Abendbrot, riesige, saftige Dinger, von denen ich gar nicht genug bekommen konnte. Ich nahm die Früchte der anderen entgegen, als diese sie nicht mehr sehen konnten, bunkerte sie unter meinem Bett. Ich werde niemals den Geruch am letzten Tag vergessen, als wir gezwungen waren, den Bungalow zu bereinigen, als ich gewzungen war, den süßlich stinkenden, schimmelnden Matschhaufen aus dem Dunkel hervorzuholen und zu beseitigen.

Vielleicht trug das dazu bei, daß wir in einer abschließenden Preisverleihung für den saubersten Bungalow den allerletzten Platz belegten. Der erste Platz erhielt eine schlichte Urkunde, wir jedoch jeder einen großen Scheuerlappen. Ich war stolz, stolz auf mich, stolz auf uns.

Zu Hause packte ich den Scheuerlappen aus und zeigte ihn meiner Mami:
"Die anderen Bungalows haben nichts bekommen. Aber ich gewann das.
Für dich."
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Samstag, 9. April 2005

Italienische Ninjasterne

1997 war ich in Italien, in einem Ferienlager.

Es war ein schrecklicher Urlaub. Der Reiseveranstalter, Rainbow-Tours, war äußerst unsympathisch, die Betreuer ["Animateure"] faul, desinteressiert und versoffen, das Hotel mies, das Essen schlecht. Die Italiener belaberten alles, was einigermaßen weiblich aussah. Die Mädels, die mit uns mitgereist waren, interessierten sich nur für die überteuerten Diskotheken. Der Strand war langweilig, die Stadt nur für Touristen errichtet.

Ich war neugierig, wollte etwas sehen, hatte wenig Begeisterung übrig für lautstärkeintensive Massentanzveranstaltungen, tendierte schon damals in eher gitarrenorientierte Musikrichtungen, streifte in abendlichen Stunden durch das städtische Kunterbunt, ließ mich von dem Menschengewühl, von Che Guevara Postkarten und Grasverkäufern beeindrucken.

Der erste unserer Ausflüge ging nach San Marino. Ich kann mich an San Marino selbst kaum noch erinnern. Ziemlich burgig, viele Mauern, kleine Gassen, ständig ging es bergauf. Und überall gab es Waffenläden und solche, in denen zuhauf Raubkopien angesagter Musikstücke verkauft wurden. Ich erwarb zwei Souvenire, die sich auch heute noch in meinem Besitz befinden:
Zum einen das Nirvana-Album "Nevermind". Natürlich auf Kassette, gab es doch in San Marino nichts anderes. Außerdem bekam ich so neue Nahrung für meinen Walkman, Abwechslung von dem Italo-Diskopop-Einerlei.
Zum anderen kaufte ich in einem Waffenladen einen Ninja-Stern. Waffenläden üben auf Jugendliche einen eigenartigen Reiz aus, protzen mit Macht und Gefahr, mit silbernen Klingen und verzierten Pistolenläufen. Ich war begeistert, fasziniert, wollte mir selbst unbedingt irgend etwas kaufen. Doch mangelte es mir sowohl an äußerlich sichtbarer Reife als auch an finanziellem Potential.

Dann sah ich den Ninja-Stern. Dessen scharfe Kanten waren weitaus weniger scharf als sie sein sollten und seine asiatische Inschrift zeugte von äußerst geringer San-Marino-Verbundenheit. Aber er war billig. Umgerechnet 1,50 DM. Ich kaufte den Stern, verwahrte ihn sicher in meinem Portemonaie.

In unserem Hotelzimmer probierte ich ihn aus, Nirvana im Ohr. Er ließ sich gut werfen, flog weit, doch blieb nirgendwo stecken. Nicht scharf genug, mutmaßte ich. Ich überlegte, ob ich ihn auf eine Kette fädeln und umhängen sollte - ein entsprechendes Loch war vorhanden. Doch der Ninjastern war zu groß, zu protzig, zu albern. Ich ließ es sein, verstaute ihn wieder und freute mich, ein derart praktisches Souvenir erworben zu haben.

Der zweite Ausflug brachte uns nach Venedig. Zu keinem Zeitpunkt meines Lebens habe ich jemals Venedig mit "Romantik" in Verbindung gebracht. Ich war nicht sonderlich interessiert. Für mich war Venedig nur eine ausländische Stadt, die viel Unbekanntes beinhaltete, das auf seine Art und Weise schön war.

Auf der Rialtobrücke wurde vor Taschendieben gewarnt; ich schoß ein Photo von unseren Mädels, beobachtete begeistert ein Krankenboot, das mit jaulender Sirene durch die Kanäle düste. Ich interessierte mich nicht für die albernen Masken, nicht für die dargebotenen Kleidungsstücke und Schuhe. Die Bauwerke waren beeindruckend, oder hätten es sein können - ohne all den Dreck und den Taubenkot.

Auf dem Markusplatz fand unser Stadtbummel ein Ende. Mein Kumpel und ich streiften zwischen den Säulen hin und her; ich trat nach den Tauben, die trotz ihrer Behäbigkeit noch schnell genug waren, um ein paar Meter von mir wegzuflattern und sich in Sicherheit zu bringen.

Wir suchten Chinesen oder Japaner. Ich wollte unbedingt wissen, was auf meinem Ninjastern stand. Die Anzahl an Asiaten war für eine Touristenmetropole erstaunlich gering. Wir brauchten eine Weile, bis wir einen entdeckten. Freundlich sprach ich ihn an:
"Sorry. Do you know what that means?"
Ich zeigte ihm den Metallstern.
Er lächelte, besah sich die Inschrift, überlegte, schaute erneut.
"These are very old characters.", meinte er, doch hatte keine Ahnung, was sie bedeuteten, konnte mir nicht weiterhelfen.
Ich war betrübt, doch nicht sehr. Denn eigentlich war egal, was auf dem Stern stand; bis heute weiß ich nicht, ob es sich nun um Japanisch oder Chinesisch oder gar um eine völlig andere Sprache handelt.

Erschöpft ließen wir uns auf den Stufen am Markusplatz nieder, so wie alle Touristen. Wir fanden ein nettes Plätzchen, hatten eine schöne Sicht auf den Dogenpalast, vor dem Touristen in langer Schlange anstanden. Überall waren Tauben, in der Luft, vor uns, hinter uns.

Direkt neben mir saß eine Italienerin. Sie trug ein ärmelloses, beigefarbenes Oberteil und filmte mit einer Kamera die Sehenswürdigkeiten, die Tauben und ihre Familie. Sie redete. Unablässig quoll ein kommentierender Wortschwall aus ihrem Mund, ununterbrochen formte sie für mich unverständliche Laute.

Mit einem Klatsch landete ein riesiger Haufen Taubenkot auf ihrer linken, nackten Schulter. Angewidert, erschrocken, entsetzt sprang ich auf, untersuchte angegekelt mein T-Shirt, meine kurzen Hosen, ob ich nicht eventuell ein paar Spritzer abbekommen hatte, fand nichts, war erleichtert. Die Italienerin filmte weiter, redete weiter, hielt nicht inne, hatte nichts mitbekommen, nichts bemerkt. Auf ihrer Schulter klebte ein grau-weißer Fleck stinkender Taubenfäkalien, doch sie wußte es nicht.

"Was für ein Urlaub.", dachte ich, "Alles Scheiße, doch keiner merkt's."
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Freitag, 8. April 2005

R-E-S-P-E-C-T

Was genau ist eigentlich ein Buch? Es gibt eine Definition der UNESCO: "Ein Buch ist eine nicht-periodische Veröffentlichung von mindestens 49 Seiten Umfang exklusive des Einbands." Es ist sicher nett, was sich die UNESCO so an lauen Sommerabenden zusammendefiniert, aber daß ein Buch generell etwas Bewahrenswertes ist, sagt auch diese Definition nicht. Auch eine Publikation, wo auf der ersten Seite ein Rezept für Serviettenknödel ist, auf der zweiten ein Lob der altchinesischen Frauenfußverstümmelung und auf der dritten eine Anleitung zum Tottrampeln von Zeisigen ist ein Buch, Hauptsache, es folgen noch 46 weitere Seiten. Ein solches Buch kann man m. E. kühlen Gewissens verbrennen. Doch was riefen die Menschen dann? "Wo man Bücher verbrennt, da verbrennt man am Ende auch Menschen!" würde es tönen, und daß man vor einem Buch wahnsinnigen Respekt haben muß.

Diese, von Max Goldt in seinem Essay "Eine Wolke, auf der man keinen Husten bekommt" geschriebenen Worte kamen mir heute in Erinnerung, als ich mich in das Zimmer meiner Mitbewohnerin begab und mich in Ermangelung einer Sitzgelegenheit auf ihre Liege und somit beinahe auf ein dickes, fettes Buch plazierte, das dort herumlag. Fast schon panisch schrie sie auf, als mein Allerwertester auch nur in die Nähe des Wälzers kam, so daß mir nichts übrig blieb, als mich erneut zu erheben, das Buch beiseite zu schieben, um mich dann ruhigen Gewissen setzen zu können und die Stimmbänder meiner Mitbewohnerin zu schonen.
Verwundert blickte ich sie an:
"Es ist doch nur ein Buch..."
Demonstrativ wollte ich mich nun auf dem Buch plazieren, doch meine Mitbewoherin ahnte mein Vorhaben und öffnete schon einmal präventiv den Mund. Sie verfügt über eine recht markante und vor allem dezibelintensive Stimme, weswegen ich schnell von meinem albernen Vorhaben abkam.
"Es ist doch nur ein Buch.", wiederholte ich.
Es handelte sich um Ken Folletts "Die Säulen der Erde", sicherlich nicht schlechteste Buch aller Zeiten, doch war es auf keinen Fall unersetzbar. Für sie schon.
"Ich behandle Bücher mit Respekt."
Ich lachte innerlich. Meine Mitbewohnerin wollte mir erzählen, wie ich "Die Säulen der Erde" zu behandeln habe - dabei war es mein eigenes Buch.
"Aber es ist meins.", sagte ich, "Und es ist nur ein Buch."
"Trotzdem. Bücher verdienen Respekt.

'Warum?', wunderte ich mich und entsann mich oben erwähnter Worte von Max Goldt. Bloß weil eine Zeilensammlung mindestens als 49 Seiten [exklusive des Einbands] umfaßt, verdienen Bücher mehr Respekt als beispielsweise Hausschuhe oder Kartoffelsalatplastikverpackungen? Bloß weil es sein könnte, daß der Inhalt aus Bedeutsamem besteht [das ist in den seltensten Fällen gegeben - zumindest wenn man die Anzahl existierender Bücher mit der gehaltvoller vergleicht], darf man ein Buch nicht genauso behandeln wie den Rest seines Besitzes?
Noch einmal warf ich einen Blick auf das Buch. Es war abgenutzt und schäbig. Eine alte Taschenbuchausgabe, die ich auf irgendeinem Flohmarkt erworben hatte. Schon damals hatte sie abgenutzt und schäbig ausgesehen, was nicht zuletzt der Grund gewesen war, das Werk zu kaufen, senkte doch das ramponierte Aussehen den Preis erheblich.
Ich hatte ein abgegriffenes Buch erworben, dessen Inhalt, nicht dessen Unversehrtheit mich interessierte. Kaum war ich zu Hause angekommen, fletzte ich mich auf mein Bett und las. Ich neige nicht dazu, Bücher bei der Lektüre zu schonen. Bücher sind dazu da, gelesen zu werden, nicht um schön auszusehen.
Beispielsweise vermeide ich den Kauf von Hardcovern. Der einzige Vorteil, den ich den Werken in hartem Einband abgewinnen kann, ist nicht dessen potentielle Bücherregalästhetik, sondern die von den Verlagen preispolitisch clever erdachte Tatsache, daß neue Werke zuerst als Hardcover erscheinen, sodaß man als Taschenbuchbevorzieher gezwungen ist zu warten - oder eben doch mehr Geld auszugeben.
Meinen Büchern sieht man an, daß sie gelesen wurden. Sicherlich werde ich sie nicht bewußt als Tellerersatz für mein fettiges, tomatensoßengetränktes Abendessen in Benutzung ziehen, doch werde ich mich auch nicht bemühen, jede Seite nur mit Pinzette anzufassen, um keinerlei Abdrücke unsauberer Fingerspitzen oder gar unschöne Eselsohren zu hinterlassen.
Ich lese, wo ich bin. Im Zug, in der Bahn, im Park, in der Uni, in der Mensa, zu Hause, auf dem Klo. Überall. Dementsprechend müssen die leblosen Opfer meines Wortwahns mich überall hinbegleiten. Natürlich bleibt das nicht ohne Folgen.
Ken Folletts Roman umfaßt mehr als 1150 Seiten. Die Lektüre dieses Werkse braucht also seine Zeit. Und ich muß zugeben, von ihm gefesselt gewesen zu sein. Ich wollte ständig weiterlesen, nahm das Buch stets dorthin, wo ich mich aufzuhalten gedachte, ohne mich darum zu kümmern, ob der Einband Kratzer oder Knicke erhielt oder den Seiten minimaler Schaden zugefügt wurde. Ich weiß nicht, wie oft ich das Buch in meinem unsortierten, mit allerhand Kram bestückten Ruckstack verstaute, es wieder herausholte, fallenließ, aufhob, weiterlas, knickte, mit Lesezeichenzettelchen bestückte, irgendwo vergaß und doch wiederfand.
Es war egal, nur ein Buch. Der Inhalt wußte mich zu begeistern, doch um das Äußere sorgte ich mich nicht.

Und nun schrie meine liebe Mitbewohnerin schon bei der Vorstellung auf, ich könnte mich versehentlich auf diesem Buch, das von mir bisher mit wenig Rücksicht bedacht worden war, plazieren, ich könnte ihm irgendwie Schaden zufügen, den nötigen Respekt verwehren.
Gerade wollte ich mich rechtfertigen, wollte Max Goldt zitieren, wollte von den schrecklichen Dingen berichten, die dieses Werk schon mit mir zu erdulden hatte, als ich mich eines Besseren besann, mich in mein Zimmer verzog und las:
Salman Rushdie. "Der Boden unter ihren Füßen". Preisreduziertes Mängelexemplar. 860 Seiten. Zwei Eselsohren und ein großer Kratzer auf dem Einband.
Trotzdem genial.
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