Sonntag, 25. September 2005

Blog-Remix: "Die Begegnung mit der Glasbausteinfrau"

Das Wochenende stand vor der Tür, und die Leere im heimischen Kühlschrank hatte bereits existenzbedrohliche Formen angenommen. Ich schielte auf meine Uhr. Die Zeiger schienen hämisch zu grinsen: Kurz vor Acht.
Ich hatte nichts anderes erwartet.

Vermutlich würde ich, selbst wenn deutsche Geschäftsbetreiber irgendwann die staatlich tolerierte Möglichkeit erhalten sollten, täglich für 24 Stunden ihre Ladenpforten zu öffnen, es trotzdem irgendwie schaffen, erst auf den allerletzten Drücker, erst im letztmöglichen Augenblick, durch die lichtschrankenunterstützte Glastür meines favorisierten [weil nahegelegenen] Einkaufmarktes zu stürmen und in zielorientierter Hast die mehr oder minder nahrhaften Lebensnotwendigkeiten aus den bereits geleerten Regalen zu klauben.

Ebenfalls zu erwarten war, daß ich erst vor den in Kürze schließenden Lebensmittelgeschäftstüren feststellte, daß sich der für den vorübergehende Besitz eines Einkaufwagens notwenige Plastikchip in einer anderen Hose, in einem anderen Rucksack oder in einem anderen Leben befand und daß zugleich ein "echtes" Eurostück in den überschaubaren Tiefen meines Portemonaies unauffindbar blieb. Selbst durch eifrige Geldwechselversuche [inklusive eines zwar mühsam aufgebrachten, aber dennoch eigentlich überzeugend-freundlichen Lächelns] ließ sich keinerlei passender Ersatz auftreiben.

Seufzend, den regulären Riten eines freitagabendlichen Last-Minute-Einkaufs folgend, krallte ich mir also die nächstbeste Pappe - wissend, daß sie letztendlich doch zu klein sein würde - und begann, durch die neonlichtüberfluteten Gänge zu pirschen, um mir und meinem pelzig-parasitären Mitbewohner das Wochenend-Überleben zu sichern.

Um mich herum wuselten gesichtlose Menschenmassen, zumeist - ebenso wie ich - Opfer ihrer eigenen DummTrägheit, standen im Weg, redeten zu laut oder waren einfach nur viel zu "da", um erträglich zu sein. Für einen Moment wünschte mir nichts sehnlicher als einen blinkenden, neonroten Stirnaufdruck "Misanthrop", der jedem menschähnlichen Wesen in meiner Nähe die unmißverständliche Bitte um einen gehörigen Maximal-Sicherheitsabstand in den tumben Schädel hämmern würde.

Ich schüttelte langsam den Kopf, als könnte ich dadurch die wirren Gedanken verscheuchen.
'Schnell raus hier.', dachte ich und tilgte die letzten Geräusche um mich herum mit dem wütenden Elektrogitarrenkrach aus meinen Kopfhörern. Die Welt verstummte, als ich die Lautstärke maximierte, und ich hob amüsiert einen Mundwinkel.

Der Pappkarton war zu klein. Das begiff ich schon nach wenigen Metern, schon nach wenigen, eilig in meinem Arm zusammengerafften Lebensmitteln. Die Pappe war zu klein und würde, sobald ich nicht mehr genügend achtgab, sobald ich meine Aufmerksamkeit anderen Dingen zuwendete, unter ihrer Last zusammen-, oder besser: auseinanderbrechen. Auch das war zu erwarten.

Und während ich darum kämpfte, die einzukaufenden Produkte einerseits trageoptimal innerhalb des Kartons anzuordnen, andererseits diesen mit beiden Händen formstabilisierend zu stützen, bemerkte ich eine ältere Frau, die am Ende des Ganges stand und sich verwirrt umsah, als wäre sie von hundsgemeinen Außerirdischen in diese fremde Welt abgesetzt und hier zurückgelassen worden.

Sie war klein, doch nicht klein genug, um übersehen zu werden. Und trotzdem schien es, als hätte sie eine Sphäre unsichtbarer Unnahbarkeit um sich herum errichtet, als würde jeder in ihrer unmittelbaren Umgebung versuchen, diese möglichst schnell wieder zu verlassen und die Frau mit größtmöglichen Ignoranzportionen zuzuschütten.

'Oh nein.', dachte ich, ahnte bereits, was kommen würde, seufzte, hoffte heimlich noch immer auf die Existenz eines wirksamen "Misanthrop"-Schildes auf meiner Stirn und setzte scheinbar unbeteiligt meinen Einkauf fort.
Die alte Frau rührte sich nicht von der Stelle, schien auf jemanden, auf mich, zu warten.

'O nein.', dachte ich nochmals und verlagerte den bereits überfüllten Pappkarton auf meinen rechten Arm.
Die Frau – ich stellte fest, unfähig zu sein, ihr Alter auch nur annähernd schätzen zu können – stand am Ende "meines" Ganges, reglos, nach vorn gebeugt, als trüge sie eine schier unerträglich Bürde.
'Ihre Brille vielleicht.', dachte ich und grinste humorlos. Ihre Brille wirkte wie ein abscheuliches, modernes Kunstwerk, "Aschenbecher-In-Kunststoff", wie ein Satz häßlicher Glasbausteine, über dem sich fettiges Haar zu einem traurigen Frisurimitat zusammenfand.

Die Frau roch, nein: stank, nach Schweiß, nach Schweiß und Urin.
Ich seufzte, mal wieder, war schon Schlimmerem begegnet.

Vorsichtig versuchte ich, ihr auszuweichen, wie alle anderen den Blick abzuwenden, war schon fast vorbei, als ich versehentlich mit meinem Karton ihre für diese heißen Temperaturen völlig unpassenden Klamotten streifte. Sie blickte auf, ohne überrascht zu wirken, und sprach mich an:
"Entschuu-uu-u-u-ldigu-u-ung?

Ich sparte mir einen weiteren Seufzer, jeden "Ich hab's ja geahnt."-Kommentar und den Gedanken an mein dringend notwendiges Stirnschild und zerrte die Kopfhörer aus meinen Ohren.
Leise klirrten elektrische Gitarren in die muffige Ladenluft, vermischten sich mit dem kaum wahrnehmbaren Hintergrundrauschen menschlicher Anwesenheiten.
'Warum ist keiner von denen hier?', fragte ich mich wütend, 'Warum ausgerechnet ich und warum ausgerechnet heute?'.

Meine Gedanken beiseite schiebend, klebte ich den bestmöglichen Versuch eines Lächelns auf meine Lippen und erkundigte mich vorsichtig:
"Ja?"

Erst beim zweiten Versuch verstand ich sie. Ihre Stimme war leise und brüchig, als traute sie sich nicht zu reden - oder hätte es lange nicht getan.
Hinter übergroßen Glasbausteinbrillengläser blickten zwei Augen hilfesuchend zu mir hoch.

'Es stimmt.', stellte ich mitleidig fest, 'Mit dem Alter werden wir wieder zu Kindern.'
Die alte Frau war beinahe wieder im Embryonalstadium angekommen, schien allein kaum lebensfähig zu sein, blickte mich an, als wäre ich ihre Krücke, ihr rettender Engel am Rande des Abgrunds.

Nun war auch ich zum Teil ihrer Sphäre, ihrer Aura, geworden. Ich bemerkte es sofort, denn die übrigen Einkäufer wichen nicht nur der alten Frau aus, sondern auch meinen neugierigen, ja herausfordernden Blicken, als wären sie dank meines selbstlosen Opfers von ihrer Helferspflicht entbunden, von ihrer Menschlichkeitsbürde befreit worden.

Fast erahnte ich das hämisch-erleichterte Grinsen in den Mundwinkeln der Vorbeigehenden, die Belohnung für ihre stupide Ignoranz anderen gegenüber, das Glück, sich aus allem heraushalten zu können, sich nur um ihre eigene Nichtigkeit kümmern zu müssen.
"Schönen Dank, ihr Idioten.", schimpfte ich - lautlos natürlich.

Weder die Blindheit der Vorbeigehenden, noch die unerträgliche Hilflosigkeit der alten Frau, ihre offensichtliche Bedürftigkeit trugen dazu bei, meine ohnehin unerträgliche Laune zu verbessern..
Doch ich lächelte tapfer, als die alte Frau an meinem Ärmel zupfte und ein kaum vernehmbares Flüstern aus ihrer Richtung meine Ohren suchte.

In überteuerte Designerkleidung gehüllt eilte ein hochgewachsenes Wichtigtuerpaar vorbei. Während die Frau ihrer urtypischen Geschlechterrolle nachging, Nahrungsmittel und andere notwendige Utensilien zusammenzusuchen, beschränkte sich das Männchen darauf, den sich füllenden Einkaufwagen zu schieben und mit abschätzendem Blick die Umgebung zu mustern.
"Das gibt was zu erzählen." schienen seine sonnebrillenverhüllten Augen zu sagen, "Im Aldi finden sich immer irgendwelche Freaks." Und mit höhnischem Grinsen schaute er zu mir, zu uns, herüber, als wären wir soeben dem Kuriositätenkabinett eines Zirkus' entlaufen.
Ich bedachte ihn mit dem finstersten Blick, den ich auf die Schnelle auftreiben konnte, und wandte mich wieder dem Stimmchen zu.

"Entschuu-uu-u-u-ldigu-u-ung?", tönten - beinahe lautlos - die Glasbausteine neben mir ein weiteres Mal.

"Ja?", fragte ich geduldig, "Was denn?"
Ich beugte mich nach unten, um ihr brüchiges Stimmchen besser vernehmen zu können.
Sie lächelte scheu und flüsterte stockend: "Sha-a-aaampooo...?"

Man mußte schon blind sein, um das Shampoo zu übersehen. Ihre Aschenbecherglasbausteine schienen nicht nur abschreckend unattraktiv, sondern auch absolut wirkunsglos zu sein.
Wir waren dem Haarwaschmittel derart nahe, daß ich es schon riechen konnte. Nun ja, beinahe, war doch die Umgebungsluft geschwängert vom markanten Eigenduft der alten Frau.

Diesmal konnte ich den Seufzer nicht unterdrücken, bückte mich und präsentierte ihr die drei möglichen Sorten, auf die die Sortimentsauswahl glücklicherweise beschränkt war.
"Shampoo?", fragte ich, laut und deutlich, als stünde ich vor einem geistig zurückgebliebenen Kind. Alle verfügbaren Sorten in den Händen haltend präsentierte ich ihr die zur Verfügung stehenden Alternativen:
"Hier: Gegen Schuppen. Für Normal und leicht fettend. Für coloriert."

Der Fettgehalt ihrer Haare hätten ausgereicht, um das Linoleum der gesamten Aldifiliale in eine glänzende Rutschbahn zu verwandeln, doch wagte ich nicht, ihr die Shampoosorten-Entscheidung vorwegzunehmen. Lange Zeit schwankte sie zwischen "Normal" [Das "leicht fettend" würdigte sie mit fast schon damenhafter Ignoranz.] und dem Antischuppenprodukt. Entscheidungen zu treffen fiel ihr offensichtlich ebenso schwer, wie alleine einzukaufen.

"Nein.", verkündete sie plötzlich, als ich schon überlegte, wie es mir gelingen könnte, mich unauffällig aus ihrem Blickfeld zu stehlen.
"Ich nehme doch das Grüne: für Normal!", entschied sie und griff vorsichtig nach der grünen Shampooflasche in meiner Hand, als wäre sie das Unikat einer Swarovski-Kristallglaskaraffe.

"Prima.". Ich seufzte erneut [Das schien zu einer schlechten Angewohnheit zu werden.] und warf die andern Flaschen achtlos an ihre Plätze zurück.
'Überstanden.', dachte ich, rückte den allmählich schwer werdenden Karton auf meinem Arm zurecht und wollte mich verabschiedend abwenden, als ich ihr Stimmchen erneut vernahm.

"Entschuu-uu-u-u-ldigu-u-ung?", erklang es flüsternd unter meterdicken Glasbausteinen hervor. "Ist das da Duuuschgee-ee-eel?"
Kraftlos deutete sie auf die Badezusätze in 1,5-liter-Flaschen.
"Nein.", antworte ich, die letzten Reste meiner Hilfbereitschaft zusammenraffend.
"Das ist zum Baden. - Duschgel ist das hier.", ergänzte ich und zeigte auf die direkt daneben stehenden Flaschen.
"Ich nehme immer das gelbe.", half ich ihr weiter. "Das ist super für die Haut."
"Jaaa?", höre ich die alte Frau wispern, "Dann ne-ee-e-eehm ich das auch."
Und tapfer, fast stolz und mit ungewohnter Zielsicherheit, ergriff sie die gelbe Flasche und klemmte sie sich unter den Arm.

Lautlos nickte ihr zu und verabschiedete mich. Irgendwann ist auch meine Geduld erschöpft.
"Schönen Tag noch.", wünschte ich ihr - und meinte es ernst.

Die alte Frau sah mich an, blickte über ihre Aschenbechergläser hinweg und lächelte, als hätten wir jetzt ein gemeinsames Geheimnis, als verbände uns die Vorliebe für gelbes Duschgel.
Ich lächelte zurück, konnte mich dessen nicht erwehren, und fand sie - für einen Moment und mit fest verschlossenem Riechorgan - beinahe sympathisch.

Erleichtert zog ich von dannen, mit dem guten Gefühl, soeben meine tägliche Pfadfindertat hinter mich gebracht zu haben, eilte, mit dem bleischweren Karon beladen, auf dem Weg zu Kasse an den Sonderangebots-Gartengeräten vorbei. Dort bemühte sich der maskuline Teil des Wichtigtuerpaares gerade darum, einen fachmännischen Kennerblick aufzusetzen und die dargebotenen Werkzeuge kritisch zu mustern.

Höhnisch schenkte er mir sein "Freaks-Aus-Dem-Zirkus"-Grinsen, als ich ihn passierte, und ich ertappte mich, ernsthaft die Frage nachzudenken, ob der Garantieanspruch auf Spaten und Hacken verfiele, wären sie über und über mit Blut und Hirn [von letzterem allerdings eher weniger] besudelt...

Während ich noch in wohligen Gedanken schwelgte, vernahm ich hinter mir die bekannte, bröckelnde Stimme der Glasbausteinfrau, die sich gerade an Mr Wichtig wandte :
"Entschuu-uu-u-u-ldigu-u-ung?"

Ich lächelte stumm, verbarg mein Grinsen in den mit Salami-Pizzen befüllten Tiefen einer Kühltruhe.
Die alte Frau ließ nicht locker, zog Mr Wichtig an seinem teuren Designerärmel und fragte leise:
"Daaamenbiii-i-i-inden? ... E-e-e-xtra dick?"

Und für einen Moment glaubte ich zu erkennen, wie sie, die kleine, hagere, stinkende Frau, mir über ihre Aschenbecherglasbausteine hinweg schelmisch-vergnügt zuzwinkerte, während sie sich bei Mr Wichtig einhakte und ihn gnadenlos in ihre markante Aura zerrte.

Sein höhnisches Grinsen schmolz in Sekundenschnelle, wich einer ungesunden Gesichtsröte. Er rang nach Worten, doch fand keine, ließ sich willenlos von der alten Frau führen, ziehen, den neonlichtüberfluteten Gang entlang, dorthin, wo die reichliche Auswahl der Damen-Hygiene-Artikel auf ihn wartete.

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rebella jane doe - 25. Sep, 14:54

ich bin baff.

und erstaunt.
und hocherfreut, was sie aus meinem text gezaubert haben, herr morast.

also:
blumen, pralinen und applaus in rauhen mengen! :-)

ganz großes tennis.

merci beaucoup.
*knicks*

morast - 25. Sep, 15:56

Na, dann bin ich ja beruhigt und brauche mir anderthalb Sorgen weniger zu machen, daß Ihenn womöglich unter Umständen, vielleicht irgendetwas an meinem Geschriebsel nicht behagen könnte.

Dann werde ich mal fröhlich und vergnügt durch die Wohnung hüpfen...
zAnta (Gast) - 20. Feb, 19:07

Geschriebene Perfektion

I like it.

Kompliment.

morast - 20. Feb, 23:05

Ist schon ne Weile her, aber:
Danke.

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gar nisch süß
dat is gar nisch süß soll isch de ma was rischtisch...
free erdem (Gast) - 6. Jun, 16:40
Hier wird es fortan weitergehen: http://morast .eu Und...
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morast - 1. Feb, 21:10

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