Die Rettung der hölzernen Dame
Ich wohne im Dachgeschoß, verfüge daher über eine Schräge in meinem Zimmer, die ein nicht minder schräges Fenster einschließt. Inmitten der momentan recht hochsommerlichen Temperaturen lasse ich es mir natürlich nicht nehmen, nicht nur das schräge Fenster so weit wie möglich zu öffnen, sondern auch Tür und Zweitfenster dem maximalen Aufsperrwinkel auszusetzen. Daß ein erfrischender Durchzug daraus resultiert, ist erwartbar und gewissen Grenzen auch beabsichtigt.
Leider [oder: Glücklicherweise] verfügt das erwähnte schräge Fenster über ein enorm breites Fensterbrett, das dazu einlädt, nicht nur die beiden Miniaturtopfpflanzen, die meine geringe Pflegebereitschaft überlebten, darauf zu postieren, sondern auch bedeutsame Nachschlagewerke [Duden, Fremdwörterlexikon, Herkunftswörterbuch, Synonymwörterbuch], allerlei Krimskrams und eine Künstlerpuppe.
Letztere bekam ich einst von meiner Mami [Erstaunlicherweise sage und schreibe ich noch immer am liebsten "Mami", weil ich alles andere - "Mutti", "Mutter", "femininer Elternteil", ... - für zu unpersönlich halte.] geschenkt. Es handelt sich um das standardmäßig bekannte Exemplar aus Holz mit beweglichen Gliedern, die man zu den abenteuerlichsten Posen verrenken kann, um somit ein gutes Modell für eventuelle Abmalversuche zu schaffen.
Meine Puppe stellt mit ihren schätzungsweise 40 Zentimetern Größe kein kleines Exemplar dar und ist zudem auch noch weiblich. Tatsächlich stand auf der Packung, daß sie weiblichen Geschlechts sei [Die männlichen waren wohl ausverkauft, meinte meine Mami.], was sich anhand vorhandener Oberkörperauswölbungen leicht verifizieren läßt.
Ich habe die Puppe noch nicht oft benutzt, verforme nur zuweilen ihre Glieder und erfreue mich des neuen Anblicks. Sie steht auf dem Fensterbrett, direkt vor meinem Schreibtisch und bildet einen schönen Blickfang für mich, der sich stets gern von seiner Arbeit ablenken läßt.
Die Sonne scheint eifrig in mein Zimmer hinein, blendet mich so sehr, daß ich gezwungen bin, ihre Aktivität etwas zu dämpfen, ihre Strahlen mittels eines Vorhangimitats abzumildern. Einen echten Vorhang besitzt das schräge Fenster nicht. Daher muß die Flagge einer Metal-Band dafür herhalten.
Provisorisch befestige ich das obere Ende am Fenster und erfreue mich des Windes, der den Flaggenstoff sanft in Wallung bringt. Doch kaum blicke ich weg, fährt eine Bö durch mein Zimmer, rüttelt wild an der Flagge, die sich jedoch nicht aus ihrer Befestigung löst.
Aber ihre heftigen Bewegungen reißen meine Künstlerpuppe mit sich. Vor wenigen Tagen hatte ich ihre Hände wie während eines großen Schreckens zum Mund geführt, als würde sie immerfort "Oh!" ausrufen.
Und nun höre ich deutlich, wie Fahne die Künstlerpuppe von ihrem Platz zerrt, sehe vor meinem geistigen Auge die hölzerne Dame "Oh!" rufen, wende meinen Kopf und erhasche mit meinen Blicken gerade noch ihren Sockel, der hinter dem Fensterbrett verschwindet, dem aus dem Fenster stürzenden Puppenkörper hinterhereilt.
Ein lautes Klackern folgt. Dann herrscht Stille.
Langsam erhebe ich mich, sehe hinaus - und lächle.
Die hölzerne Puppe hat den Sturz überlebt. Kein Wunder, ist sie doch nicht - wie befürchtet - fünf Stockwerke in die Tiefe gefallen, sondern liegt dank rettender Dachschräge kopfüber, aber unversehrt in der Dachrinne anderthalb Meter unter mir.
Tapfer klettere ich auf meinen Schreibtisch, befreie das Fensterbrett von störendem Krimskrams, luge ein weiteres Mal nach außen. Anderthalb Meter sind mehr, als ich mit Armlänge überrücken kann. Und eigentlich will ich es auch gar nicht, mißfällt mir doch der Gedanke, aus dem Dachgeschoß auf den Innenhof zu stürzen.
Ich sehe mich um. Irgendetwas muß es doch geben, das mir behilflich sein kann, irgendein Gegenstand, mit dessen Unterstützung ich die Puppe aus ihrer mißlichen Lage zu befreien vermag. Denn ich habe nicht vor, sie, die ich durchaus mochte und schließlich einst ein Geschenk war, dort, allen Unwettern ausgesetzt, vermodern zu lassen.
Ich benötige etwas Langes, Flexibles - ein Seil. Doch ich habe kein Seil. Wo ist MacGyver, wenn man ihn braucht?
Ich finde nichts. Nichts - außer einem Ledergürtel, dessen Schnallenende bereits eine annehmbare Schlaufe bildet.
Das muß es ein!
Ich schnappe mir den Gürtel, klettere erneut auf den Schreibtisch, strecke meine Arme aus dem Fenster, manövriere die Ledergürtelschlaufe in die Nähe der Puppe. Langsam, vorsichtig, unnötige Bewegungen vermeidend. Das hölzerne Wesen kann jeden Augenblick aus der rettenden Dachrinne stürzen.
Ich habe eine Schlaufe. Doch wohin damit? Noch immer reckt die Puppe beide Arme nach oben. Das "Oh!" sieht zwar sturzbedingt bereits etwas verzerrt aus, doch gibt meiner Schlaufe die Möglichkeit, sich um einen Arm zu legen.
Ein Geduldsspiel, doch in solchen Dingen bin ich gut. Die Schlaufe findet ihr Ziel, legt sich so, wie ich es mir wünsche. Langsam beginne ich zu ziehen. Die Puppe rührt sich nicht. Irgendwo ist sie verkeilt.
Keine Panik. Ruhig bleiben. Nicht zerren. Sonst dreht sich der Arm nach oben, die Schlaufe rutscht ab und die vielleicht letzte Rettungsmöglichkeit verfliegt.
Ich rüttle ein wenig, sanft, am Gürtel. Die Künstlerpuppe löst sich, gleitet langsam, aber stetig nach oben. Nur nicht zu früh freuen. Nicht nervös werden.
Die Puppe kommt näher. Fast kann ich sie greifen. Gleich. Nur noch wenige Zentimeter trennen meine linke Hand von ihrem hölzernen Leib. Ich ziehe weiter, lache innerlich auf und packe zu.
Ich hab sie!
Vorsichtig klettere ich vom Schreibtisch. Es sähe mir ähnlich, jetzt, nach geglückter Rettungsaktion selbst zu stürzen.
Doch nichts geschieht.
Erleichtert stelle ich die Holzpuppe auf den Boden, lege die Gürtelschlaufe ab, setze mich und lehne mich stolz zurück.
Wer braucht schon MacGyver?
Leider [oder: Glücklicherweise] verfügt das erwähnte schräge Fenster über ein enorm breites Fensterbrett, das dazu einlädt, nicht nur die beiden Miniaturtopfpflanzen, die meine geringe Pflegebereitschaft überlebten, darauf zu postieren, sondern auch bedeutsame Nachschlagewerke [Duden, Fremdwörterlexikon, Herkunftswörterbuch, Synonymwörterbuch], allerlei Krimskrams und eine Künstlerpuppe.
Letztere bekam ich einst von meiner Mami [Erstaunlicherweise sage und schreibe ich noch immer am liebsten "Mami", weil ich alles andere - "Mutti", "Mutter", "femininer Elternteil", ... - für zu unpersönlich halte.] geschenkt. Es handelt sich um das standardmäßig bekannte Exemplar aus Holz mit beweglichen Gliedern, die man zu den abenteuerlichsten Posen verrenken kann, um somit ein gutes Modell für eventuelle Abmalversuche zu schaffen.
Meine Puppe stellt mit ihren schätzungsweise 40 Zentimetern Größe kein kleines Exemplar dar und ist zudem auch noch weiblich. Tatsächlich stand auf der Packung, daß sie weiblichen Geschlechts sei [Die männlichen waren wohl ausverkauft, meinte meine Mami.], was sich anhand vorhandener Oberkörperauswölbungen leicht verifizieren läßt.
Ich habe die Puppe noch nicht oft benutzt, verforme nur zuweilen ihre Glieder und erfreue mich des neuen Anblicks. Sie steht auf dem Fensterbrett, direkt vor meinem Schreibtisch und bildet einen schönen Blickfang für mich, der sich stets gern von seiner Arbeit ablenken läßt.
Die Sonne scheint eifrig in mein Zimmer hinein, blendet mich so sehr, daß ich gezwungen bin, ihre Aktivität etwas zu dämpfen, ihre Strahlen mittels eines Vorhangimitats abzumildern. Einen echten Vorhang besitzt das schräge Fenster nicht. Daher muß die Flagge einer Metal-Band dafür herhalten.
Provisorisch befestige ich das obere Ende am Fenster und erfreue mich des Windes, der den Flaggenstoff sanft in Wallung bringt. Doch kaum blicke ich weg, fährt eine Bö durch mein Zimmer, rüttelt wild an der Flagge, die sich jedoch nicht aus ihrer Befestigung löst.
Aber ihre heftigen Bewegungen reißen meine Künstlerpuppe mit sich. Vor wenigen Tagen hatte ich ihre Hände wie während eines großen Schreckens zum Mund geführt, als würde sie immerfort "Oh!" ausrufen.
Und nun höre ich deutlich, wie Fahne die Künstlerpuppe von ihrem Platz zerrt, sehe vor meinem geistigen Auge die hölzerne Dame "Oh!" rufen, wende meinen Kopf und erhasche mit meinen Blicken gerade noch ihren Sockel, der hinter dem Fensterbrett verschwindet, dem aus dem Fenster stürzenden Puppenkörper hinterhereilt.
Ein lautes Klackern folgt. Dann herrscht Stille.
Langsam erhebe ich mich, sehe hinaus - und lächle.
Die hölzerne Puppe hat den Sturz überlebt. Kein Wunder, ist sie doch nicht - wie befürchtet - fünf Stockwerke in die Tiefe gefallen, sondern liegt dank rettender Dachschräge kopfüber, aber unversehrt in der Dachrinne anderthalb Meter unter mir.
Tapfer klettere ich auf meinen Schreibtisch, befreie das Fensterbrett von störendem Krimskrams, luge ein weiteres Mal nach außen. Anderthalb Meter sind mehr, als ich mit Armlänge überrücken kann. Und eigentlich will ich es auch gar nicht, mißfällt mir doch der Gedanke, aus dem Dachgeschoß auf den Innenhof zu stürzen.
Ich sehe mich um. Irgendetwas muß es doch geben, das mir behilflich sein kann, irgendein Gegenstand, mit dessen Unterstützung ich die Puppe aus ihrer mißlichen Lage zu befreien vermag. Denn ich habe nicht vor, sie, die ich durchaus mochte und schließlich einst ein Geschenk war, dort, allen Unwettern ausgesetzt, vermodern zu lassen.
Ich benötige etwas Langes, Flexibles - ein Seil. Doch ich habe kein Seil. Wo ist MacGyver, wenn man ihn braucht?
Ich finde nichts. Nichts - außer einem Ledergürtel, dessen Schnallenende bereits eine annehmbare Schlaufe bildet.
Das muß es ein!
Ich schnappe mir den Gürtel, klettere erneut auf den Schreibtisch, strecke meine Arme aus dem Fenster, manövriere die Ledergürtelschlaufe in die Nähe der Puppe. Langsam, vorsichtig, unnötige Bewegungen vermeidend. Das hölzerne Wesen kann jeden Augenblick aus der rettenden Dachrinne stürzen.
Ich habe eine Schlaufe. Doch wohin damit? Noch immer reckt die Puppe beide Arme nach oben. Das "Oh!" sieht zwar sturzbedingt bereits etwas verzerrt aus, doch gibt meiner Schlaufe die Möglichkeit, sich um einen Arm zu legen.
Ein Geduldsspiel, doch in solchen Dingen bin ich gut. Die Schlaufe findet ihr Ziel, legt sich so, wie ich es mir wünsche. Langsam beginne ich zu ziehen. Die Puppe rührt sich nicht. Irgendwo ist sie verkeilt.
Keine Panik. Ruhig bleiben. Nicht zerren. Sonst dreht sich der Arm nach oben, die Schlaufe rutscht ab und die vielleicht letzte Rettungsmöglichkeit verfliegt.
Ich rüttle ein wenig, sanft, am Gürtel. Die Künstlerpuppe löst sich, gleitet langsam, aber stetig nach oben. Nur nicht zu früh freuen. Nicht nervös werden.
Die Puppe kommt näher. Fast kann ich sie greifen. Gleich. Nur noch wenige Zentimeter trennen meine linke Hand von ihrem hölzernen Leib. Ich ziehe weiter, lache innerlich auf und packe zu.
Ich hab sie!
Vorsichtig klettere ich vom Schreibtisch. Es sähe mir ähnlich, jetzt, nach geglückter Rettungsaktion selbst zu stürzen.
Doch nichts geschieht.
Erleichtert stelle ich die Holzpuppe auf den Boden, lege die Gürtelschlaufe ab, setze mich und lehne mich stolz zurück.
Wer braucht schon MacGyver?
morast - 1. Sep, 15:20 - Rubrik: Wortwelten
4 Kommentare - Kommentar verfassen - 0 Trackbacks
zorachen - 1. Sep, 15:30
XD
*g* dann bleibt dir ja der Puppensarg erspart ^^ aber lustig geschrieben...find ich gut XD
morast - 1. Sep, 15:42
Was hätte ich auch in den Sarg legen sollen...`?
zorachen - 1. Sep, 17:52
na deinen Hölzernen Freund, bzw. Freundin...wenn sie nicht an der Dachrinne hängengeblieben wäre, sondern in die Tiefe gestürzt ^^
morast - 1. Sep, 18:12
Die Reste der Hölzernen Dame sozusagen. Stimmt. Wäre ein kleiner Sarg geworden, gefüllt mit Hobelspanimitaten.
Außen Holz, innen Holz.
Zum Glück blieb mir [und ihr] das erspart.
Vielleicht sollte ich ihr jetzt eine ausdrucksvolle Geste der Freude auf den Leib legen...
Außen Holz, innen Holz.
Zum Glück blieb mir [und ihr] das erspart.
Vielleicht sollte ich ihr jetzt eine ausdrucksvolle Geste der Freude auf den Leib legen...
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