Dienstag, 8. Februar 2005

arztbesuch

ich hätte mir ein buch mitnehmen sollen, eines mit vielen komplizierten zeilen, eines, das meinen geist gefangennehmen würde und von der umgebung ablenkte, eines, das meine eigenen gedanken mit farbenprächtigen buntwelten übermalte. ich hatte keines. ich hatte auch keinen stift, kein leeres blatt papier, das mir die worte aus dem schädel saugte, lustige stichmännchen und kulleraugenwesen entstehen ließt, das geistreiche bemerkungen forderte und danach lechzte, mit meinem kopfkino befüllt zu werden, das mich mit aufreizendem weiß begrüßte und sich mit vollend unterwarf.

ich hatte nur mich, meine augen, meinen kopf. zusammengesackt in meinem mantel, den auszuziehen ich verweigerte, saß ich auf dem stuhl im wartezimmer. würde ich den mantel ablegen, gäbe ich mir selbst wohl zu, daß es noch dauern konnte. das wollte ich nicht. selbstbetrug war schon immer eine meiner herausragenderen fähigkeiten.

ich entdeckte keine zeitschriften, nur unzählige broschüren, die allesamt für rentner oder herzleidende gedruckt zu sein schienen. überall jedoch prangerten mir möglichkeiten zur suchtthearpie, suchtprävention und angehörigenhilfe entgegen, als wollten sie mich verhöhnen. zu spät, dachte ich traurig, viel zu spät.

die plätze neben mir waren frei, blieben frei. es gab nicht viele unbelegte sitzplätze, doch die zu meiner linken und rechten blieben unbenutzt. lag es an mir? sollte mir das zu denken geben? sah ich gar krank aus?

ich wollte nicht krank aussehen, war es nicht. ich war hergekommen, um eine lüge vorzuspielen, die vorzuspielen ich nicht willig war. ich war nie ein guter schauspieler gewesen. und erst recht kein lügner.

in wartezimmern erfreute ich mich gerne der tatsache, ein geduldiger mensch sein zu können. ich konnte warten, konnte mich mit meinen gedanken beschäftigen, mich unterhalten, ohne nur mit einer wimper zu zucken, ohne sinnlos mit den beinen zu wackeln oder mit den händen ständig im gesicht oder den haaren herumzufriemeln. ich beobachtete, was um mich herum passierte, mit wachen augen, mit regen gedanken, mit dem leisen lächeln, das allem galt, was ich für besonderns interessant oder amüsant hielt.

irgendwo in der ferne des hintergrunds dudelte eine entspannungsmelodie, eintönig, ermüdend. immer die gleiche sequenz mit geringfügigen änderungen, unterlegt durch alberne geräscuhe unzähliger wald-, wiesen- und teichtiere. ich lächelte, wenn einer der tierlaute besonders blechern klang oder kurz nacheinander ein specht und ein frosch zu hören waren, deren begegnung ich mit als komisch vorstellte. nach einer weile pausierte die musik, um später wieder einzusetzen - das gleiche lied. pause. lied. pause. lied. immerzu.

neben mich setzten sich zwei vertreter. ein mann, geschniegelt, doch auf ersten blick unsympathisch, und eine frau, die nett aussah und ein paar jahre jünger als ihre begleitung war. die beiden hatten einen termin. der mann versuchte, leise zu reden, doch saß direkt neben mir. sein füstern war eher ein zu worten geformtes dröhnen seiner stimme. fremdwörter flossen aus seinem mund, doch klangen sie eher aufgesetzt als intelligent. die frau hätte lieber ihren mund halten sollen. ihre stimme degradierte sie.

das gespräch drehte sich um dinge, die ich nicht verstand. doch ich verstand, daß der mann meckerte, über andere herzog, altkluge, sinnbefreite bemerkungen machte, sich zuweilen wiederholte und dazu neigte, so zu tun, als gebe er geheimes wissen weiter und wäre allem überlegen. die junge frau dagegen redete weniger, doch wenn sie etwas sagte, gab sie dem mann recht, wiederholte seine worte und schmückte sie ein wenig aus. ständig schaute sie auf die uhr oder zückte ihren terminkalender. immer wieder. das machte mich nervös, ich sah weg.

in wartezimmern ist es grundsätzlich falsch, eine uhr mit sich zu führen. was nützt es mir, wenn ich weiß, daß ich bereits eine stunde wartete? nichts. es führt nur zu unmut. ich dagegen wollte mutig sein. im kopf sprach ich noch einmal die sätze durch, die ich vor der ärztin aufführen wollte. die geflüsterte stimme meines nachbarn störte mich immer wieder, unterbrach mich. ich seufzte, wuselte kurz in meinem haaren herum, um mein ungesundes aussehen zu verstärken, überprüfte geistesabwesend die schnallen an meinen stiefeln.

ungeduldig warteten die beiden unsympathischen vertreter, flüsterten einander unfreundliche bemerkungen über die arztpraxis zu, sobald die schwester den raum verließ. ungeduldig war auch ein mit gehilfen bestückter mann, entschied sich plötzlich dazu, das warten satt zu haben und gehen zu wollen. seine frau widersprach ihm kraftlos "das kannst du doch nicht machen...", wandt sich hilfesuchend an die beschäftigte schwester. "natürlich kann ich das.", motzte der genervte aufbruchswillige, zog seine jacke an und ein mißmutiges gesicht. diesen satz wiederholte er, immer wieder ein paar flüche einfügend, mehrmals. die schwester eilte hinzu, verteilte besänftigende worte und vertröstete den warteunwilligen: er sei der nächste. grummelnd nahm dieser wieder platz.

neben mir schaute der vertreter auf seine uhr. eine dreiviertelstunde sei er schon hier. 11 uhr sei der termin gewesen. wozu überhaupt termine vergeben würden, fragte er seine begleiterin, könnte man doch darauf verzichten, wenn man nicht imstande sei, sie einzuhalten. solle doch jeder kommen, wann er lust habe. die junge frau pflichtete ihm bei: das sei tatsächlich effizienter. beide lachten kurz und tonlos. ein blick in den terminkalender: der nächste termin sei bei herrn sommer. der sei wichtiger als die ärztin hier.

die beiden redeten weiter, redeten von ihren geschäften, von tagungen und vorträgen. lauter worte, die eine aufgesetzte wichtigkeit beinhalteten, doch sie nicht glaubhaft vermittelten. firmennamen fielen, abkürzungen wurden benutzt, praxen erwähnt, gemeinsame vergangenheiten herausgekramt, versammlungen, tagungen, blablabla. bestärkt durch den unut des mannes, beschloß die frau, noch zehn minuten warten zu wollen. mehr nicht.

ich hielt meinen mund, sagte nicht, daß ich bereits mindestens eine halbe stunde länger warten würde, sagte nicht, daß menschen, die ärzte besuchten, in den meisten fällen auch gründe dafür hatten, sagte nicht, daß der vorhin eingelieferte notfall vermutlich größere dringlichkeit hatte als irgendein vertretergespräch, sagte nicht, daß mir die permanente ungeduld mißfiel.

nach zwei minuten stand die vertreterin auf und suchte die schwester, berichtete von ihrem vorhaben, wurde vertröstet: sie sei die nächste. verwundert setzte sie sich wieder, wiederholte die worte der schwester. der mann war sprachlos. ich auch, hieß das doch, daß ich nicht nur die patienten, die bereits vor mir eingetrudelt waren, abzuwarten hatte, sondern auch das beratergespräch.

ich seufzte leise, versuchte vergeblich in meinem kopf die zurechtgelegten worte zu finden. ich wollte nicht lügen, beschloß, die wahrheit zu sagen, genau das, was mir in jenen augenblicken auf die zunge springen würde.
das vertretergespräch war kurz. danach folgten noch ein paar patienten. die anderen wartenden im raum verharrten schweigend. nur einer von ihnen hielt eine zeitschrift in der hand, blätterte sie oihne interesse durch. eine ältere dame wischte sich immer wieder mit einem papiertaschentuch im gesicht herum, nase, augen, lippen, pause, wieder von vorn. das telefon klingelte immer wieder. im hintergrund erklang die eintönige meldoie. beschäftigt wirbelten die schwestern umher, doch sie wirkten ruhig. das gefiel mir.
während eines telefonates gab mir eine schwester mit einem kopfnicken zu verstehen, daß ich nun an der reihe sei.

ich hatte die ärztin anders in erinnerung. unsympathischer. ich faßte mir ein herz und schilderte meine sorgen. das schauspiel ließ ich weg. die lügen auch. die ärztin zögerte, unterhielt sich mit mir. freundschaftlich. interessiert. ich gab zu verstehen, daß mir diese situation auch nicht gefiele, doch bemerkte, daß sie sich schon durchgerungen hatte, das rettende attest auszufüllen. ich redete weiter, tat so, als hätte ich nichts bemerkt. doch sie schrieb schon, lächelte nett, wünschte mir alles gute, gab mir die hand.

ich hatte es überstanden. ohne lüge.

kaum hatte ich die praxistür hinter mir geschlossen, drängte es mich hinfort. ich konnte gar nicht schnell genug rennen, wollte weg. noch einmal hatte ich einen ausweg gefunden.

doch konnte ich nicht ewig fliehen.
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